Sonntag, 15. Dezember 2019

Reset SPD


Kill your Darlings

Der Versuch eines Beitrags zum Reset der SPD, ohne Häme

Es hat exakt einen Vorteil, am Ende zu sein: Man muss auf nichts Rücksicht nehmen, was ist. Man kann alles über Bord werfen und sich neu erfinden, ohne etwas von Wert zu gefährden. So beginnt positives Denken für die SPD.

Wenn Parteien sich fragen müssen, wie sie den tiefgreifenden Umbruch der implodierten Wählerbindung bewältigen, bieten jene Unternehmen Lernstoff, die im digitalen Wandel bestehen müssen. Die vielen, die dabei gescheitert sind, wie die wenigen erfolgreichen Überlebenskünstler. Das Erfolgsrezept: Alles in Frage stellen und den Wandel konsequent durchziehen, eine klare Change-Story entwickeln und erzählen. Das Misserfolgsrezept: kleinteilige Reparaturversuche, die an der Oberfläche stehen bleiben. 

Wie kann sich die SPD neu aufstellen? Sie muss sich freimachen von dem, was ihr am liebsten ist: von ihrer historisierenden Nabelschau – und vom Schatten der grünen Agenda. Dann fehlt nur noch der Mut zu einer mehrheitsfähigen zeitgemäßen Programmatik.

Die Gefechte rund um die Vorsitzendenwahl, die Groko-Frage und die programmatischen Beschlüsse des Parteitags bestimmen die Bühne der Tagespolitik. Aber tagespolitische Antworten können das Existenzproblem der Partei nicht lösen, wenn europäische Sozialdemokraten praktisch überall in Existenznöten stecken. Da die kaum alle synchron in tagespolitischer Programmatik und personalpolitischer Attraktivität dermaßen danebengegriffen haben, dass sie in Richtung einstelliger Prozentwerte taumeln, lohnt ein Blick auf das grundsätzliche Problem. Es ist höchste Zeit, die Krise sozialdemokratischer Identitätsangebote an den Wurzeln der Parteienfamilie zu hinterfragen.


Arbeiterpartei – was war das noch mal?

Kürzlich wurde heftig diskutiert, ob die AfD eine bürgerliche Partei ist. Eine schöne Einladung, sich zu fragen, was eigentlich eine nicht-bürgerliche Partei ist. Denn da winken sozialdemokratische Wurzeln. 

Der Gegensatz von Bürgerlichen und anderen entstammt dem 19. Jahrhundert, einer Zeit des Dreiklassenstaates: Der Adel verlor seine wirtschaftliche und später politische Vorrangstellung an Kaufleute, Industrielle und Beamtenschaft, also eine bürgerliche Schicht mit überdurchschnittlicher Bildung und materieller Ausstattung. Der „dritte Stand“ des 19. Jahrhunderts waren Millionen von schwer arbeitenden Familien in permanenter wirtschaftlicher Not und mit schlechtem Zugang zu Bildung und politischem Einfluss. Nicht bürgerlich waren also einerseits der Adel und auf der anderen Seite der Gesellschaft jene, die nur durch die Organisation einer solidarischen, (arbeits-)kampfbereiten Gemeinschaft materielle Mindeststandards erstreiten konnten. 

Man braucht schon eine größere Portion Vertrautheit mit dieser Vorgeschichte, um Seele wie Oberfläche der SPD zu verstehen. Wenn ein neugieriger, aufgeweckter junger Mensch ohne dieses Vorwissen einen SPD-Parteitag besuchen würde, könnte er sich eigentlich nur wundern: Warum duzen die sich alle? Das aber mit der feierlich-förmlichen Anrede „Genossinnen und Genossen“? Warum werden zu Beginn anwesende Gewerkschaftsfunktionäre sehr besonders herzlich begrüßt? Warum beschreibt das Parteiprogramm das Ziel aller Ziele einer der verlässlichsten Staatsparteien der Bundesrepublik im revolutionären Sound als „demokratischen Sozialismus“? Und warum sangen alle (bis vor kurzem) am Ende mit großer Selbstergriffenheit ein 100 Jahre altes Wanderlied? 

Man könnte nüchtern professionell analysieren: Beneidenswert, eine Organisation, deren innerer Zusammenhalt auf eine so alte, hoch emotionale Vorgeschichte zurückgeht. Rituale sind enorm wertvoll für Gemeinschaften. 

Ebenso professionell wäre aber die Bewertung mit mit den Augen des Wahlvolks: Wie will eine Organisation hier freudige Zustimmung und Identifikation mit Köpfen und Inhalten auslösen, wenn sie in ihren tief verankerten Ritualen und Prinzipien in einer Definition von Gemeinschaft steckt, die 150 Jahre alt ist? Oder gar neue, aktive Mitstreiter gewinnen? 


Reflexe aus der Vergangenheit

Das Problem: Hier bewegen wir uns nur an der Oberfläche. Die zu verändern wäre schon ein harter Kampf, aber es würde wenig ändern. Die eigentliche Herausforderung liegt im Inhalt: Auch die tief verdrahteten Reflexe der SPD stammen aus der Vergangenheit. Die SPD agiert in der Gegenwart intuitiv mit einem Denken in vergangenen Kategorien. Nicht etwa, weil sie dumm wäre. Sondern weil die Identität von früher ihr wichtigster Klebstoff ist. Die größte Stärke der SPD ist ihre Vergangenheit.

Aus dem anfänglichen revolutionären Konsens gegen Kaiser und Kapital brach am Ende des ersten Weltkriegs das große Schisma der Arbeiterbewegung auf, die Spaltung von SPD und KPD. Bis ins Ende des 20. Jahrhunderts wusste sich noch jeder Jungsozialist einzuordnen, auf welcher Seite der Barrikade er 1919 gestanden hätte, und die Antworten waren durchaus verschiedene. Die Generation der Schröders, Scholz und Steinmeiers hat in ihrer Juso-Zeit noch die Theoriegefechte um staatsmonopolistischen Kapitalismus oder um die Frauenfrage als Nebenwiderspruch des Kapitalismus geführt. Die Marx-Engels-Werke Band 23 bis 25 gehörten ebenso zur „wissenschaftlichen“ Grundausbildung eines ambitionierten Jung-Sozis wie eine solidarische Gewerkschaftsmitgliedschaft, auch für angehende Akademiker. Die stolze Geschichte der Sozialdemokratie lebt von der Abgrenzung zwischen bürgerlichen Mächten und der Arbeiterschaft.

Der Orientierungspunkt der Kernzielgruppe blieb selbst dann „der Arbeiter“, als sich die Unterscheidung von Arbeitern und Angestellten auflöste. Es gehörte zum guten Ton, die seinerzeit einflussreiche „Deutsche Angestelltengewerkschaft“ DAG zu verachten, weil sie den proletarischen Alleinvertretungsanspruch der DGB-Gewerkschaften missachtete. 

Das verbindende Grundverständnis blieb: Abhängig Beschäftigte verdienen generell den Schutz des sozialdemokratischen Staates. Dabei wurde enorm viel erreicht: In Großunternehmen entscheiden heute Gewerkschaftsfunktionäre fast gleichgewichtet mit den Vertretern der Eigentümer. Zugang zu Bildung wurde für Millionen der Schlüssel zu einem Leben, das ihren Eltern noch verwehrt war. Die Institutionen des Sozialstaats gediehen in einem früher nicht für möglich gehaltenen Ausmaß, heute stellt das Budget des Bundessozialministers alle anderen weit in den Schatten. 

Der Erfolg der Gewerkschaften führte dazu, dass Tarifbeschäftigte in großen Teilen des Landes heute zu den Besserverdienenden gehören, mit solider Alterssicherung und vernünftigen Bildungschancen für ihre Kinder. Viele Selbstständige oder Nebenerwerbs-Mütter mit „bürgerlichem“ Hintergrund leben heute oft in einer sozial unsicheren Position als abhängig beschäftigte Fachkräfte in Industrie, Handel, Handwerk oder gar im öffentlichen Dienst. 

Menschen, die wirklich in Armut leben oder von ihr bedroht sind, haben oft jede Verbindung zu Sozialdemokratie und Gewerkschaften verloren. Sie verstehen sich kaum mehr als „Arbeiter“ oder Arbeitnehmerschaft. Armut ist gesellschaftlich entkoppelt von der alten Kampflinie zwischen Arbeiterschaft und „den Bürgerlichen“.

Grünes Agenda Setting, roter Geleitschutz

Ergebnis der seelischen Verankerung in einer vergangenen Gesellschaftsordnung ist, dass die politische Agenda seit den 1980ern von anderen bestimmt wird: Umwelt-, Natur- und Klimaschutz, Frauen- und Schwulen-Emanzipation, bei den großen Erneuerungsthemen der letzten 40 Jahre strahlten die Grünen als Treiber und die SPD gab gefühlt nur Geleitschutz. Sie wirkte wie ein Echo ihrer tradierten Werte „von früher“, nicht als moderner Treiber aktueller Themen. Auch wenn die SPD wichtige gesellschaftliche Modernisierungsprojekte erst ermöglich hat – die Lorbeeren des „Wer hat’s erfunden?“ gingen stets an andere. 

Auch die Neujustierung von Sozialstaat und Wettbewerbsfähigkeit in der Schröder-Fischer-Ära wird wegen seiner messbaren Erfolge nur außerhalb der SPD gepriesen; in ihr wird sie bis heute scharf abgelehnt. Schröder, Clement, Riester und Steinmeier haben unter dem Druck von fünf Millionen Arbeitslosen gewagt, sozialdemokratische Reflexe - „Empfänger von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld verdienen Unterstützung, stets und immer- zu ignorieren. Sie haben diese Leistungen stattdessen befristet und an neue Bedingungen geknüpft. 

In den Augen der Traditions-SPD haben sie schlicht auf der gegnerischen, der bürgerlichen Seite der Barrikade gefochten. Unverzeihlich, unanständig! Das macht ein „aufrechter Sozialdemokrat“ nicht. Die SPD hat sich selbst der Erfinder-Lorbeeren beraubt. Dabei darf bezweifelt werden, ob man sie ihr öffentlich zugestanden hätte; die gefühlte Distanz von der traditionsschwangeren Arbeiterpartei zum Modernisierer nach dem Prinzip von Leistung und Gegenleistung bliebe für viele Wahlberechtigte schwer nachvollziehbar.

Beim großen politischen Emotions-Turbo, der Migrationspolitik, ist es nicht anders: Die Merkel-CDU wird von rechts für ihre pragmatisch-humane Linie geprügelt und gehasst. Die engagierten Verteidiger des Asylrechts sehen ihren parlamentarischen Arm bei den Grünen. Und die Partei mit der längsten Tradition im internationalistischen Denken und in der Abwehr von Rechtsextremismus läuft am Spielfeldrand ein bisschen mit, ohne irgendwo wirklich zu punkten. Die Agenda bestimmen die ganz Rechten, die Humanität hat konservative, grüne und auch traditionell gewerkschaftliche Gesichter, letztere wirken aber immer ein bisschen aus der Zeit gefallen und erreichen große Teile der Öffentlichkeit überhaupt nicht mehr. 

In kleinstädtischen Gemeinden, im Osten, in urbanen Leitmilieus wie am prekären Stadtrand kennt niemand die Pro-Integrations-Kultur aus der „Mach-mein-Kumpel-nicht-an“-Ära. Damals, in der 1980ern, haben es Gewerkschaften verstanden, im Kern der Industriebelegschaften jeden Ansatz von fremdenfeindlichen Reflexen zu kontern. Heute wirken diese Akteure, wo sie überhaupt noch sichtbar sind, wie Prediger einer alten Religion, die zum Gottesdienst läuten, einfach weil man das schon immer so gemacht hat. Sie erreichen keine neuen und immer weniger alte Gläubige. Währenddessen klopft die AfD in genau diesen Kreisen ihre menschenfeindlichen Sprüche und findet ihre Resonanz.


Fortschritt war gestern – zu Tode gesiegt?

Das Zusammenwachsen Europas, Vollbeschäftigung in weiten Teilen des Landes, öffentliche Finanzen im Gleichgewicht, Preisstabilität, diverse Zusatzleistungen in der Rente, eines der besten Gesundheitssysteme, Deutschland als Leuchtturm der westlichen Wertegemeinschaft, der globalen Klimapolitik und der multilateralen Weltordnung – das Land steht besser da denn je seit der Einheit. Alles Ziele der SPD, alles politisch gestützt und getrieben von Sozialdemokraten. Und kein Lichtstrahl des Glanzes dieser Erfolge will auf der Partei landen. 

Und grundsätzlich eine neue Herausforderung an die Politik – für alle Parteien: Man hat den Eindruck, das höchste Ziel aller Politikangebote ist die Verteidigung des Erreichten. Bedroht von Außenwirtschaftskriegen, Demographie, vielgestaltigen militärischen Konflikten, Digitalisierung und Überwachung, Migration und Klimawandel erscheint das Beste, was uns passieren kann, der Erhalt von Lebensstandard samt Alterssicherung, Umwelt und Zusammenhalt. 

Was auf den ersten Blick vernünftig und bescheiden-realistisch erscheint, bedeutet für die SPD einen historischen Bruch: Früher repräsentierte die führende Partei der „fortschrittlichen Kräfte“ ein großes Versprechen vom sozialen Aufstieg ihrer Klientel, von wachsendem Wohlstand bei schrumpfender Arbeitszeit, von stetig wachsenden technologischen Möglichkeiten und vom fortschreitenden Zusammenwachsen der Gemeinschaft der Völker. Sozialdemokratie bezog einen wichtigen Teil ihrer Attraktivität aus den faszinierenden Versprechen verschiedener Dimensionen von Fortschritt. 

Ist der Niedergang der Sozialdemokraten, wie oft zu lesen ist, Ergebnis ihres eigenen Erfolges? Sind sie für die Gesellschaft von heute überflüssig, wo doch andere, wie gezeigt, die politische Agenda schreiben? Wozu braucht es Sozialdemokratie, wenn die Staatspartei CDU den Zusammenhalt organisiert, die Grünen fürs Grüne und Emanzipatorische sorgen und die Liberalen dann und wann Bürokratie und Regulierung eingrenzen?


Eine Marktlücke für die SPD 

Dann besinnen wir uns mal des ersten Satzes und versuchen, die SPD neu zu erfinden - für eine passende Marktlücke. Die Frage ist also nicht, was würde ohne die (bestehende) SPD fehlen, sondern was fehlt Deutschland, was von einer neu gedachten SPD gefüllt werden könnte. Oder ambitionierter gefragt: Welches politische Angebot der aufgeklärten, emanzipatorischen Vernunft hätte eine Chance auf Mehrheiten?

Die Marktlücke wird erkennbar, wenn wir die blinden Flecken der anderen Parteien suchen, also die Positionen, wo sie historisch oder strukturell daran gehindert sind, vernünftige, zeitgemäße und mehrheitsfähige Positionen zu beziehen. Die Union hat es in der Ära Merkel bemerkenswert geschafft, solche Selbstblockaden abzuräumen, wenn auch auf Kosten des Vorwurfs der Prinzipienlosigkeit. Einzig der Druck, das C im Namen zu rechtfertigen, hindert sie noch heute, Positionen gegen klerikale Eliten zu beziehen, etwa bei der schrägen Debatte um den §219. Die FDP glaubt immer wieder, das Thema Steuersenkungen anschieben zu müssen. Auch wenn in der eigenen Klientel sicher ein gewisser Druck in die Richtung existiert – öffentlich gelingt der Partei damit seit Jahren keine Empörungswelle. 

Für die SPD spannender sind die Grünen. Denn sie sind es, die seit Jahrzehnten parallele Ziele verfolgen, denen die Öffentlichkeit aber viel eher authentische Motive zuschreibt. Sie, die natürlichen Koalitionspartner der zurückliegenden Jahrzehnte, dominieren heute die intellektuell-urbanen Milieus, haben die jüngeren Teile der organisierten Zivilgesellschaft durchdrungen und haben eine bestens ausgebildete, wirtschaftlich leistungsfähige liberale Bürgerschaft an sich gebunden. Wenn ein politisches Lager das Gute in dieser Welt repräsentiert, dann die Grünen. Sie sind damit so solide etabliert, dass sie zum Traum-Koalitionspartner der Union aufgestiegen sind.

Interessant für unsere Denksportaufgabe ist, wen die Grünen nicht erreichen. Und wo sie gefesselt sind, Abhängigkeiten und Tabus nicht abstreifen können.


Distanzierende Sprache

Beginnen wir auch hier bei der Oberfläche: Allein die in den letzten Jahren immer weiter abgeschliffene Sprache im grünen Kulturraum nimmt so viel Rücksicht auf die überall lauernden Vorwürfe des normativen Regelbruchs, dass sie für einen Großteil des politischen Publikums jenseits der eigenen Blase vor allem eines signalisiert: Distanz. Die sprechen nicht wie ich, warum soll ich ihnen trauen? 

Je weniger Menschen die Kunst beherrschen, einen Artikel oder eine Rede so zu formulieren, dass keine Sensibilität von verschiedensten Geschlechtern, Ethnien, religiösen Verortungen verletzt sein könnte, desto mehr fühlt man sich an andere Zeiten erinnert, als Eliten ihre soziale Überlegenheit durch einen eigenen Sprachstil betonten. Vollständig stromlinienförmige PC-Sprache wirkt manchmal erhellend, oft erzieherisch, noch öfter elitär.

Nahbare und unverkünstelte Sprache wäre eine einfache und wirksame Chance für die Sozialdemokratie. Man erinnere sich an die Kraft der Müntefering-Sätze, was für ein Unterschied zum heutigen Verschwurbelungsniveau. Doch was macht die Gegenwarts-SPD: Unterwirft sich ohne eigene Linie der grünen Sprachleitkultur mit all ihren schematisch eingeforderten Anforderungen der angeschlossenen zivilgesellschaftlichen Anspruchsgruppen. 

Der Appell an nahbare Sprache ist nicht zu verwechseln mit ideologisch aufgeladener Ablehnung von Gender-sensibler Sprache. Wer aber Sensibilität gleichsetzt mit der Kultur des Minenspürhundes, der in jeder verbale Äußerung im Politikbetrieb Verletzungen eines immer dichter geflochtenen Normenwerks aufspürt, der produziert das Schlimmste, was repräsentativer Demokratie passieren kann: einen kulturellen Graben zwischen Wählern und Gewählten. 


Die Polarisierungs-Turbos: Klima und Migration

Aber auch hier ist die symbolische Oberfläche nur Indikator für die Inhalte, bei denen längst die anderen die Musik bestimmen. Beispiel Klimapolitik: Sie hat sich in den 90ern aus allen Umweltthemen emporgeschwungen zur Mutter aller globalen Herausforderungen. Naturschutz, industriell verursachte Umweltschäden, Müll, alles wird seitdem überschattet von der Bekämpfung des Treibhauseffektes. Daran gibt es faktisch absolut nichts zu kritisieren, denn einerseits weisen alle messbaren Indikatoren auf ein wirklich bedrohliches Szenario. Und andererseits ist es schlicht menschlich, nicht alle relevanten Themen zugleich im öffentlichen Bewusstsein halten zu können. 

Es ist auch nichts falsch daran, dass Deutschland seit den 1990ern eine gewisse Vorreiterrolle sucht, etwa beim Ausbau der Erneuerbaren. Denn wer wenn nicht die größte Volkswirtschaft im größten Wirtschaftsraum der Welt hat die Möglichkeiten und die Verantwortung für diese Rolle? 

Angreifbar ist an der klimapolitischen grünen Leitkultur vielmehr, wie schon beim Thema Sprache, ihr Fetisch fürs Symbolische.  Während sich die grünen Teile der Zivilgesellschaft unglaubliche Gedanken machen, mit welchem Verkehrsmittel man am korrektesten zu welchem Kongress anreist, wäre es die Rolle einer aufrechten SPD, entschlossen für den schnellst wirksamen, effizientesten und sozialverträglichsten Weg zum klimagerechten Umbau unserer Wirtschaft zu streiten. 

Greifbar würde eine zupackend sozialdemokratische Klima-Struktur-Politik überall, wo der effizienteste Weg zur Emissionsreduktion mit simplifizierenden grünen Glaubenssätzen kollidiert. Wenn technologische Übergangslösungen schnelle Emissionssenkungen erlauben, sind sie selbst dann hochgradig wertvoll, wenn sie nicht den grünen Idealen einer Endzeitvision entsprechen. Wenn die Politik einen Markt für klimaneutrale Treibstoffe aus grünem Wasserstoff anschieben würde und damit Kompetenz für effiziente Verbrennungsmotoren werthaltig bliebe, bedeutete das für viele Grüne einen Bruch mit dem symbolbeladenen Verbot von Verbrennern. Für eine selbstbewusste Sozialdemokratie hingegen wäre es eine doppelt, wirtschaftlich wie ökologisch, vernünftige Ergänzung zum Batterieantrieb. Oder der Netz- und Wind-Ausbau: Während die Grünen in der Falle zwischen Ausbauzielen und Bürgerbeteiligungstradition feststecken, wäre eine entschlossene sozialdemokratische Politik die Höhergewichtung von Allgemeinwohl vor Einzelinteressen. Übrigens auch in klarer Abgrenzung zur Union. 


Die Migrationsdebatte jenseits urbaner Vordenker

Besonders herausfordernd ist die Entwicklung einer sozialdemokratischen Unterscheidbarkeit zur grünen Haltung in der Migrationspolitik. Die grüne Leitkultur hält die Reihen geschlossen und schafft kein Zuhören gegenüber den Menschen, die im Umgang mit Zuwanderern unerfahren oder ablehnend sind und denen nicht wohl ist bei dem Gedanken, dass ihre kleinstädtische Nachbarschaft von mehr „Fremden“ bewohnt werden könnte, als man dort je erlebt hat. In der Migrationsfrage hat sich ein Konsens auf der „linken“ oder auch „humanen“ Seite der Gesellschaft festgesetzt, jeden geäußerten oder auch nur gefühlten Vorbehalt gegen „fremde“ Zuzügler mit dem harten Rassismus-Vorwurf zu kontern. Allein das Formulieren dieses Satzes dürfte bereits tabuisiert sein.

Im Ergebnis gibt es kein demokratisches Angebot für jene, denen die Veränderungsgeschwindigkeit der Gesellschaft zu hoch ist. So mancher kämpft länger mit der Schwulenehe und dem Aufbrechen familiärer Rollen als die urbanen Eliten. Das kann man aus guten Gründen bedauern. Aber wenn die organisierte Politik mit nichts als harter Ablehnung auf Veränderungsskeptiker reagiert, bewegt sie nichts ins Positive. Sobald hingegen Friedrichshainer und Schwabinger Urbevölkerung ihre Veränderungsablehnung gegen besserverdienende Zuzügler äußern, kämpft man gern und leidenschaftlich gemeinsam gegen Gentrifizierung. 

Es ist unbestritten notwendig, eine klare Trennlinie zum Rassismus zu definieren und die Kräfte hinter dieser Linie eindeutig zu isolieren. Menschen wegen ihrer Hautfarbe abzulehnen, repräsentiert eine ethisch andere Gefahr als Ausgrenzungsversuche von wirtschaftlich Stärkeren. Aber es könnte in beide Fällen eine sozialdemokratische Haltung sein, Veränderungsprozesse gezielt zu begleiten, in der Migrationsfrage wie seinerzeit in der Kohlepolitik und jetzt in der Klimapolitik und in der Digitalisierung des Arbeitslebens. Wenn die Partei die Stimme der aufgeklärten emanzipatorischen Vernunft sein will, kann sie weder einst von Bergleuten noch heute von Kleinstädtern aus Vorpommern, Niederrhein und dem Erzgebirge verlangen, von einem Tag auf den anderen ihre gewachsene geordnete Kultur durch eine kosmopolitisch aufgeschlossene Neugier zu ersetzen. Veränderung braucht Begleitung, und die beginnt mit einem offenen Ohr. 

Das gilt auch für den Umgang mit der generellen Angst in vielen Teilen des Landes und insbesondere in den neuen Ländern, abgehängt zu sein. Mit dem Untergang der DDR verloren 16 Millionen Menschen ihren gewohnten Ordnungsrahmen und mussten in einer neuen Wertewelt wieder „von Null“ starten auf der Suche nach einer respektierten wirtschaftlichen und sozialen Rolle. Vor der Volkskammerwahl 1990 haben viele eine starke Sozialdemokratie erwartet, weil deren Angebot die logische Kombination der Anforderungen auf soziale Sicherheit, Chancen auf Wohlstand und demokratische Freiheiten versprach. Das Gegenteil trat ein. CDU und PDS waren mit ihren Sicherheits- und Identifikationsversprechen deutlich erfolgreicher. Höchste Zeit, das Besserwissen der Traditionspartei „des kleinen Mannes“ abzulösen durch die Zuhörerrolle gegenüber den Bedürfnissen von heute. Zumal bei der einzigen Partei, die in allen Ost-Ländern regiert, hat das die SPD eigentlich selbst auf dem Schirm?

68 Prozent der Menschen in Deutschland leben in Gemeinden mit weniger als 100.000 Einwohnern. Potenzial für eine Partei, die auch im Wandel soziale Sicherheit anbieten will – und Wandel wird den ländlichen Raum in den nächsten Jahren deutlich stärker herausfordern als die großen urbanen Zentren. Denn auf dem Land hat der Verfall von staatlicher Infrastruktur, Bildung und Gesundheit, Immobilienpreisen und Chancen für die Jugend längst begonnen. Erodierende Wählerbindung erlaubt auch offensives Denken in Richtung von Wählerschaften, die einst anderen vorbehalten schienen.


Ein starkes Angebot nach vorn

Offensichtlich gibt es keinen Mangel an „Marktlücke“ für eine entstaubte, offensive SPD. Nebenbei zeigt sich, dass das Koordinatensystem Rechts-Links für viele der entscheidenden Fragen irrelevant ist. Bleibt die Frage, ob es eine positive, attraktive Vision geben kann, die über den Verteidigungsversuch des Erreichten hinaus geht. „Ein Politikentwurf, für den man sich noch begeistern kann“. Gern auch einen, der sich von der heutigen Linie des Erfinders dieser Formulierung unterscheidet, also von der phantasielosen Ideologie der Linkspartei. 

Motor hinter der Arbeiterbewegung war einst die materielle Not. Der Antrieb, der auch in Gegenwart und Zukunft Kraft verspricht, war und ist der Kampf um Freiheit. Freiheit in dem Sinne, Fesseln abzustreifen, die früher ganze Gesellschaftsschichten und Frauen in ihrer Entwicklung beschränkten. Freiheit von einem Staat, der einst als Bastion der Interessen herrschender Schichten agierte und dann Instrument einer mörderischen Diktatur wurde. Freiheit von Normen und Konventionen, deren Geist aus klerikaler Engstirnigkeit und bürgerlicher Spießigkeit stammte. 

Freiheit von wirtschaftlicher Not bleibt ein zentrales Ziel sozialdemokratischer Politik. Der Kampf um die bedürftigkeitsunabhängige Grundrente und die Übernahme des liberal geprägten Begriffs Bürgergeld weisen aber auf ein Grundproblem: Bisher wirkt sozialdemokratische Sozialpolitik als ein permanenter Problemlösungsversuch mit einem schwer durchschaubaren, überkomplexen Sozialstaats-Instrumentarium. Dabei leiden alle Sozialleistungen, die nach dem Bedürftigkeitsprinzip gezahlt werden, unabhängig von ihrer Benamsung sehr schnell unter dem Nimbus, ihre Bezieher sozial zu diskreditieren. Niemand möchte sich selbst durch einen Leistungsbezug als arm stigmatisieren, also können solche Leistungen nie wirklich attraktiv wirken.

Deshalb wäre eine sozialdemokratische Vision für Freiheit von wirtschaftlicher Not eine Gesellschaft, in der die Kombination von Leistungskultur und stabilisierenden Gemeinschaftsleistungen ein freies, unbelastetes Lebensgefühl ermöglichen. Internationale Glücksstudien belegen, wie groß die wahrgenommenen Vorteile des dänischen Systems sind. Erst wer sich nicht viele Gedanken machen muss, ob er genug Zeit und Geld für Kinder oder alte Eltern hat, oder genug Bildung und Können für persönliches Wachstum welcher Art auch immer, ist wirklich frei von vielen Lebenssorgen. Freiheit im Sinne voller Souveränität über Arbeits- und Familienzeit ist eine große sozialdemokratische Vision für die mittelfristige Zukunft. Das ausgetretene Mantra „Die Wirtschaft muss den Menschen dienen“ würde individuell persönlich relevant wie attraktiv.

Visionäre Attraktivität hat, ein wichtiges Element von Freiheit, auch die Perspektive auf ökologisch unbedenkliches Wachstum, und zwar wenn dekarbonisiertes Leben und Arbeiten greifbar werden. Die grüne Leitkultur der generellen Wachstumskritik kann in diesem Moment überstimmt werden von einer sozialdemokratischen Fortschrittskultur, die dem Einzelnen wie der Gemeinschaft neuen Mut zuspricht, seinen Lebensbedingungen substanzielle Updates zu gönnen. In einer freien Gesellschaft muss Arbeit keine Arbeitslast mehr sein, in einer klimaneutralen und ressourcenerhaltenden Wirtschaft ist Wachstum auch kein Raubbau, sondern ein völlig natürliches Ziel, um sich und den Kindern ein Mehr an Qualität und Erlebnissen zu ermöglichen. Wachstum ist in diesem Verständnis Abbild menschlicher Gestaltungsfreiheit und verdient eine positive politische Kraft. 

Das vielleicht herausforderndste Gestaltungsfeld für diese neuen Visionen von Freiheit wird die Auseinandersetzung über die Kontrolle der digitalen Welt. Die zu konternde Bedrohung kommt von Unternehmen mit dem Marktwert des BIPs mittelgroßer Volkswirtschaften wie von mehr und weniger demokratisch legitimierten staatlichen Institutionen. Eine SPD mit einer klaren Haltung zu den digitalen Fortschrittschancen und zugleich einer klaren Grenzziehung gegen digitale Bedrohungen persönlicher Freiheiten und fairen Wirtschaftens hätte ein echtes Alleinstellungsmerkmal in Deutschland. 


Mehrheitsfähig mit Antennen für heute und Angeboten für mehr

Unternehmen unter großer Veränderungsnot neigen gern dazu, sich auf ganz alte Stärken und Erfahrungen zurückzuziehen. Je größer der Druck von außen, desto größer die Attraktivität des Altbewährten. Damit berauben sie sich ihrer letzten Chance, des konsequenten Umbaus gemäß dem Bedarf von heute.

Die linken Kampfbegriffe des 19. Jahrhunderts waren Ausdruck einer Schlacht gegen übermächtige Gegner aus einer Position von deklassierten Gesellschaftsschichten. Die Menschen, die heute für politische Mehrheiten zu gewinnen sind, fühlen sich weder diesen Begriffen noch diesen Frontlinien verbunden. Abwehrreflexe in aufrührerischem oder alarmistischen Grundton sind in den Augen der Adressaten aus der Zeit gefallen und verbreiten – kommunikativ nüchtern betrachtet – generell eh bad vibes, die den Absender als miesepetrige Schlechte-Laune-Truppe dastehen lassen. 

Wertvoll für Deutschland wäre eine SPD mit Zug zum Tor in Richtung einer attraktiven Miteinander-Gesellschaft mit einem menschlichen Wachstumsbegriff im ökologischen Gleichgewichtsrahmen. Immigration und technologischer Fortschritt werden Schlüsselelemente für die Weiterentwicklung des Landes sein. Beide erfordern eine Kultur der Veränderungsbereitschaft. Umso nötiger ist eine führende politische Kraft, die das Vertrauen genießt, Veränderungen souverän und verträglich gestalten zu können. 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen