Kill your Darlings
Der Versuch eines Beitrags zum Reset der SPD, ohne Häme
Es hat exakt einen
Vorteil, am Ende zu sein: Man muss auf nichts Rücksicht nehmen, was ist. Man
kann alles über Bord werfen und sich neu erfinden, ohne etwas von Wert zu
gefährden. So beginnt positives Denken für die SPD.
Wenn Parteien sich
fragen müssen, wie sie den tiefgreifenden Umbruch der implodierten Wählerbindung
bewältigen, bieten jene Unternehmen Lernstoff, die im digitalen Wandel bestehen
müssen. Die vielen, die dabei gescheitert sind, wie die wenigen erfolgreichen
Überlebenskünstler. Das Erfolgsrezept: Alles in Frage stellen und den Wandel
konsequent durchziehen, eine klare Change-Story entwickeln und erzählen. Das
Misserfolgsrezept: kleinteilige Reparaturversuche, die an der Oberfläche stehen
bleiben.
Wie kann sich die SPD neu
aufstellen? Sie muss sich freimachen von dem, was ihr am liebsten ist: von ihrer
historisierenden Nabelschau – und vom Schatten der grünen Agenda. Dann fehlt
nur noch der Mut zu einer mehrheitsfähigen zeitgemäßen Programmatik.
Die Gefechte rund um die Vorsitzendenwahl, die Groko-Frage und
die programmatischen Beschlüsse des Parteitags bestimmen die Bühne der Tagespolitik.
Aber tagespolitische Antworten können das Existenzproblem der Partei nicht
lösen, wenn europäische Sozialdemokraten praktisch überall in Existenznöten
stecken. Da die kaum alle synchron in tagespolitischer Programmatik und
personalpolitischer Attraktivität dermaßen danebengegriffen haben, dass sie in Richtung
einstelliger Prozentwerte taumeln, lohnt ein Blick auf das grundsätzliche
Problem. Es ist höchste Zeit, die Krise sozialdemokratischer Identitätsangebote
an den Wurzeln der Parteienfamilie zu hinterfragen.
Arbeiterpartei – was
war das noch mal?
Kürzlich wurde heftig diskutiert, ob die AfD eine
bürgerliche Partei ist. Eine schöne Einladung, sich zu fragen, was eigentlich
eine nicht-bürgerliche Partei ist. Denn da winken sozialdemokratische Wurzeln.
Der Gegensatz von Bürgerlichen und anderen entstammt dem 19.
Jahrhundert, einer Zeit des Dreiklassenstaates: Der Adel verlor seine
wirtschaftliche und später politische Vorrangstellung an Kaufleute,
Industrielle und Beamtenschaft, also eine bürgerliche Schicht mit überdurchschnittlicher
Bildung und materieller Ausstattung. Der „dritte Stand“ des 19. Jahrhunderts
waren Millionen von schwer arbeitenden Familien in permanenter wirtschaftlicher
Not und mit schlechtem Zugang zu Bildung und politischem Einfluss. Nicht
bürgerlich waren also einerseits der Adel und auf der anderen Seite der
Gesellschaft jene, die nur durch die Organisation einer solidarischen,
(arbeits-)kampfbereiten Gemeinschaft materielle Mindeststandards erstreiten
konnten.
Man braucht schon eine größere Portion Vertrautheit mit
dieser Vorgeschichte, um Seele wie Oberfläche der SPD zu verstehen. Wenn ein
neugieriger, aufgeweckter junger Mensch ohne dieses Vorwissen einen
SPD-Parteitag besuchen würde, könnte er sich eigentlich nur wundern: Warum duzen
die sich alle? Das aber mit der feierlich-förmlichen Anrede „Genossinnen und
Genossen“? Warum werden zu Beginn anwesende Gewerkschaftsfunktionäre sehr
besonders herzlich begrüßt? Warum beschreibt das Parteiprogramm das Ziel aller
Ziele einer der verlässlichsten Staatsparteien der Bundesrepublik im revolutionären
Sound als „demokratischen Sozialismus“? Und warum sangen alle (bis vor kurzem) am
Ende mit großer Selbstergriffenheit ein 100 Jahre altes Wanderlied?
Man könnte nüchtern professionell analysieren:
Beneidenswert, eine Organisation, deren innerer Zusammenhalt auf eine so alte,
hoch emotionale Vorgeschichte zurückgeht. Rituale sind enorm wertvoll für Gemeinschaften.
Ebenso professionell wäre aber die Bewertung mit mit den
Augen des Wahlvolks: Wie will eine Organisation hier freudige Zustimmung und
Identifikation mit Köpfen und Inhalten auslösen, wenn sie in ihren tief verankerten
Ritualen und Prinzipien in einer Definition von Gemeinschaft steckt, die 150
Jahre alt ist? Oder gar neue, aktive Mitstreiter gewinnen?
Reflexe aus der Vergangenheit
Das Problem: Hier bewegen wir uns nur an der Oberfläche. Die
zu verändern wäre schon ein harter Kampf, aber es würde wenig ändern. Die
eigentliche Herausforderung liegt im Inhalt: Auch die tief verdrahteten Reflexe
der SPD stammen aus der Vergangenheit. Die SPD agiert in der Gegenwart intuitiv
mit einem Denken in vergangenen Kategorien. Nicht etwa, weil sie dumm wäre.
Sondern weil die Identität von früher ihr wichtigster Klebstoff ist. Die größte
Stärke der SPD ist ihre Vergangenheit.
Aus dem anfänglichen revolutionären Konsens gegen Kaiser und
Kapital brach am Ende des ersten Weltkriegs das große Schisma der
Arbeiterbewegung auf, die Spaltung von SPD und KPD. Bis ins Ende des 20.
Jahrhunderts wusste sich noch jeder Jungsozialist einzuordnen, auf welcher
Seite der Barrikade er 1919 gestanden hätte, und die Antworten waren durchaus
verschiedene. Die Generation der Schröders, Scholz und Steinmeiers hat in ihrer
Juso-Zeit noch die Theoriegefechte um staatsmonopolistischen Kapitalismus oder
um die Frauenfrage als Nebenwiderspruch des Kapitalismus geführt. Die
Marx-Engels-Werke Band 23 bis 25 gehörten ebenso zur „wissenschaftlichen“
Grundausbildung eines ambitionierten Jung-Sozis wie eine solidarische Gewerkschaftsmitgliedschaft,
auch für angehende Akademiker. Die stolze Geschichte der Sozialdemokratie lebt
von der Abgrenzung zwischen bürgerlichen Mächten und der Arbeiterschaft.
Der Orientierungspunkt der Kernzielgruppe blieb selbst dann
„der Arbeiter“, als sich die Unterscheidung von Arbeitern und Angestellten auflöste.
Es gehörte zum guten Ton, die seinerzeit einflussreiche „Deutsche Angestelltengewerkschaft“
DAG zu verachten, weil sie den proletarischen Alleinvertretungsanspruch der
DGB-Gewerkschaften missachtete.
Das verbindende Grundverständnis blieb: Abhängig
Beschäftigte verdienen generell den Schutz des sozialdemokratischen Staates. Dabei
wurde enorm viel erreicht: In Großunternehmen entscheiden heute
Gewerkschaftsfunktionäre fast gleichgewichtet mit den Vertretern der
Eigentümer. Zugang zu Bildung wurde für Millionen der Schlüssel zu einem Leben,
das ihren Eltern noch verwehrt war. Die Institutionen des Sozialstaats gediehen
in einem früher nicht für möglich gehaltenen Ausmaß, heute stellt das Budget
des Bundessozialministers alle anderen weit in den Schatten.
Der Erfolg der Gewerkschaften führte dazu, dass
Tarifbeschäftigte in großen Teilen des Landes heute zu den Besserverdienenden
gehören, mit solider Alterssicherung und vernünftigen Bildungschancen für ihre
Kinder. Viele Selbstständige oder Nebenerwerbs-Mütter mit „bürgerlichem“ Hintergrund
leben heute oft in einer sozial unsicheren Position als abhängig beschäftigte
Fachkräfte in Industrie, Handel, Handwerk oder gar im öffentlichen Dienst.
Menschen, die wirklich in Armut leben oder von ihr bedroht
sind, haben oft jede Verbindung zu Sozialdemokratie und Gewerkschaften
verloren. Sie verstehen sich kaum mehr als „Arbeiter“ oder Arbeitnehmerschaft.
Armut ist gesellschaftlich entkoppelt von der alten Kampflinie zwischen
Arbeiterschaft und „den Bürgerlichen“.
Grünes Agenda
Setting, roter Geleitschutz
Ergebnis der seelischen Verankerung in einer vergangenen
Gesellschaftsordnung ist, dass die politische Agenda seit den 1980ern von
anderen bestimmt wird: Umwelt-, Natur- und Klimaschutz, Frauen- und
Schwulen-Emanzipation, bei den großen Erneuerungsthemen der letzten 40 Jahre strahlten
die Grünen als Treiber und die SPD gab gefühlt nur Geleitschutz. Sie wirkte wie
ein Echo ihrer tradierten Werte „von früher“, nicht als moderner Treiber aktueller
Themen. Auch wenn die SPD wichtige gesellschaftliche Modernisierungsprojekte
erst ermöglich hat – die Lorbeeren des „Wer hat’s erfunden?“ gingen stets an
andere.
Auch die Neujustierung von Sozialstaat und
Wettbewerbsfähigkeit in der Schröder-Fischer-Ära wird wegen seiner messbaren
Erfolge nur außerhalb der SPD gepriesen; in ihr wird sie bis heute scharf
abgelehnt. Schröder, Clement, Riester und Steinmeier haben unter dem Druck von
fünf Millionen Arbeitslosen gewagt, sozialdemokratische Reflexe - „Empfänger
von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld verdienen Unterstützung, stets und immer- zu
ignorieren. Sie haben diese Leistungen stattdessen befristet und an neue
Bedingungen geknüpft.
In den Augen der Traditions-SPD haben sie schlicht auf der
gegnerischen, der bürgerlichen Seite der Barrikade gefochten. Unverzeihlich, unanständig!
Das macht ein „aufrechter Sozialdemokrat“ nicht. Die SPD hat sich selbst der
Erfinder-Lorbeeren beraubt. Dabei darf bezweifelt werden, ob man sie ihr
öffentlich zugestanden hätte; die gefühlte Distanz von der traditionsschwangeren
Arbeiterpartei zum Modernisierer nach dem Prinzip von Leistung und
Gegenleistung bliebe für viele Wahlberechtigte schwer nachvollziehbar.
Beim großen politischen Emotions-Turbo, der
Migrationspolitik, ist es nicht anders: Die Merkel-CDU wird von rechts für ihre
pragmatisch-humane Linie geprügelt und gehasst. Die engagierten Verteidiger des
Asylrechts sehen ihren parlamentarischen Arm bei den Grünen. Und die Partei mit
der längsten Tradition im internationalistischen Denken und in der Abwehr von
Rechtsextremismus läuft am Spielfeldrand ein bisschen mit, ohne irgendwo
wirklich zu punkten. Die Agenda bestimmen die ganz Rechten, die Humanität hat
konservative, grüne und auch traditionell gewerkschaftliche Gesichter, letztere
wirken aber immer ein bisschen aus der Zeit gefallen und erreichen große Teile
der Öffentlichkeit überhaupt nicht mehr.
In kleinstädtischen Gemeinden, im Osten, in urbanen Leitmilieus
wie am prekären Stadtrand kennt niemand die Pro-Integrations-Kultur aus der
„Mach-mein-Kumpel-nicht-an“-Ära. Damals, in der 1980ern, haben es
Gewerkschaften verstanden, im Kern der Industriebelegschaften jeden Ansatz von
fremdenfeindlichen Reflexen zu kontern. Heute wirken diese Akteure, wo sie
überhaupt noch sichtbar sind, wie Prediger einer alten Religion, die zum
Gottesdienst läuten, einfach weil man das schon immer so gemacht hat. Sie
erreichen keine neuen und immer weniger alte Gläubige. Währenddessen klopft die
AfD in genau diesen Kreisen ihre menschenfeindlichen Sprüche und findet ihre Resonanz.
Fortschritt war gestern
– zu Tode gesiegt?
Das Zusammenwachsen Europas, Vollbeschäftigung in weiten Teilen
des Landes, öffentliche Finanzen im Gleichgewicht, Preisstabilität, diverse
Zusatzleistungen in der Rente, eines der besten Gesundheitssysteme, Deutschland
als Leuchtturm der westlichen Wertegemeinschaft, der globalen Klimapolitik und
der multilateralen Weltordnung – das Land steht besser da denn je seit der
Einheit. Alles Ziele der SPD, alles politisch gestützt und getrieben von
Sozialdemokraten. Und kein Lichtstrahl des Glanzes dieser Erfolge will auf der Partei
landen.
Und grundsätzlich eine neue Herausforderung an die Politik –
für alle Parteien: Man hat den Eindruck, das höchste Ziel aller Politikangebote
ist die Verteidigung des Erreichten. Bedroht von Außenwirtschaftskriegen,
Demographie, vielgestaltigen militärischen Konflikten, Digitalisierung und
Überwachung, Migration und Klimawandel erscheint das Beste, was uns passieren
kann, der Erhalt von Lebensstandard samt Alterssicherung, Umwelt und
Zusammenhalt.
Was auf den ersten Blick vernünftig und bescheiden-realistisch
erscheint, bedeutet für die SPD einen historischen Bruch: Früher repräsentierte
die führende Partei der „fortschrittlichen Kräfte“ ein großes Versprechen vom
sozialen Aufstieg ihrer Klientel, von wachsendem Wohlstand bei schrumpfender
Arbeitszeit, von stetig wachsenden technologischen Möglichkeiten und vom
fortschreitenden Zusammenwachsen der Gemeinschaft der Völker. Sozialdemokratie
bezog einen wichtigen Teil ihrer Attraktivität aus den faszinierenden
Versprechen verschiedener Dimensionen von Fortschritt.
Ist der Niedergang der Sozialdemokraten, wie oft zu lesen
ist, Ergebnis ihres eigenen Erfolges? Sind sie für die Gesellschaft von heute
überflüssig, wo doch andere, wie gezeigt, die politische Agenda schreiben? Wozu
braucht es Sozialdemokratie, wenn die Staatspartei CDU den Zusammenhalt
organisiert, die Grünen fürs Grüne und Emanzipatorische sorgen und die Liberalen
dann und wann Bürokratie und Regulierung eingrenzen?
Eine Marktlücke für
die SPD
Dann besinnen wir uns mal des ersten Satzes und versuchen, die
SPD neu zu erfinden - für eine passende Marktlücke. Die Frage ist also nicht,
was würde ohne die (bestehende) SPD fehlen, sondern was fehlt Deutschland, was
von einer neu gedachten SPD gefüllt werden könnte. Oder ambitionierter gefragt:
Welches politische Angebot der aufgeklärten, emanzipatorischen Vernunft hätte
eine Chance auf Mehrheiten?
Die Marktlücke wird erkennbar, wenn wir die blinden Flecken
der anderen Parteien suchen, also die Positionen, wo sie historisch oder
strukturell daran gehindert sind, vernünftige, zeitgemäße und mehrheitsfähige
Positionen zu beziehen. Die Union hat es in der Ära Merkel bemerkenswert geschafft,
solche Selbstblockaden abzuräumen, wenn auch auf Kosten des Vorwurfs der
Prinzipienlosigkeit. Einzig der Druck, das C im Namen zu rechtfertigen, hindert
sie noch heute, Positionen gegen klerikale Eliten zu beziehen, etwa bei der
schrägen Debatte um den §219. Die FDP glaubt immer wieder, das Thema
Steuersenkungen anschieben zu müssen. Auch wenn in der eigenen Klientel sicher
ein gewisser Druck in die Richtung existiert – öffentlich gelingt der Partei damit
seit Jahren keine Empörungswelle.
Für die SPD spannender sind die Grünen. Denn sie sind es,
die seit Jahrzehnten parallele Ziele verfolgen, denen die Öffentlichkeit aber viel
eher authentische Motive zuschreibt. Sie, die natürlichen Koalitionspartner der
zurückliegenden Jahrzehnte, dominieren heute die intellektuell-urbanen Milieus,
haben die jüngeren Teile der organisierten Zivilgesellschaft durchdrungen und
haben eine bestens ausgebildete, wirtschaftlich leistungsfähige liberale
Bürgerschaft an sich gebunden. Wenn ein politisches Lager das Gute in dieser
Welt repräsentiert, dann die Grünen. Sie sind damit so solide etabliert, dass
sie zum Traum-Koalitionspartner der Union aufgestiegen sind.
Interessant für unsere Denksportaufgabe ist, wen die Grünen
nicht erreichen. Und wo sie gefesselt sind, Abhängigkeiten und Tabus nicht
abstreifen können.
Distanzierende
Sprache
Beginnen wir auch hier bei der Oberfläche: Allein die in den
letzten Jahren immer weiter abgeschliffene Sprache im grünen Kulturraum nimmt
so viel Rücksicht auf die überall lauernden Vorwürfe des normativen
Regelbruchs, dass sie für einen Großteil des politischen Publikums jenseits der
eigenen Blase vor allem eines signalisiert: Distanz. Die sprechen nicht wie ich,
warum soll ich ihnen trauen?
Je weniger Menschen die Kunst beherrschen, einen Artikel
oder eine Rede so zu formulieren, dass keine Sensibilität von verschiedensten
Geschlechtern, Ethnien, religiösen Verortungen verletzt sein könnte, desto mehr
fühlt man sich an andere Zeiten erinnert, als Eliten ihre soziale Überlegenheit
durch einen eigenen Sprachstil betonten. Vollständig stromlinienförmige PC-Sprache
wirkt manchmal erhellend, oft erzieherisch, noch öfter elitär.
Nahbare und unverkünstelte Sprache wäre eine einfache und
wirksame Chance für die Sozialdemokratie. Man erinnere sich an die Kraft der
Müntefering-Sätze, was für ein Unterschied zum heutigen Verschwurbelungsniveau.
Doch was macht die Gegenwarts-SPD: Unterwirft sich ohne eigene Linie der grünen
Sprachleitkultur mit all ihren schematisch eingeforderten Anforderungen der
angeschlossenen zivilgesellschaftlichen Anspruchsgruppen.
Der Appell an nahbare Sprache ist nicht zu verwechseln mit
ideologisch aufgeladener Ablehnung von Gender-sensibler Sprache. Wer aber
Sensibilität gleichsetzt mit der Kultur des Minenspürhundes, der in jeder verbale
Äußerung im Politikbetrieb Verletzungen eines immer dichter geflochtenen
Normenwerks aufspürt, der produziert das Schlimmste, was repräsentativer
Demokratie passieren kann: einen kulturellen Graben zwischen Wählern und
Gewählten.
Die Polarisierungs-Turbos:
Klima und Migration
Aber auch hier ist die symbolische Oberfläche nur Indikator
für die Inhalte, bei denen längst die anderen die Musik bestimmen. Beispiel
Klimapolitik: Sie hat sich in den 90ern aus allen Umweltthemen emporgeschwungen
zur Mutter aller globalen Herausforderungen. Naturschutz, industriell
verursachte Umweltschäden, Müll, alles wird seitdem überschattet von der
Bekämpfung des Treibhauseffektes. Daran gibt es faktisch absolut nichts zu
kritisieren, denn einerseits weisen alle messbaren Indikatoren auf ein wirklich
bedrohliches Szenario. Und andererseits ist es schlicht menschlich, nicht alle
relevanten Themen zugleich im öffentlichen Bewusstsein halten zu können.
Es ist auch nichts falsch daran, dass Deutschland seit den 1990ern
eine gewisse Vorreiterrolle sucht, etwa beim Ausbau der Erneuerbaren. Denn wer
wenn nicht die größte Volkswirtschaft im größten Wirtschaftsraum der Welt hat
die Möglichkeiten und die Verantwortung für diese Rolle?
Angreifbar ist an der klimapolitischen grünen Leitkultur
vielmehr, wie schon beim Thema Sprache, ihr Fetisch fürs Symbolische. Während sich die grünen Teile der Zivilgesellschaft
unglaubliche Gedanken machen, mit welchem Verkehrsmittel man am korrektesten zu
welchem Kongress anreist, wäre es die Rolle einer aufrechten SPD, entschlossen
für den schnellst wirksamen, effizientesten und sozialverträglichsten Weg zum klimagerechten
Umbau unserer Wirtschaft zu streiten.
Greifbar würde eine zupackend sozialdemokratische Klima-Struktur-Politik
überall, wo der effizienteste Weg zur Emissionsreduktion mit simplifizierenden
grünen Glaubenssätzen kollidiert. Wenn technologische Übergangslösungen
schnelle Emissionssenkungen erlauben, sind sie selbst dann hochgradig wertvoll,
wenn sie nicht den grünen Idealen einer Endzeitvision entsprechen. Wenn die
Politik einen Markt für klimaneutrale Treibstoffe aus grünem Wasserstoff anschieben
würde und damit Kompetenz für effiziente Verbrennungsmotoren werthaltig bliebe,
bedeutete das für viele Grüne einen Bruch mit dem symbolbeladenen Verbot von
Verbrennern. Für eine selbstbewusste Sozialdemokratie hingegen wäre es eine doppelt,
wirtschaftlich wie ökologisch, vernünftige Ergänzung zum Batterieantrieb. Oder
der Netz- und Wind-Ausbau: Während die Grünen in der Falle zwischen
Ausbauzielen und Bürgerbeteiligungstradition feststecken, wäre eine
entschlossene sozialdemokratische Politik die Höhergewichtung von Allgemeinwohl
vor Einzelinteressen. Übrigens auch in klarer Abgrenzung zur Union.
Die Migrationsdebatte
jenseits urbaner Vordenker
Besonders herausfordernd ist die Entwicklung einer
sozialdemokratischen Unterscheidbarkeit zur grünen Haltung in der
Migrationspolitik. Die grüne Leitkultur hält die Reihen geschlossen und schafft
kein Zuhören gegenüber den Menschen, die im Umgang mit Zuwanderern unerfahren oder
ablehnend sind und denen nicht wohl ist bei dem Gedanken, dass ihre kleinstädtische
Nachbarschaft von mehr „Fremden“ bewohnt werden könnte, als man dort je erlebt
hat. In der Migrationsfrage hat sich ein Konsens auf der „linken“ oder auch
„humanen“ Seite der Gesellschaft festgesetzt, jeden geäußerten oder auch nur gefühlten
Vorbehalt gegen „fremde“ Zuzügler mit dem harten Rassismus-Vorwurf zu kontern. Allein
das Formulieren dieses Satzes dürfte bereits tabuisiert sein.
Im Ergebnis gibt es kein demokratisches Angebot für jene, denen
die Veränderungsgeschwindigkeit der Gesellschaft zu hoch ist. So mancher kämpft
länger mit der Schwulenehe und dem Aufbrechen familiärer Rollen als die urbanen
Eliten. Das kann man aus guten Gründen bedauern. Aber wenn die organisierte
Politik mit nichts als harter Ablehnung auf Veränderungsskeptiker reagiert,
bewegt sie nichts ins Positive. Sobald hingegen Friedrichshainer und
Schwabinger Urbevölkerung ihre Veränderungsablehnung gegen besserverdienende
Zuzügler äußern, kämpft man gern und leidenschaftlich gemeinsam gegen
Gentrifizierung.
Es ist unbestritten notwendig, eine klare Trennlinie zum
Rassismus zu definieren und die Kräfte hinter dieser Linie eindeutig zu
isolieren. Menschen wegen ihrer Hautfarbe abzulehnen, repräsentiert eine
ethisch andere Gefahr als Ausgrenzungsversuche von wirtschaftlich Stärkeren. Aber
es könnte in beide Fällen eine sozialdemokratische Haltung sein, Veränderungsprozesse
gezielt zu begleiten, in der Migrationsfrage wie seinerzeit in der Kohlepolitik
und jetzt in der Klimapolitik und in der Digitalisierung des Arbeitslebens.
Wenn die Partei die Stimme der aufgeklärten emanzipatorischen Vernunft sein
will, kann sie weder einst von Bergleuten noch heute von Kleinstädtern aus
Vorpommern, Niederrhein und dem Erzgebirge verlangen, von einem Tag auf den
anderen ihre gewachsene geordnete Kultur durch eine kosmopolitisch
aufgeschlossene Neugier zu ersetzen. Veränderung braucht Begleitung, und die
beginnt mit einem offenen Ohr.
Das gilt auch für den Umgang mit der generellen Angst in
vielen Teilen des Landes und insbesondere in den neuen Ländern, abgehängt zu
sein. Mit dem Untergang der DDR verloren 16 Millionen Menschen ihren gewohnten
Ordnungsrahmen und mussten in einer neuen Wertewelt wieder „von Null“ starten auf
der Suche nach einer respektierten wirtschaftlichen und sozialen Rolle. Vor der
Volkskammerwahl 1990 haben viele eine starke Sozialdemokratie erwartet, weil
deren Angebot die logische Kombination der Anforderungen auf soziale Sicherheit,
Chancen auf Wohlstand und demokratische Freiheiten versprach. Das Gegenteil
trat ein. CDU und PDS waren mit ihren Sicherheits- und
Identifikationsversprechen deutlich erfolgreicher. Höchste Zeit, das Besserwissen
der Traditionspartei „des kleinen Mannes“ abzulösen durch die Zuhörerrolle
gegenüber den Bedürfnissen von heute. Zumal bei der einzigen Partei, die in
allen Ost-Ländern regiert, hat das die SPD eigentlich selbst auf dem Schirm?
68 Prozent der Menschen in Deutschland leben in Gemeinden
mit weniger als 100.000 Einwohnern. Potenzial für eine Partei, die auch im
Wandel soziale Sicherheit anbieten will – und Wandel wird den ländlichen Raum in
den nächsten Jahren deutlich stärker herausfordern als die großen urbanen
Zentren. Denn auf dem Land hat der Verfall von staatlicher Infrastruktur,
Bildung und Gesundheit, Immobilienpreisen und Chancen für die Jugend längst
begonnen. Erodierende Wählerbindung erlaubt auch offensives Denken in Richtung
von Wählerschaften, die einst anderen vorbehalten schienen.
Ein starkes Angebot
nach vorn
Offensichtlich gibt es keinen Mangel an „Marktlücke“ für
eine entstaubte, offensive SPD. Nebenbei zeigt sich, dass das Koordinatensystem
Rechts-Links für viele der entscheidenden Fragen irrelevant ist. Bleibt die
Frage, ob es eine positive, attraktive Vision geben kann, die über den
Verteidigungsversuch des Erreichten hinaus geht. „Ein Politikentwurf, für den man
sich noch begeistern kann“. Gern auch einen, der sich von der
heutigen Linie des Erfinders dieser Formulierung unterscheidet, also von der phantasielosen
Ideologie der Linkspartei.
Motor hinter der Arbeiterbewegung war einst die materielle
Not. Der Antrieb, der auch in Gegenwart und Zukunft Kraft verspricht, war und
ist der Kampf um Freiheit. Freiheit in dem Sinne, Fesseln abzustreifen, die
früher ganze Gesellschaftsschichten und Frauen in ihrer Entwicklung
beschränkten. Freiheit von einem Staat, der einst als Bastion der Interessen
herrschender Schichten agierte und dann Instrument einer mörderischen Diktatur
wurde. Freiheit von Normen und Konventionen, deren Geist aus klerikaler
Engstirnigkeit und bürgerlicher Spießigkeit stammte.
Freiheit von wirtschaftlicher Not bleibt ein zentrales Ziel
sozialdemokratischer Politik. Der Kampf um die bedürftigkeitsunabhängige
Grundrente und die Übernahme des liberal geprägten Begriffs Bürgergeld weisen
aber auf ein Grundproblem: Bisher wirkt sozialdemokratische Sozialpolitik als
ein permanenter Problemlösungsversuch mit einem schwer durchschaubaren,
überkomplexen Sozialstaats-Instrumentarium. Dabei leiden alle Sozialleistungen,
die nach dem Bedürftigkeitsprinzip gezahlt werden, unabhängig von ihrer
Benamsung sehr schnell unter dem Nimbus, ihre Bezieher sozial zu
diskreditieren. Niemand möchte sich selbst durch einen Leistungsbezug als arm
stigmatisieren, also können solche Leistungen nie wirklich attraktiv wirken.
Deshalb wäre eine sozialdemokratische Vision für Freiheit
von wirtschaftlicher Not eine Gesellschaft, in der die Kombination von
Leistungskultur und stabilisierenden Gemeinschaftsleistungen ein freies,
unbelastetes Lebensgefühl ermöglichen. Internationale Glücksstudien belegen,
wie groß die wahrgenommenen Vorteile des dänischen Systems sind. Erst wer sich
nicht viele Gedanken machen muss, ob er genug Zeit und Geld für Kinder oder alte
Eltern hat, oder genug Bildung und Können für persönliches Wachstum welcher Art
auch immer, ist wirklich frei von vielen Lebenssorgen. Freiheit im Sinne voller
Souveränität über Arbeits- und Familienzeit ist eine große sozialdemokratische
Vision für die mittelfristige Zukunft. Das ausgetretene Mantra „Die Wirtschaft
muss den Menschen dienen“ würde individuell persönlich relevant wie attraktiv.
Visionäre Attraktivität hat, ein wichtiges Element von
Freiheit, auch die Perspektive auf ökologisch unbedenkliches Wachstum, und zwar
wenn dekarbonisiertes Leben und Arbeiten greifbar werden. Die grüne Leitkultur
der generellen Wachstumskritik kann in diesem Moment überstimmt werden von
einer sozialdemokratischen Fortschrittskultur, die dem Einzelnen wie der
Gemeinschaft neuen Mut zuspricht, seinen Lebensbedingungen substanzielle
Updates zu gönnen. In einer freien Gesellschaft muss Arbeit keine Arbeitslast
mehr sein, in einer klimaneutralen und ressourcenerhaltenden Wirtschaft ist Wachstum
auch kein Raubbau, sondern ein völlig natürliches Ziel, um sich und den Kindern
ein Mehr an Qualität und Erlebnissen zu ermöglichen. Wachstum ist in diesem
Verständnis Abbild menschlicher Gestaltungsfreiheit und verdient eine positive
politische Kraft.
Das vielleicht herausforderndste Gestaltungsfeld für diese
neuen Visionen von Freiheit wird die Auseinandersetzung über die Kontrolle der
digitalen Welt. Die zu konternde Bedrohung kommt von Unternehmen mit dem
Marktwert des BIPs mittelgroßer Volkswirtschaften wie von mehr und weniger
demokratisch legitimierten staatlichen Institutionen. Eine SPD mit einer klaren
Haltung zu den digitalen Fortschrittschancen und zugleich einer klaren Grenzziehung
gegen digitale Bedrohungen persönlicher Freiheiten und fairen Wirtschaftens hätte
ein echtes Alleinstellungsmerkmal in Deutschland.
Mehrheitsfähig mit
Antennen für heute und Angeboten für mehr
Unternehmen unter großer Veränderungsnot neigen gern dazu,
sich auf ganz alte Stärken und Erfahrungen zurückzuziehen. Je größer der Druck von
außen, desto größer die Attraktivität des Altbewährten. Damit berauben sie sich
ihrer letzten Chance, des konsequenten Umbaus gemäß dem Bedarf von heute.
Die linken Kampfbegriffe des 19. Jahrhunderts waren Ausdruck
einer Schlacht gegen übermächtige Gegner aus einer Position von deklassierten Gesellschaftsschichten.
Die Menschen, die heute für politische Mehrheiten zu gewinnen sind, fühlen sich
weder diesen Begriffen noch diesen Frontlinien verbunden. Abwehrreflexe in aufrührerischem
oder alarmistischen Grundton sind in den Augen der Adressaten aus der Zeit
gefallen und verbreiten – kommunikativ nüchtern betrachtet – generell eh bad
vibes, die den Absender als miesepetrige Schlechte-Laune-Truppe dastehen lassen.
Wertvoll für Deutschland wäre eine SPD mit Zug zum Tor in
Richtung einer attraktiven Miteinander-Gesellschaft mit einem menschlichen
Wachstumsbegriff im ökologischen Gleichgewichtsrahmen. Immigration und technologischer
Fortschritt werden Schlüsselelemente für die Weiterentwicklung des Landes sein.
Beide erfordern eine Kultur der Veränderungsbereitschaft. Umso nötiger ist eine
führende politische Kraft, die das Vertrauen genießt, Veränderungen souverän und
verträglich gestalten zu können.
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