Montag, 23. Juni 2025

Sicherheitspolitik von Ralf und Rolf - manifest daneben und dennoch lehrreich

Vor dem Bundesparteitag der SPD komponiert eine innerparteiliche Opposition gegen die Sicherheitspolitik von Scholz, Klingbeil und Pistorius einen manifesten „Diskussionsanstoß“ aus Erinnerungen an den Kalten Krieg und Erfolge sozialdemokratisch geprägter Entspannungspolitik. Verdient der so viel öffentliche Aufmerksamkeit? Wie verhalten sich die Kernaussagen zur Realität? Was blenden sie aus und was lässt sich daraus lernen?

 

Eine Beleuchtung entlang von sieben Zitaten:

 

Zitat 1: „In Deutschland und in den meisten europäischen Staaten haben

sich Kräfte durchgesetzt, die die Zukunft vor allem in einer militärischen

Konfrontationsstrategie und hunderten von Milliarden Euro für Aufrüstung suchen.“

 

Wenn „Kräfte“ eine „Konfrontationsstrategie“ suchen, verfolgen sie systematisch das Ziel, mit Gewalt die eigene Position zu verbessern. Es gibt aktuell exakt eine Kraft in Europa, die ein Nachbarland gewaltsam zu unterwerfen versucht.

 

Zitat 2: „Der Zwang zu immer mehr Rüstung und zur Vorbereitung auf einen angeblich drohenden Krieg wird beschworen, statt notwendige Verteidigungsfähigkeit mit einer Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik zu verknüpfen, um gemeinsame Sicherheit und gegenseitige Friedensfähigkeit zu erreichen.“ 

 

Hier und an anderen Stellen im Text nutzen die Autoren die von Populisten eingeübte Finte und kritisieren eine Position, die in der politischen Debatte überhaupt nicht existiert: Rüstung statt Verhandlungen. Absolut niemand bezweifelt, dass es Gespräche und Verhandlungen braucht, auf dem Weg  zur Beendigung des größten Krieges in Europa seit 1945 wie auch danach.

 

Zitat 3: „Wir sind davon überzeugt, dass das Konzept der gemeinsamen Sicherheit der einzige verantwortungsbewusste Weg ist, über alle ideologischen Unterschiede und Interessen-Gegensätze hinweg Krieg durch Konfrontation und Hochrüstung zu verhindern.“

 

Das klingt sympathisch, aber sich auf einen „einzigen Weg“ zu verlassen, wäre faktisch verheerend. Denn es verstellt jede Möglichkeit, mit einem militärisch gewichtigen Akteur umzugehen, der die „gemeinsame Sicherheit“ in Grund und Boden bombardiert. Eine Sicherheitspolitik, die nicht auf Handeln und Motive des Gegenübers reagieren könnte, wäre keine.

 

Zitat 4: „Vielen scheint gemeinsame Sicherheit heute illusorisch. Das ist ein gefährlicher Trugschluss, weil es zu einer solchen Politik keine verantwortungsbewusste Alternative gibt.“

 

Wenn es wirklich „keine  Alternative“ gäbe, könnte jeder Staat mit einem Nachbarn, der auf gemeinsame Sicherheit pfeift, einpacken. Natürlich braucht es eine Alternative zum Vertrauen auf beidseitigen Friedenswillen, und zwar Abschreckung durch Verteidigungsfähigkeit.

 

Zitat 5: „Zudem ist Europa heute mehr denn je gefordert, eigenständig Verantwortung zu übernehmen. Unter Präsident Trump verfolgen die USA erneut eine Politik, die auf Konfrontation besonders gegenüber China setzt. Damit wächst die Gefahr einer weiteren Militarisierung der internationalen Beziehungen.“

 

Von viel unmittelbarerer Relevanz für Europa ist an der US-Politik der angedrohte Abbau ihres erheblichen Abschreckungsbeitrags in Europa. Deshalb ist es zur Friedenserhaltung der europäischen NATO-Länder unabdingbar, die Abschreckungslücke schnellstmöglich zu schließen. Wer das ausblendet, verletzt die fundamentalen Sicherheitsinteressen der Menschen in Europa.

 

Zitat 6: „… Herstellung einer eigenständigen Verteidigungsfähigkeit der europäischen Staaten unabhängig von den USA. Stopp eines Rüstungswettlaufs. Europäische Sicherheitspolitik darf sich nicht am Prinzip der Aufrüstung und Kriegsvorbereitung, sondern muss sich an einer wirksamen Verteidigungsfähigkeit orientieren.“

 

Unabhängig von den USA kann europäischen Verteidigungsfähigkeit rein logisch nur sein, wenn Europa den US-Anteil an Abschreckung kompensiert. Also schnell und erheblich in Rüstung und militärische Ausbildung investiert. Ein Riesenaufgabe, die anzugehen die Autoren im gleichen Absatz mit dem Begriff „Kriegsvorbereitung“ diskreditieren.

 

Zitat 7: „Keine Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland. Die Stationierung von weitreichenden, hyperschnellen US-Raketen-Systemen in Deutschland würde unser Land zum Angriffsziel der ersten Stunde machen.“

 

Während die Regierungen Scholz und Merz alles versuch(t)en, um die USA noch etwas länger in Verantwortung für die Abschreckung in Europa zu halten, wollen die Autoren der russischen Seite ein Monopol auf Mittelstreckenraketen mit ihren extrem kurzen Vorwarnzeiten einräumen. Und behaupten auch noch, das wäre die für Deutschland sicherere Variante.

 

 

Dabei haben alle im Herbst 21 verfolgen können, wie Putin vorgeht: Eine militärische Drohkulisse an der Grenze schaffen, vom Westen die Rücknahme der Befreiung Mittelosteuropas von russischer Hegemonie verlangen und nach unbotmäßiger Reaktion einen Eroberungskrieg anordnen.

 

Muss die NATO mit einem russischen Angriff rechnen? Viel wahrscheinlicher ist doch das Muster vom Herbst 21: Militärischer Aufmarsch an einer „weichen Stelle“, das Einfordern von „Entgegenkommen gegenüber legitimen russischen Sicherheitsinteressen“ und, wenn das ausbleibt, ein zunächst begrenzter militärischer Schlag, um die die Glaubwürdigkeit der NATO-Abschreckung zu testen. Putin kann sich darauf verlassen, dass viele im Westen sofort das Gewicht der umstrittenen Quadratmeter Finnlands, Lettlands oder Litauens in Relation zur nuklearen Gefahr stellen werden. Damit hätte er wieder beste Chancen, unter dem Schutzschirm seines Nukleararsenals einen konventionellen Angriffskrieg zu führen.

 

Lässt sich etwas positiv aus dem Manifest ziehen?

 

Ja, die Formel von gemeinsamer Sicherheit ist und bleibt hervorragend geeignet, ein Zielbild für eine Friedensordnung zu beschreiben. Aber sie wäre den Namen nicht wert, wenn sie nicht auch eine kriegsvermeidende Antwort auf einen militärisch aggressiven Akteur bereithielte, der selbst durch die Verlockungen gemeinsamer ökonomischer Chancen nicht von Waffengewalt abzuhalten ist.

 

Ja, die diplomatische Flanke hat in den bisherigen Kriegsjahren kommunikativ weniger Präsenz gehabt als die militärische Unterstützung. Auch der Zielbegriff „Frieden“ schien lange Zeit gerade jenen zu gehören, die die Nöte und Rechte der angegriffenen Seite relativieren. Die hölzern-unbeholfene Kommunikation von Bundeskanzler Scholz hat nicht geholfen, in der Zeitenwende ein empathisches und klares Zielbild zu vermitteln. Das alles rechtfertigt aber nicht, die Legende vom dialogbereiten Putin und von Gesprächsverweigerung des Westens weiterzustricken.

 

Ja, wir können von der Deeskalation im Kalten Krieg Positives lernen, die Anstrengungen zu Abrüstung und regelbasierter Ordnung können belohnt werden. Aber der Öffentlichkeit weiszumachen, die Motivlage der aktuell Handelnden im Kreml seien vergleichbar mit der in Europa saturierten Sowjetunion nach Chruschtschow, verkleistert den Blick auf die Gegenwart. Putins Handeln und Reden zeichnet ein konsistentes Bild von einem, der den vermeintlich historisch begründeten Anspruch auf „sein“ Imperium einlösen will. Was nicht ohne Konflikt mit NATO-Ländern realisierbar ist.

 

Ja, es muss gelernten Sozialdemokraten schwerfallen, massive öffentliche Mittel in Rüstung zu stecken und dabei dem Kursanstieg von Rüstungsaktien zuzuschauen. Aber was bitte will Deutschland einer aggressiven und expansiven Militärmacht entgegenstellen, wenn nicht eine technologisch starke Verteidigungstechnik? Auch eine Lehre des Kalten Krieges: Wenn der Westen zahlenmäßig nicht mithalten kann bei Panzern und Soldaten, muss er auf Grundlage marktwirtschaftlicher Incentives einen technologischen Vorsprung aufbauen. Also seine Schlüsselstärke einsetzen.

 

Ja, wir müssen Abschreckung durch Verteidigungsfähigkeit unabhängig von den USA organisieren. Kein Aber.

 

Bleibt die Frage, was die Autoren antreibt und was sie beabsichtigen. Angesichts der offensichtlichen Auslassungen und logischen Brüche lässt sich leicht über die Wiederauferstehung der Moskau-Connection spekulieren. Die Aufweichung des sicherheitspolitischen Kurses einer kaum ersetzbaren Regierungspartei im größten Land des freien Europas wäre ein traumhaftes Geschenk für Putin.

 

Wer aber derart niederen Motiven misstraut, kann nur vermuten, dass auch bei manchen Profi-Politikern das Festhalten an Denkmechaniken aus der guten alten Zeit als Tugend und nicht als Beleg von Unbelehrbarkeit gilt. Oder dass Teile einer in elektorale Bedrängnis geratenen Partei ihr Heil im Nachplappern anderswo erfolgreicher Narrative suchen.

 

Wenn schon keine sozialdemokratische Positionierung ohne Zitate von Altvorderen auskommt, sei an Ferdinand Lassalle erinnert: „Alle große politische Aktion besteht in dem Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit.“ Wenn sich das Ist vom Gewesenen unterscheidet, verlangt es auch andere Antworten. Der Kalte Krieg war lehrreich, aber Putin agiert nicht als abschottender Systemverteidiger, sondern als revisionistischer Imperialist.

 

Die Sozialdemokratie steht traditionell für zwei Versprechen: Individuelle Sicherheit - und ihre kollektive Realisierbarkeit, sobald der Staat seine Kräfte dafür bündelt. Sozialdemokratische Außen- und Sicherheitspolitik könnte einen Beleg liefern, wie eine große gemeinsame Anstrengung aus der Wahrnehmung des passiven Ausgeliefertseins gegenüber kalt kalkulierenden Gewaltstaaten herausführt und einen verbindenden Spirit von Friedfertigkeit und Wehrhaftigkeit begründet.

 

Frieden und Sicherheit als gemeinsame gesellschaftliche Aufgabe - das wäre doch ein Leitmotiv für einen erfolgreichen Parteitag in besonderen Zeiten.

 

Montag, 17. Februar 2025

Apfelbaum gegen Apathie? Politisch-kommunikative Führung in der Welt der Trump-atlantischen Beziehungen

Damals, in der alten Normalität, hätte es jetzt kein anderes Thema gegeben als die letzten Tage zur Bundestagswahl. Wer kommt rein, wer fliegt raus, wer wird Kanzler, mit welchen Partnern?

Mit dem Ende des transatlantischen Westens als weltpolitischer Formation sind es Abgründe, die den Ausblick bestimmen. Die ökonomische, technologische und militärische Weltmacht Nr. 1 hat Deutschland und Westeuropa die Freundschaft gekündigt und sich mit den schlimmsten Gegnern unserer Freiheit verbündet. Jetzt und hier, auf der MSC im Bayerischen Hof, unserem sicherheitspolitischen Wohnzimmer. Global droht ein neues Jalta zur Verschiebung der Grenzen in Europa, nur ohne einen Churchill, also ohne gewichtige Stimme aus Europa.

Ob Merz mit Rot oder Grün koaliert, ist angesichts dessen so relevant wie der Münzwurf zur Seitenwahl im Vorrundenspiel für den Ausgang einer Fußball-WM.

All das trifft auf ein kaum reaktionsfähiges Europa: Militärisch schon mit dem bereits laufenden Krieg überfordert, in jeder Hinsicht vielstimmig, ohne Kraftzentrum und politisch schon länger von Trumps Brüdern und Schwestern im Geiste unter Druck. Ohne verbindende europäische Medien, ökonomisch in unbewältigte Transformation verwickelt und ohne eine gestaltungswillige Positivvision.

Prognostizieren lässt sich mit Blick auf die öffentliche Meinung nur eines: Die Gravitation der Bequemlichkeit. Wir alle werden - schon allein mit Blick auf unseren Schlaf oder, grundsätzlicher, unsere seelische Gesundheit - nach Gründen dafür fahnden, dass alles schon nicht soo schlimm wird. Dass doch auch „die Amis“ auf Bündnispartner angewiesen sind. Dass Europa doch der stärkste Weltwirtschaftsraum ist. Dass Trump sich keinen Sieger namens Putin erlauben kann. Oder anders, dass die Tage länger werden, die Krokusse rauskommen und man doch das Leben genießen und den Anvertrauten zuwenden solle.

Die verführerische politische Kraft, die das „jetzt erst mal in Ruhe nachdenken und dann schauen wir mal, wie schlimm alles wird“ repräsentiert, kann sich stets großer Sympathien gewiss sein. Oder vielleicht noch schnell im Sinne Luthers einen Apfelbaum pflanzen?

Und richtig ist ja: Existenzielle Bedrohungen zu vergegenwärtigen, in denen weder der Flucht- noch der Kampfreflex Abhilfe verspricht, ist tatsächlich ein dickes Brett für jede und jeden Einzelnen. Gerade ein Land, dessen Bewohner Politikprofessor Korte gern die „Sicherheitsdeutschen“ nennt, tut sich extrem schwer damit, dass der Ordnungsrahmen für ein Leben zwischen Schulpflicht und Frührente bedroht ist, weil unser freies und wohlständiges europäisches Leben seinen großen Beschützer verloren hat und uns nun mit allerlei disruptiven Zündeleien beschäftigt, während er unserem östlichen Aggro-Nachbarn freimütig imperialen Expansionsraum freiräumt.

Also dass Krieg, nüchtern bewertet, schlicht wahrscheinlicher geworden ist und damit das Ende von allem, was uns ausmacht. Kriege entstehen nun mal genau da, wo sich in einer militärischen Sicherheitsordnung Schwächen auftun. Und ohne verlässliches Bündnisversprechen ist Europa für Putin ein viel zu verlockendes Ziel, um es nicht - erst durch Bedrohung und Angst, dann durch Provokation und schließlich handgreiflich - herauszufordern. Zumal Krieg seine persönliche Macht schützt.

In München stand der Begriff Weckruf für die befreiende Hoffnung, dass Europa dieses Erlebnis zum heilsamen Schock kanalisiert. Doch Rufe jeder Art neigen zum Verhallen, wenn ihnen nichts von Substanz folgt.

Wie also müsste politische Führung agieren? Welche Positionierung könnte dem gefährlichen  „Ruhe bewahren und weiterschauen“ standhalten? Einen Krieg wieder unwahrscheinlicher machen? Und dem Druck der Trump-Kamarilla auf eine Populistenrevolte auch in Europa Widerstandsgeist entgegenstellen?

Europäische politische Führung muss beides kontern: den Druck von außen und die Apathie der Hilflosigkeit im innern. Deshalb wäre ein zusammengestottertes neues Sicherheitsversprechen „von oben“ allein keine Lösung: Mehr Geld für äußere Sicherheit, mehr militärische Integration, technologisch und ökonomisch gestärkte Rüstungswirtschaft allein wären substanziell erst mal nur herbeibehauptete Sicherheit. Denn es dauert, bis sie wirken. Und jeder dieser notwendigen Einzelschritte wird erst mal von vielerlei Gegenwehr behindert und gebremst werden.

Außerdem würde es in der Denke paternalistischer Politik verharren: Liebe Leute, wir sorgen für sichere Renten, mehr Wohnungen, pünktliche Züge und nun auch wieder für Abschreckung und Wehrhaftigkeit. Eine Politikstil, den man schon bisher dafür kritisieren konnte, weil er allzuoft durch Enttäuschungserfahrungen ausgehöhlt wurde und in den Köpfen eine Trennung von Politik- und Eigenverantwortung zementiert hat: Sollen die Politikanbieter da oben erst mal machen, ich schau mir das an und wähle dann wieder ab, was mir nicht passt.

Der fundamentale Wandel, den die Sicherheit in Europa jetzt braucht, gelingt nur als gesellschaftliches Gemeinschaftsprojekt. Nur wenn wir den Washingtoner Regime Change und seine Schockwelle nach Europa in persönliches Handeln übersetzen, durchbrechen wir die Apathiefalle, in die uns der Cocktail aus Bequemlichkeit und Angst lockt, und stärken unsere Sicherheit dauerhaft und substanziell.

Sicherheit als Gemeinschaftsprojekt bedeutet alltäglich visible und persönliche Beiträge zur Abwehrbereitschaft:

  • Wiederaufbau von Zivilverteidigung mit allem, was wir im Kalten Krieg gelernt und dann verdrängt haben, oft unterschätzte Grundvoraussetzung für glaubwürdige Wehrhaftigkeit
  • schrittweiser Aufbau einer Wehrpflicht für Frauen und Männer
  • freiwillige Beteiligung von Ungedienten bei militärischen Unterstützungsleistungen nach skandinavischem Vorbild
  • Vorbereitung der zivilen Infrastruktur (Gesundheitswesen, Verkehr, Digitales) auf Verteidigungsfähigkeit


In deutschen Köpfen ist Krieg hypothetisch gleichbedeutend mit nuklearem Weltuntergang. Der Kriegspraktiker Putin hingegen kombiniert unterschiedlichste Mittel von Gewaltanwendung, um den Druck für eigene Ziele nach Bedarf zu vergrößern. Gegen die große Mehrzahl dieser Mittel gibt es Gegenwehr, die vorzubereiten in unseren Händen liegt. Und gegen die atomare Katastrophe glaubwürdige Abschreckung.

Sicherheit als gesellschaftsverbindendes Großprojekt ist nicht nur notwendig zur Verteidigung europäischer Handlungsfähigkeit und Freiheit. Sie ist auch das einzig glaubwürdige Sicherheitsversprechen im neuen Normal der Trump-atlantischen Realität, in der Artikel 5 des Nordatlantikvertrags seine Abschreckungsselbstverständlichkeit verloren hat.

Und sie wäre ein mobilisierendes Neustartprojekt für eine neue Bundesregierung in einem reanimierten europäischen Kraftzentrum.

Montag, 27. Januar 2025

Merz und seine Basta-Show - die rot-grüne Wahl zwischen Falle und Führung

Der Fünf-Punkte-Merz-Move stellt SPD und Grünen eine Falle. Die Falle schnappt zu, sobald beide nach dem Schema reagieren, noch mehr sei zur Kontrolle von Zuwanderung rechtlich nicht machbar.

Diese Falle fußt auf der schiefen öffentlichen Wahrnehmung, dass ein Großteil von Gewaltverbrechen in Deutschland auf Asylbewerber zurückgehe. Da in den letzten Monaten und Jahren keine relevante politische oder mediale Kraft dieser Wahrnehmung entgegengetreten ist, würde es jetzt, wenn es von SPD und Grünen käme, wie ein verachtungswürdiger Beschwichtigungsversuch wirken. Was Medien nicht aus der Verantwortung nimmt, die quantitativen Maßstäbe zurechtzurücken.

Die Parteien müssen aber mit der Wahrnehmung umgehen, wie sie ist. Meinungen sind Tatsachen, zumal im Wahlkampf.

Es ist mehr als nachvollziehbar, dass SPD und Grüne Merz für den Tabubruch kritisieren, gemeinsam mit der AfD eine parlamentarische Mehrheit anzustreben. Ausgerechnet bei deren Leib- und Magenthema Migration legt die Union den rechtsradikalen Menschenfeinden den roten Teppich zur gemeinsamen Mehrheit aus. Und das vermeintliche Gesprächsangebot an die Mitte-Parteien killt Merz selbst mit seinem Ausschluss von Kompromissmöglichkeiten.   

In den Augen eines Großteils der ungebundenen Wählerschaft aber wird SPD und Grünen auch begründete Merz-Kritik kaum helfen, solange sie sich in der Falle bewegen, das substanzielle Abhilfe rechtlich und nicht möglich sei.

Es wird auch wenig helfen, Merz die Widersprüche zwischen seinen bisherigen Aussagen zur Zusammenarbeit mit der AfD nachzuweisen. Weil er das emotionale "Argument" auf seiner Seite hat, genug sei nun mal genug.

Es ist keine durchhaltbare politische Position bei einem von der Öffentlichkeit als hoch relevant eingeordneten Thema, in langen juristischen Begründungskaskaden immer wieder Handlungsunfähigkeit zu dokumentieren. Oder Fortschritte der letzten Monate als wertvolle Lösungsschritte darzustellen, während die Öffentlichkeit weitere schwerste Straftaten verarbeiten muss. Oder auf das Bashing föderaler Einzelakteure zu setzen. All das wird, wie so oft in der politischen Öffentlichkeit, unabhängig von faktischer Substanz keine breite Zustimmung auslösen, keine Affekte besänftigen.

Deshalb ist der vermutliche Verlauf der Debatte prognostizierbar: Das Merz-Manöver wird sowohl SPD und Grünen als auch AfD und Union in ihrer Kernklientel bei der Wählerbindung helfen. Also im brisantesten Wahlkampfthema die Gesellschaft noch tiefer spalten. Da AfD und Union aktuell eine weit stärkere öffentliche Unterstützung genießen, werden SPD und Grüne die relativen Verlierer einer noch stärker zementierten Spaltung sein.

AfD-Wahlwillige haben dabei durch den Merz-Move keinerlei Grund, nicht die AfD zu wählen. Sie werden vielmehr bestärkt, auf der richtigen Seite zu stehen.

Dass SPD und Grüne dieser Falle entgehen, ist nach den ersten Reaktionen von Scholz und Habeck nicht wahrscheinlich. Denn sie bewegen sich in ihren üblichen Gewässern.

Beide haben Zeit bis zur Bundestagsdebatte am Mittwoch, der noch erreichbaren unentschlossenen Wählerschaft Gründe zu liefern, ihnen erneut Gehör zu gewähren. Noch einmal zuhören wird man bei neuen (!) Aussagen mit einer belastbaren praktischen (!) Wirkung auf die Gewaltkriminalität. In Verbindung mit dem Nachweis, dass der Merz-Weg genau diese praktische Wirkung nicht hätte.

Raum für eine hinhörenswerte Neupositionierung bieten Aspekte, die bisher hinter den Themen Grenzkontrollen und Abschiebungen nicht die gebührende Aufmerksamkeit genießen: die träge, papierbeschwerte Bürokratie im kleinschrittigen Zusammenspiel von Behörden mit engen Detailzuständigkeiten. Da Attentate wie in Magdeburg und Aschaffenburg verhindert worden wären, wenn "der Staat" nach dem ihm vorliegenden Wissen hätte handeln können, hätte ein Paket aus konsequenter Digitalisierung im Behördenverkehr, begradigten Zuständigkeiten, Neujustierung von Datenschutz und digitalen Fahndungsoptionen reale Relevanz zur Verhinderung weiterer Straftaten.

Hinhörenswert wäre es gerade dann, wenn SPD und Grüne angesichts der brisanten gesellschaftlichen Situation öffentlich einige überkommene Positionen räumen würden (etwa bei Datenspeicherung oder digitaler Gesichtserkennung).

Eine solche Kurskorrektur würde die vielleicht größte Schwäche der Scholz-Kommunikation kontern: sich nie öffentlich zu hinterfragen und Fehler einzuräumen. Einer Ursache dafür, dass er auf viele wirkt wie ein Kanzler von einem anderen Stern.

Einem öffentlichen Bedürfnis nach Neugewichtung zwischen Datenschutz und innerer Sicherheit zu folgen, wäre nicht anrüchig,  sondern ebenso legitim wie verfassungskonform. Und vor allem würde es der Kriminalitätsbekämpfung auch in der großen Mehrheit der Fälle dienen, in denen Asylbewerber keine Rolle spielen.

Kraft bekäme eine solche Umpositionierung nicht nur durch die Argumente für die Änderungen, sondern durch den Vergleich mit der dürren praktischen Wirkung der fünf Merz-Punkte. Denn die würden durch die ihnen inhärenten juristischen Auseinandersetzungen über Monate und Jahre schlicht nichts ändern. Schließlich hat Merz anders als Trump die obersten Gerichte nicht unter Kontrolle.

SPD und Grüne entgehen der von Merz gestellten Falle nur, wenn sie ihren parteitypischen Reflexen entsagen und die öffentliche Erwartung nach substanziellen Reaktionen bedienen. Nur wenn dies überraschend, schnell und konsequent erfolgt, könnte es noch öffentliche Wirkung entfalten. Und den eigenen Wählkämpfern Selbstbewusstsein für Haustür und Fußgängerzone mitgeben.

Es würde den Merz-Move dastehen lassen als das, was er ist: ein hektisches Wahlkampfmanöver, zudem im Widerspruch zur großen demokratischen Tradition der Union. Letztlich bestätigt Merz die Erwartung von Beobachtern, irgendwann im Wahlkampf die Nerven zu verlieren. Fünf krawallige Pseudoreformen auf der Welle der Empörung über Aschaffenburg wären vielleicht nur traurig - die Kombination mit der expliziten Einladung an die AfD und der Annoncierung von Kompromisslosigkeit gegenüber der demokratischen Mitte konterkarieren Merz' Bemühen, sich als nüchterner und lösungsorienterter Kandidat für die breite Mitte in Deutschland zu präsentieren.

Wenn aber SPD und Grüne nicht entschieden, mutig und klug reagieren, sind sie die Nettoverlierer der sauerländischen Basta-Show.

Dienstag, 13. August 2024

Antworten auf Wagenknecht - der Kampf um das Friedensnarrativ

Vielleicht ist es in der Debatte über politische Kommunikation der Modebegriff überhaut: das Narrativ. Dabei wird es gern vereinfachend auf Formulierungsstanzen reduziert, die in immergleichen Worten immergleiche Positionen repräsentieren und so Politik und ihre Köpfe „branden“. 

Herfried Münkler beschreibt in seiner „Welt in Aufruhr“ das Konzept von Narrativen wesentlich treffender als Erzählmuster, „in denen es um die Herkunft und Zukunft eines Sozialverbandes oder politischen Akteurs geht […]. Dabei sind Narrative nicht mit den ihnen verbundenen Erzählungen identisch, sondern bezeichnen die Muster, die den Erzählungen zugrunde liegen. […] Narrative und Symbole sorgen dafür, dass wir in einer bestimmten Gruppe von Erzählungen und Bildern dieselbe Idee erkennen, so dass diese uns «vertraut» erscheint und ein Signum des Eigenen oder des Fremden ist.“ Und diese Vertrautheit trägt viel zur Bereitschaft bei, zuzustimmen und sich von den „Fremden“ mit anderer Ideenbasis abzugrenzen.

 

Das aktuell vielleicht erfolgreichste Narrativ lässt sich mit den Worten „Reden statt Waffen“ skizzieren. Das BSW hat unter dem Schirm dieses Musters sogar auf Landesebene das Koalitionsjunktim postuliert, Putin faktisch freie Hand in der Ukraine zu geben. Keinem anderen Thema räumte Frau Wagenknecht so viel Gewicht ein. Das Kalkül ist nachvollziehbar – mit seinem Friedensversprechen profiliert sich das ansonsten programmatisch schwer greifbare Parteien-Startup so erfolgreich, dass es nach den kommenden Landtagswahlen eine Königsmacher-Rolle erwarten kann, obwohl kaum jemand spezifische landespolitischen BSW-Positionen benennen könnte.

 

Nicht anders die AfD: Die Rechtsextremisten nehmen die Chance dankbar entgegen, ihrem Dauerbrennerthema Migration einen starken Sekundanten zu Seite zu stellen und sich feixend mit der Friedenstaube zu schmücken, um ihr grob gerastertes Zielbild vom besseren Gestern moralisch zu garnieren.

 

 

Die Macht des Honigtopfs

 

Alle diesseits von BSW und AfD leiden erkennbar unter der großen Anziehungskraft des Denkmusters „Reden statt Waffen“. Denn es drückt emotional mächtige Knöpfe, in Ost wie West.

 

Wer den Kalten Krieg im Westen erlebt hat, erinnert zwei Phasen:  

  •  Die Block-Auseinandersetzung, die Europa Jahrzehnte eines hochgerüstetenriedens gebracht hat. Die Sowjetunion hatte sich selbst eingemauert und in Rüstungs- wie Abrüstungsfragen recht berechenbar agiert. Und was ansonsten in ihrer Einflusszone passierte, war das Problem einer ganz anderen Welt.
  • Die Phase der Friedensdividende, in der sich der Verteidigungsauftrag der Bundeswehr mangels Bedrohung in Luft auflöste und die freiwerdenden zig Milliarden in schöne Dinge flossen, während enge Wirtschaftsbeziehungen mit Russland beide Seiten scheinbar zu einem friedlichen Nebeneinander disziplinierten.

 

Aus ostdeutscher Sicht ein anderes Erleben, aber mit ähnlichen Konsequenzen für heute:

  •  Bis zum Mauerfall war die Sowjetunion ein täglich sichtbarer Machtfaktor. Wer im Rahmen der Möglichkeiten mit seiner Familie gut und in Frieden leben wollte, tat gut daran, den „russischen Bären“ und seine hiesigen Vertreter nicht zu reizen.
  •  Mit dem Ende der Sowjetunion endete die Zeit der Übersichtlichkeit. Den neuen Freiheiten standen große Verletzungen und Unsicherheiten gegenüber. Eingespielte Wirtschaftskontakte nach Russland galten als eine der wenigen ökonomischen Chancen des Ostens.

 

Vor dem Hintergrund beider Vorgeschichten wird verständlich, wie sich Ost- wie Westdeutsche im eingefrorenen Ost-West-Konflikt eingerichtet hatten und wie leicht es Populisten heute haben, die alte Berechenbarkeit herbeizubeschönigen. Das unterkomplexe Friedensversprechen von BSW und AfD ist: Die müssen endlich wieder miteinander reden, und dann wird schon alles gut. Dieses Versprechen findet viel  Beifall unter jenen, die entlang der sorgfältig abgesteckten imperialen Schnittstelle in Europa ihren Weg finden mussten.

 

Die intuitive Zustimmung vor dem Hintergrund vergangener Erfahrungen und Erzählungen macht den Zauber und damit die Macht erfolgreicher Narrative aus. Ein Honigtopf voller Erinnerungen an geordnete und kriegsfreie Zeiten, verbunden mit dem verlockendsten Angebot überhaupt: Lehnt Euch zurück, die sollen endlichen reden und alles wird gut. Garniert mit eingeübten Aversionen gegen die Rüstungswirtschaft und die USA sowie mit dem alt-rechten Gedanken von Äquidistanz zwischen Ost und West, dessen Wurzeln weit ins Kaiserreich zurückreichen.

 

Das „Reden-statt-Waffen“-Narrativ wirkt (unabhängig von der real verwendeten Formulierung) mehrfach attraktiv:

  • Es klingt sofort sympathisch, weil friedliebend.
  • Es knüpft an persönliche Erfahrungen aus geordneten Zeiten ohne Krieg in Europa an.
  • Es entlastet: Denn „wir“ sind damit raus - raus der Verpflichtung zur Unterstützung und dem ungeliebten militärischen Denken überhaupt und raus aus der Last, zu sehr mit dem überfallenen Land und seinen Menschen zu leiden, sollen die doch endlich verhandeln.

 

Zu Kriegsbeginn sprach Lawrow die diabolische Einladung an den Westen aus, das Ganze doch bitte als Auseinandersetzung zwischen slawischen Verwandten zu verstehen – wie bequem wäre doch so viel emotionale Distanz zum Töten und Sterben.

 

Stellt sich die Frage, wie sich dieses Narrativ zur Realität verhält und wie es jene entzaubern können, die Politik in eben dieser Realität verantworten.

 

 

Narrativ mit inneren Widersprüchen

 

Ein zentraler Hebel zum Entzaubern: Der Gegensatz im „Reden statt Waffen“ ist logisch einfach nur unsinnig. Kriege wurden schon immer durch Verhandlungen beendet, so wird es auch hier sein und niemand bezweifelt das. Nur dass die Seite ohne wettbewerbsfähige Waffen dabei null Verhandlungsgewicht hat, solange die Gegenseite militärische Überlegenheit mit Macht einsetzt. Die Reden-statt-Waffen-Anhängerschaft verweigert konsequent die Antwort, was die Konsequenz wäre, nämlich blanke Unterwerfung.

 

Wer einem Angegriffenen das Recht zur Verteidigung abspricht, kollidiert nicht nur mit dem Völkerrecht, er bereitet den Zielen des Aggressors den Weg. Wer im Gewand der „Reden-statt-Waffen“-Logik für das Ausbluten der ukrainischen Gegenwehr eintritt, gibt der größten europäischen Militärmacht freie Hand auch für weitere Überfälle. Friendly Reminder: Putins Benchmark, das sowjetische Imperium, war ziemlich ausladend!

 

Widersprüchlich argumentieren die Wagenknechte bei der Einordnung der relativen Stärke Russlands: Einerseits singen sie das Lied von den Einkreisungsängsten des ach so bedrohten Riesenlandes. Gleichzeitig soll aber die Ukraine unverzüglich die Waffen strecken, da sie militärisch eh chancenlos sei. Russland ist für sie an seiner Außengrenze schutzbedürftig schwach und übermächtig stark zugleich, Hauptsache der Westen ist schuld.

 

Der dritte Denkfehler: Die Analogie zwischen Putins Russland und der UdSSR seit Chruschtschow. Die erinnerungspolitische Gleichsetzung der seit den 60ern saturierten Sowjetunion mit Putins revisionistischem Russland kollabiert in sich selbst, sobald man die Fakten wahrzunehmen bereit ist. Seit 20 Jahren beweist Putin mit Worten und Taten, in der Wiederherstellung imperialer Größe nach den brutalen Regeln des 19. und mit den Waffen des 21. Jahrhunderts den zentralen Sinn seiner Herrschaft zu sehen. Lenin vermochte es innerhalb weniger Jahre, das in WW1 verlorene zaristische Großreich weitgehend zurückzuerobern. In Putins Logik muss die Geschichte nun nach dem sowjetischen Kollaps mit militärischen Mitteln korrigiert werden.

 

Dass die Welt nach 1945 nach anderen Regeln funktioniert und sich im nuklearen Zeitalter aggressiver Imperialismus mehr denn je verbietet, steht in seinen Augen selbstverständlich hinter seiner nationalistischen Mission zurück. Er pfeift im Unterschied zur Sowjetunion auf Verträge und Verpflichtungen und hat spätestens seit 2014 allen Wunschträumen, er werde in das System vertraglicher internationaler Regeln zurückkehren, den imperialen Mittelfinger gezeigt. Stattdessen begeht er den maximalen Tabubruch in der europäischen Friedensordnung und will sich das zweitgrößte europäische Flächenland einverleiben, im Vertrauen auf Unverletzlichkeit durch seine Nuklearmacht.

 

Doch während das „heilige Russland“ die Wiedergewinnung alter Größe mit aller Brutalität betreibt, rutscht diese ernste Erkenntnis auf gleich zwei Teflonschichten aus vielen Köpfen: Auf der Erinnerung an das geordnete Nebeneinander mit der UdSSR vor 1990 und auf der epochalen Erfahrung des kooperativen Aufbruchs der 90er. Zwei Epochen und mehrere Jahrzehnte Lebenserfahrung stehen dem Wahrhaben des erschreckenden Hier und Jetzt entgegen: Krieg ist wieder gestaltende Realität in Europa.

 

Alle Fakten helfen nicht, wenn sie gegen ein verlockend sympathisches und einfaches Narrativ verpuffen. Die Kanzler-Botschaft von der Zeitenwende war vielleicht die verstörendste Botschaft der deutschen Nachkriegszeit. Denn sie offenbarte, dass militärische Handlungsfähigkeit zum existenziellen Faktor der Gegenwart geworden ist. Den Traum vom Friedenschaffen ohne Waffen haben Putins Panzer überrollt, aber kritisiert wurde jener, der die Tatsachen aussprach.

 

Bausteine eines Zeitenwende-Narrativs

 

30 Kriegsmonate später will ein Viertel der Westdeutschen und die Hälfte der Ostdeutschen Parteien wählen, die „Reden statt Waffen“ plakatieren und damit de facto die Ukraine vor den Bus werfen. Wie kann eine kommunikative Antwort darauf aussehen? Wie formuliert sich ein Zeitenwende-Narrativ, das in Sachen intuitiver Zustimmungsfähigkeit mithält? Das die Lebenserfahrung der Deutschen und ihre emotionalen Bedürfnisse spiegelt und die Realitäten anerkennt?

 

Ausgangspunkt eines erfolgversprechenden Konters ist die Tatsache, dass BSW und AfD den Deutschen das legitime Bedürfnis nach Sicherheit verwehren. Sicherheit ist in fast allen Politikbereichen eine Schlüsselanforderung an Politik. Gerade auch in der BSW- und AfD-Wählerschaft. Die Erschütterung von gelernten Sicherheiten ist übergreifendes Merkmal von Verunsicherung jener, die die Autoren der „Triggerpunkte“ als „Veränderungserschöpfte“ bezeichnen. Eine besonders Populismus-gefährdete Teilöffentlichkeit, die sich qua Ausbildung, Familienbild und Status aus der Mitte der Gesellschaft verdrängt fühlt. Zurück blieb ein unbedientes Sicherheitsbedürfnis.

 

Auch das Ende des Friedens in Europa repräsentiert die Zerstörung einer selbstverständlich wirkenden Sicherheit. Genau deshalb ist Verdrängung eine beliebte Reaktion. Die Lieblingsparteien vieler Veränderungserschöpften laden durch ihr „Reden-statt-Waffen“-Narrativ herzlich dazu ein, sich in der guten alten Zeit von Dialog und Abrüstungsverhandlungen zu wähnen – und damit außerhalb der gegenwärtigen Realität, in der sich Putin und Lawrow ein wiedererstandenes Großreich herbeibomben wollen.

 

Auf der anderen Seite sammelt Boris Pistorius seit Amtsantritt bemerkenswert viele Sympathiepunkte, weil er etwas für einen Verteidigungspolitiker Ungewöhnliches macht: Kriegsgefahr und prägnante Lücken deutscher Verteidigungsfähigkeit offen anzusprechen. Er behandelt Sicherheit nicht als gegeben, sondern als Ziel, bis zu dem noch eine Menge Meter gemacht werden müssen. Diese für einen Verteidigungsverantwortlichen erstaunliche Transparenz vermittelt neben den Fakten auch Haltung gegenüber dem Beschönigungsnarrativ: Lasst uns den Tatsachen ins Auge blicken und nüchtern handeln.

 

Das allein genügt aber nicht als Konter gegen das verlockende Weidel-Wagenknecht-Wunschdenken.  Es braucht auch für die Regierungsposition ein Erzählmuster aus narrativen Vertrauensankern, die intuitive Zustimmung auslösen, weil sie auf lange eingefrästen Erfahrungen und Glaubenssätzen beruhen. Dafür stehen die folgenden Schlüsselbegriffe.

 

1. Sicherheit

Das übergeordnete Ziel; ist uneingeschränkt positiv assoziiert; und aus vielen anderen Politikbereichen ist gelernt, dass Sicherheit eine permanente Aufgabe ist und andauernde Anstrengungen erfordert.

 

2. Friedensordnung

Verbindet den Friedensbegriff (der nicht der Gegenseite überlassen werden darf) mit dem Ergebnis gestaltender und regelbasierter Politik. Ordnung steht für Stabilität, klare Grenzen. Und jeder weiß, dass sie zur Not auch mit Macht durchgesetzt werden muss. Sie ruht auf zwei Säulen: diplomatische Verständigung aller Beteiligten und Durchsetzung gegen jene, die sie umstoßen.

 

3. Schutz

Das Aufreißen der Wunde namens Krieg in Europa vergrößert die politische Sehnsucht nach Schutz. Der von Europa abrückende Fokus der USA vergrößert die Dringlichkeit. Deshalb gehört ins Zentrum eines neuen Sicherheitsnarrativs ein Schutzversprechen, basierend auf Kriegsvermeidung durch glaubwürdige Abschreckung, ein in Ost wie West gelerntes und bewährtes Konzept. Schutz durch Abschreckung hilft aus ängstlicher Apathie heraus, indem er im Sinne der Selbstwirksamkeit eigene Fähigkeiten gegen Kriegsgefahr mobilisiert.

 

4. Stärken

Glaubwürdig ist ein Sicherheits- und Schutznarrativ dann, wenn man den eigenen Streitkräften Verteidigung und Abschreckung auch zutraut. Im aktuell apathisch-selbstzweifelnden Deutschland keine Selbstverständlichkeit. Als glaubwürdiger Vertrauensanker taugt das Vertrauen in die technologischen Stärken eigener Militärtechnik. Aber auch die überlegene Attraktivität des geschützten Lebens in einer rechtsstaatlichen Ordnung stärkt im Wettbewerb mit Autokratien.

 

5. Gemeinschaft

Statt der Delegierung von Verteidigungsfähigkeit nach außen an die USA braucht es einen neuen Konsens nach innen, dass Sicherheit und Schutz stets das Ergebnis einer gesellschaftlichen Großanstrengung sind. Deutschland kann nicht nur Sicherheit, sondern auch Zusammenhalt gewinnen, sobald es den Schutz des freien Lebens seiner Menschen als verbindende Aufgabe begreift und organisiert.

 

 

Kommunikation nach einer Zeitenwende braucht beides: die Dekonstruktion eines Narrativs, das genau diese Wende negiert. Und ein Erzählmuster, das, aufbauend auf gelernten Überzeugungen und Erfahrungen, ein neues Ziel und den Weg dorthin formuliert. Ein neues Sicherheitsnarrativ kann die Bereitschaft, unbequeme Tatsachen ernst zu nehmen, nicht ersetzen; aber es kann politische Führung erleichtern und zum erforderlichen Rückhalt beitragen.

Mittwoch, 14. Februar 2024

Peace! Gedanken zu den Perspektiven des Genderns ohne Polarisierungsabsicht

Den Kerngedanken des Gender Mainstreamings beschreibt das BMFSFJ auf seiner Website damit, dass es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gebe. Und deshalb die unterschiedlichen Auswirkungen politischer Entscheidungen auf die Geschlechter „grundsätzlich und systematisch“ zu berücksichtigen sind. Und dass die UN-Weltfrauenkonferenz 95 den Begriff etabliert habe. Konsequenz: ohne geschlechtsneutrale Wirklichkeit auch keine solche Sprache mehr.

Aus Sicht des ergrauten Sprachpraktikers fing die harte Zeit für das generische Maskulinum tatsächlich Ende der 90er an. Mit dem Argument, dass Frauen in männlichen Formulierungen nicht mehr nur „mitgemeint“ sein wollen, setzte sich eine self fulfilling Prophecy in Gang: Je mehr in der Praxis die Doppelnennung von männlichen und weiblichen Formulierungen zum Standard wurden, desto ausschließender wirkten Sätze in der rein männlichen Form.

Assoziierte man früher das Aufzählen beider Geschlechter mit dem weggenuschelten „Genossinnen und Genossen“ von Erich Honecker und verwendete es nur in sehr förmlicher Kommunikation (Sehr geehrte Damen und Herren“), wirken seitdem Begriffe wie Arzt oder Politiker immer mehr so, als seien nur die männlichen Exemplare gemeint.

Wer heute Mitte 30 ist oder jünger, ist mit der häufigen Doppelnennung beider Geschlechter aufgewachsen. Was gut erklärt, dass diese Generation heute viel Gender-freudiger spricht und schreibt als Ältere, die noch vom generischen Maskulinum geprägt sind und deshalb bei ihm weniger Störgefühle entwickeln.  

Schon diese Entwicklung führte die Sprachpraxis weg von der offiziellen Orthographie. Denn die hält es bis heute für ein unglückliches Missverständnis, das grammatische Geschlecht mit dem biologischen gleichzusetzen. Aber weder der Hinweis auf die offizielle Lehre noch viele Beispiele von eindeutig weiblichen Wesen, die in unserer Sprache mit einem grammatisch männlichen oder neutralen Begriff bezeichnet werden, hilft ihr bei der Rehabilitation des generischen Maskulinums.

Zwei Gründe führten in der Folge zum Einsatz von Gender-Sonderzeichen: Die Sprachökonomie, schlicht weil die Doppelbezeichnungen zur erheblichen Satzverlängerung beitrugen - in einer Welt mit immer kürzeren Kommunikationsformen wurden Einwort-Bezeichnungen etwa für Berufe oder Staatsangehörigkeiten dringend gesucht. Und ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass die Doppelnennung noch immer die nicht binären Geschlechtsidentitäten ausblendet. Also ein neues Problem der sprachlichen Nicht-Repräsentation schafft.

Damit entstanden mehrere neue Probleme: Stilistisch sind die Sternchen und ihre Verwandten für keine Textform ein Gewinn. Es lassen sich leicht Beispielsätze formulieren, in denen mehrere Berufsbezeichnungen oder Nationalitäten auftauchen und die grauenhaft bürokratisch entseelt wirken, obwohl sie doch von Menschen handeln und ihnen „inklusiv“ zugewandt sein wollen. Erst recht bei Komposita wie „Beamt*innenanwärter*innen“ - puh! Zudem erforderten sie eine neue Sprechweise. Und es funktioniert nicht immer, gendert man „Franzosen“ mit o oder ö?

Aber vielleicht wiegt schwerer, dass Gender-Sonderzeichen in verschiedenen Teilen der Gesellschaft heute völlig unterschiedliche Wirkung auslösen und zum Symbol der Trennung von „Woken“ und „Normalen“ wurden.

Das Ergebnis dieser Vorgeschichte ist heute Verwirrung. Der Autor dieser Zeilen räumt häufigere Ratlosigkeit ein, in welcher Situation er wie sprechen oder schreiben soll. Kommunikation hat doch sowohl im professionellen wie im privaten Raum meist den Zweck, Menschen durch Austausch von Information und Meinung zu verbinden. Solange aber Sprachwahrnehmung von der Schubladisierung „gegendert“ oder „nicht gegendert“ überschattet wird, lässt sich kaum ein Satz sprechen, der nicht Teilen der Zuhörerschaft auf die Füße tritt.

Dabei ist diese vertrackte Situation entstanden, obwohl niemand etwas falsch gemacht hätte oder Übles im Schilde führte. Das Bedürfnis nach sprachlicher Repräsentanz ist ebensowenig kritisierbar wie der Wille, gemäß verbindender Regeln und Konvention ein stilistisch ansprechendes, flüssiges Deutsch zu sprechen und zu schreiben.

Leicht haben es nur die Menschen an beiden Polen der Debatte in ihren Bubbles: Wer konsequent am generischen Maskulinum festhält, hat - entsprechendes Publikum vorausgesetzt - keine Probleme, ansprechende, kurze und regelkonforme Sätze zu produzieren. Wer die Gender-Sonderzeichen-Sprechweise in die alltägliche Selbstverständlichkeit übernommen hat, vermeidet  im eigenen Umfeld jeden Normverstoß und bekundet seine Zugehörigkeit zum inklusiv tickenden Teil der Welt einfach nur durch persönliche Sprachpraxis.

Das Problem haben aber alle anderen: alle mit dem Anspruch, in möglichst allen Teilen der Gesellschaft verstanden zu werden. Und das sind viele - in Politik, Wirtschaft und auch in der Werbung. Also alle, die professionelle Massenkommunikation betreiben. Aber auch all jene, deren private Lebenswelt sowohl Menschen mit ausgeprägter Gendersensibilität wie auch Praktizierende der überkommenen Sprachkonventionen umfasst. (Damit ist der Autor schon doppelt betroffen und somit doppelt ratlos).

Die deutschsprachigen Nachrichtenagenturen haben für unsereins bereits vor drei Jahren eine Arbeitshilfe für ihre Beschäftigten veröffentlicht, die auch anderen massenmedial Tätigen hilft. (Link) Grundgedanke: Solange sich keine Sonderzeichen-Lösung wirklich breit etabliert, bitte das generische Maskulinum durch Doppelnennung oder andere trickreiche Umwege vermeiden. (Wie in diesem Text).

Alle geschilderten Widersprüche auflösen kann und will das allerdings nicht. Semantisch wären  schnell Grenzen überschritten, sobald nicht nur von Studierenden und Mitarbeitenden, sondern auf von Richtenden und Staatsanwaltenden die Rede wäre. Auch die Verarztenden hat (im Gegensatz zu den unsäglichen Gästinnen) noch niemand erfunden. Aber der Bedarf nach Ein-Wort-Bezeichnungen wird groß bleiben und sich seinen Weg bahnen.

Schön ausgedacht sind Versuche, neue, aber kompakte Formen von geschlechtsübergreifenden Formulierungen wie Professx“ (gesprochen: Professiks). Aber mal ehrlich - hat das Erfolgsaussichten, und wäre es wirklich stilistisch ein Fortschritt?

Ebenso hypothetisch ist wohl ein anderer Traum: Eine gesellschaftliche Verständigung auf die gute, alte grammatikalische Tatsache, Geschlecht und Geschlecht nicht gleichzusetzen. Die  Praxis des generischen Maskulinums hatte nicht nur sprachökonomische und ästhetische Vorteile - sie hat, richtig aufgefasst, auch nicht binäre Identitäten eingeschlossen (vermutlich ohne sich dessen bewusst zu sein).

Dennoch mag die Hoffnung auf ein Wiederentdecken seiner Vorteile nicht recht gedeihen. Weil 25 Jahre intensiver Verwendung der Doppelnennung die Wahrnehmung verstärkt haben, dass es sich beim Chef wie beim Mitarbeiter, beim Franzosen wie beim Kunden vermutlich um männliche Lebensformen handelt. Und weil gesellschaftliche Großkonflikte wie die um das Gendern selten mit dem umfassenden Sieg einer Seite enden.

Aus der täglichen Schreibpraxis noch eine Selbstbeobachtung: Das permanente Vermeiden von „Gender-pflichtigen“ Formulierungen, wie es die Nachrichtenagenturen empfehlen, ist eine durchaus schwierige Lösung - kostet viel Aufmerksamkeit und vor allem stilistischen Freiraum, weil viele Formulierungsoptionen wegfallen. Zudem lässt sich bezweifeln, ob Studierende wirklich das gleiche sind wie Studenten oder -innen; die auf eine Tätigkeit verengende Verlaufsform tut fast so, als wenn man diese bunte und wertvolle Lebensphase ausschließlich beflissen in der Unibibliothek absitzt. Am Ende bleiben wieder viele Doppelnennungen, wider das Bedürfnis nach prägnanter Knappheit.

Deshalb bringt vielleicht auch hier der Mittelweg den Tod. Wieder eine ehrenhafte Idee ohne gutes Ergebnis. Aber es ist ja auch als eine Art Brückentechnologie gedacht.

Deshalb bleibt nur pragmatische Deeskalation:

  1. Gegenseitige Vorwürfe sind völlig fehl am Platz. Weder haben diejenigen, die das Gendern (mit und ohne Sonderzeichen) aufgebracht haben, finstere Motive verfolgt. Noch tun es diejenigen, die sich nach Abwägung von Pro und Contra anders entscheiden. Beide treiben respektable Motive.
  2. Politische Initiativen für „Genderverbote“ sind hingegen sichtlich anbiedernd motiviert. Ebenso unlegitimiert wie Punktabzüge für Nichtgendernde an Hochschulen, die ebenfalls Freiheit beschneiden.
  3. Es ist noch keine Lösung absehbar, die sich vollständig durchsetzt. Sagt sich leicht, aber eigentlich ist es mehr als bemerkenswert, da sich unsere Sprache auf längere Zeit faktisch einer klaren Normierung entziehen wird.
  4. Deshalb sollten wir das Nebeneinander lieben lernen. Ist besser für den Blutdruck und für das Miteinander. Den Promotern des Genderns liegt sicher nicht an noch mehr gesellschaftlicher Spaltung. Und die Fans der offiziellen Orthographie wollen damit nicht Geringschätzung gegenüber weiblichen oder diversen Personen bekunden.
  5. Soweit sich Genderneigung altersbedingt unterscheidet, entspannt zudem die Erinnerung, wie normal schon immer unterschiedliche Sprachgewohnheiten zwischen den Generationen waren.
  6. Erfolgsvoraussetzung: Wir nehmen es nicht zu wichtig. Wir denken beim Sprechen und Schreiben vor allem an Inhalt und Verständlichkeit. Und interpretieren Gendern oder Nichtgendern nicht als Differenzierungsmarken von Gruppenzugehörigkeit oder von ethisch-normativen Gut-Böse-Clustern.



Freitag, 12. Januar 2024

Ratlos gegen rechts ins Superwahljährchen?

Das konservative Dreierlei und drei Vorschläge nach vorn

Verkehrte Welt. Wer seine politische Biographie im rot-grün-rebellischen Geist gegen Aufrüstung, US-Imperialismus und ererbte Russlandfeindlichkeit gestartet hat, muss sich permanent schütteln. Denn seitdem Russland militärische Aggression als einen blutig-manifesten Faktor europäischer Machtpolitik wiederbelebt hat, bleibt einem keine andere Wahl, als alte Affekte zu bändigen.

Es sei denn, man bleibt ihnen „treu“ und ignoriert die Konsequenzen, die der Verzicht auf militärische Gegenwehr hätte - noch mehr Gewalt durch einen in seiner Strategie bestärkten Gewaltstaat.  

Wenn es früher einen Begriff gab, dem sich alle Linken trotz ihrer Differenzen verbunden fühlten, dann den des Fortschritts. Also den grundsätzlichen Zug der Geschichte, menschliche Gesellschaften in Richtung Gleichberechtigung und Gerechtigkeit, Wohlstand und friedliche Konfliktlösung fließen zu lassen, in den meisten Epochen verbunden mit einem optimistischen Verständnis von wissenschaftlich-technischen Entwicklungen.

Und nun: Extremisten erfreuen sich demoskopischer Zustimmung in bisher unbekannten Dimensionen, verdrängen in wichtigen Demokratien bürgerliche Parteien und drohen nun mit der Zerstörung der ältesten und mächtigsten Demokratie des Planeten. Auch hierzulande wirkt Mitte-Links ebenso ratlos gegen rechts wie die Union. In ostdeutschen Ländern scheint die Bildung parlamentarischer Mehrheiten gegen die Apologeten Putins und Propagandisten niederster menschlicher Instinkte immer schwerer.

Dazu kommt eine Talkshowkönigin mit einem Angebot für jene, die linke Umverteilungsträume mit antiwestlichem Revisionismus verknüpfen wollen. Wer bis in die Mitte des politischen Spektrums hinein johlende Zustimmung provozieren will, muss nur in den Wettbewerb um die hässlichste Attacke auf grüne Spitzenpolitiker eintreten.

Das alles zwingt die demokratische Linke in eine ungewohnte Position: Statt, wie über mehr als 150 Jahre gelernt, für gesellschaftlichen Fortschritt, also Veränderung in Richtung einer besseren  Zukunft einzustehen, ist sie heute eine konservativ-bewahrende Kraft. Rot und Grün werden in die Rolle gedrängt, gegen starken Widerstand die repräsentative Demokratie und Westbindung zu verteidigen.

Auch der gute alte Konservatismus hat es nicht leicht. Sichtbar am Niedergang der zentristischen Parteien in großen Teilen Europas und den USA. Aber auch an der mühsamen Suche der hiesigen Union, klar und abgrenzend zu beschreiben, welche Werte denn ihre Gemeinschaft verbinden und welche Positionen nicht hineinpassen.

Dass sie noch nie Programmparteien waren, hat CDU und CSU in der Vergangenheit nicht geschadet. Seitdem aber die Treue zum klassischen Familienbild mit überkommenen Geschlechterrollen, kirchliche Wurzeln und im Zweifel der Vorrang von Wachstums- gegenüber Umweltzielen nicht mehr als Kit taugen, leidet auch die Union unter der Zersplitterung der gesellschaftlichen Mitte. Also an der Not, zugleich ihre alte, kleinstädtisch-kulturkonservative Kernklientel und das moderne, eher urbane, liberal-weltoffene Bürgertum zu erreichen. Sichtbar am Bemühen des Partei- und Fraktionsvorsitzenden, den Sauerlandismus als CDU-Leitmeldodie auch in Berlin, Schleswig-Holstein und den anderen Teilen NRWs durchzusetzen.

Eine Wurzel dieses Problems: Auch der aufstrebende Rechtspopulismus spricht konservative Bedürfnisse an, die aber mit dem staatstragendem Konservatismus der Union kollidieren. Die Überforderung vieler durch permanenten Innovationsdruck, nagende Krisen und den Verlust von Gewissheiten hat antimoderne Abwehrreflexe zu einem gewichtigen politischen Faktor wachsen lassen. Im schnell gewachsenen Reservoir von AfD-Wahlwilligen geht die Abneigung gegen Wärmepumpen, Schwulenpartys, Migranten und globalisierten Kapitalismus so weit, dass die Hemmschwellen zum umstürzlerischen Rechtsextremismus flugs verdampft sind.

So zeigt die politische Landschaft aktuell schwere Schlagseite: Einen breiten Wettbewerb um den besten Konservatismus.

Alle wollen bewahren und schützen. Alle suchen als Reaktion auf Verunsicherung und Segmentierung der Wählerschaft ihr Heil im Versprechen, den Status quo so gut wie möglich zu bewahren. Nur dass die rechtspopulistische Öffentlichkeit darunter die „gute“ alte Zeit von reinrassiger Recht-und-Ordnung-Welt plus Ewigkeitsgarantie für Verbrenner versteht, die rot-grüne Szene einen defensiv-trotzigen Verfassungspatriotismus („Wir standen schon immer auf der richtigen Seite der Geschichte“) und die demokratisch-konservative Welt solide Staatstreue mit einer Portion wehmütiger Erinnerung an Ludwig Erhard und Dalli Dalli.

Nun könnte man dieses konservierende Dreierlei als eine blöde Verirrung der politischen Ideengeschichte abhaken. Aber die Lücke, die sie hinterlässt, hat Folgen: Es fehlt ein Politikangebot „nach vorne“. Und damit eine Idee von der Zukunft, die mit mehr lockt als möglichst wenig Verlust. Verlust an Wohlstand, Status und Rente, belebter Umwelt, Werten, Hausärzten und Busverkehrstakt.

Während die Soziologie beschreibt, wie persönliche Verunsicherung und Verlust an gefühlter Selbstwirksamkeit die Kohäsion in der Mitte der Gesellschaft zerstört, ist das Versprechen der demokratischen Politikanbieter, die Verluste an Lebenschancen zu begrenzen? Klingt nicht nach einem entschlossenen Konter. Und führt, etwa am Beispiel der SPD, dazu, dass man sich selbst bei der Bedeutungserosion zuschaut, dies aber in wohliger Selbstversicherung, dem Kernversprechen von „abfedernder“ Sozialpolitik auch im großen Wandel treu geblieben zu sein. Schließlich durfte man doch den Kanzler stellen nach einem Wahlkampf, dessen sichtbare Versprechen sich in mehr Mindestlohn und stabiler Rente erschöpften.

Dabei blickt der treueste Teil ihrer Wählerschaft den letzten drei oder vier Bundestagswahlen seines Lebens entgegen, während die Jungwähler sich immer offener für harten Rechtsextremismus zeigen. Es ist nicht mehr Opa, der stolz vom großen Krieg erzählt, es sind viele Junge, die sich von Autokraten Heil versprechen.

Die FES erhebt im Zweijahresrhythmus die Verbreitung rechtsextremer Positionen in Deutschland (Link). Der Anteil der Menschen mit klarer Abgrenzung gegen Rechtsaußen ist zuletzt, nach vielen Jahren großer Stabilität, von 86,2 auf 71,6% geschrumpft. Jüngere bis 34 Jahre  pflegen nun fast dreimal häufiger ein geschlossen rechtsextremes Weltbild als Ältere über 65. Nicht nur harter Rechtsextremismus hat stark zugelegt; auch das, was die FES Graubereich nennt, also Offenheit für mehrere Aspekte von Rechtsextremismus, hat sich fast verdoppelt.

Die programmatisch-defensive Erstarrung der ehemals “progressiven“ Mitte-Links-Parteien fällt zusammen mit dem Verlust des Generalkonsenses für Demokratie und ihre Institutionen. Während die Rechten die Grenzen des Sagbaren immer weiter verschieben und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit aus den Schmuddelecken des Parteienspektrums in den Alltagsdiskurs eindringt, kontert der traditionell stärkste Kern der Antifaschisten mit nichts mehr als Schadensbegrenzung gegenüber den Veränderungen, die über uns schicksalhaft hinweg rollen. Repräsentiert durch eine Bundeskanzlerkommunikation, die von Gestaltungsfreude und Zukunftsideen so weit weg ist wie Arminia Bielefeld von der Champions League.

Lag Ralf Dahrendorf mit seiner Analyse vielleicht doch richtig, dass sich die Sozialdemokratie zu Tode gesiegt hat und nach Bildungsaufstieg sowie breiter Emanzipation von Arbeiterschaft und Frauen keine neuen Visionen zu erobern sind? Hat sie vielleicht wie die Union massive Probleme, eine zeitgemäße Rolle für sich selbst zu definieren, die über die nostalgisch warme Erinnerung an ehemals klare Fronten nach außen und Schulterschluss im Inneren hinaus gehen?

Es wäre eher ein Wunder, wenn es anders wäre. Die SPD entstand in einer Zeit, in der nationalistischer Kolonialismus, wie ihn heute Putin wiederbelebt, zum selbstverständlichen politischen Kanon aller europäischen Nationen zählte. Als Frauen wenig galten, Arbeiter systematisch ausgebeutet wurden und Adel und Kirchen den autoritären Ton angaben. Und wie in allen Parteien (und anderen Vereinen) erhalten intern stets jene den meisten Applaus, die an die Vorbilder der Altvorderen erinnern. Parteien verfügen über einen Automatismus, stets die Treue zu den Wurzeln zu feiern, statt das unentdeckte Land der Veränderung zu suchen. Vor diesem Hintergrund ist die SPD noch recht erfolgreich gealtert.

Aber nicht nur historisierende Beharrung steht einer positiven linken Vision für das 21. Jahrhundert im Weg. Auch der Ampel-Alltag erdrückt. Wenn die Dauerkrise das beherrschende Merkmal der Gegenwart ist, reduziert sich Politik auf ihre Eindämmung. Und hier blockiert die Mechanik der Ampel den sozialdemokratischen Lösungsweg. Seit Mario Draghi der Weltfinanzkrise mit seinem „whatever it takes“ die schärfsten Zähne zog, indem er mit massiven öffentlichen Mitteln drohte, um den Finanzmärkten die Lust an Weltuntergangsspekulation auf den Euro zu nehmen, stand dieser selbstbewusste Umgang mit öffentlichen Riesensummen auch bei Pandemie und Krieg im Zentrum des Scholz’schen Krisenmanagements..

Dieser Mechanismus kollidiert mit dem festgetackerten Mantra der Bundesfinanzministerpartei. Das Ergebnis, massiv verschärft durch Karlsruhe, ist eine Bundesregierung, die ihre schulterzuckende Ratlosigkeit auch öffentlich nicht verbergen kann. Damit steigen die Sorgen vieler, den Verschlechterungen schutzlos ausgeliefert zu sein. So trägt die Koalitionsverkantung zum größten Problem bei - zur Verunsicherung der den Krisen ausgesetzten Öffentlichkeit und zur Bestätigung des „es wird alles immer schlimmer“-Schnacks.

Nun wäre das ein überschaubares Problem, wenn die demokratische Opposition auf Grundlage wachsender Zustimmung für  ihre Alternativkonzepte die Regierungsübernahme vorbereiten könnte, um dann zu beweisen, dass „sie es besser kann“. Doch weder verfügt die Union über ein Gegenkonzept noch über Köpfe, die bei der Mehrheit optimistische Wechselstimmung auslösen. Im demoskopischen Persönlichkeitsranking ist die Anzahl der Spitzenpolitiker, die im Durchschnitt positiv bewertet werden, auf 1 oder 2 von 10 geschrumpft. Keineswegs schneidet die Opposition grundsätzlich besser ab als die Koalition. Die Bevölkerungsmehrheit zeigt sich zutiefst unzufrieden mit der Regierungsmehrheit, setzt zugleich aber kaum Hoffnungen auf einen demokratischen Machtwechsel.

Damit hat die repräsentative Demokratie ein echtes Legitimationsproblem. Und das zu Beginn eines „Superwahljährchens“ mit der Europawahl als traditioneller Bühne für Proteststimmen und drei Landtagswahlen mit der Poleposition für Rechtsextreme.

Höchste Zeit für neue Kommunikation der Demokraten. Nur wenn dem Wahlvolk politische Angebote vermittelt werden, die eine Neubewertung ihrer Macher anstoßen, kann Deutschland die Kurve kriegen und repräsentative Demokratie wieder greifen. Also der Wettbewerb jener Köpfe, denen man die Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten am ehesten zutraut - statt der Verzwergung von Parlamentswahlen zur Volksabstimmung über das gerade hotteste Aufregerthema.

Dazu drei Vorschläge:

1. Den Rechten den Nimbus des Erhaltenden streitig machen

Wer die EU attackiert, vernichtet die wichtigste wirtschaftliche Basis Deutschlands. Und die einzige Chance, als Mittelmacht weiter weltweit Einfluss zu nehmen. Wer Menschen nach Hautfarbe, Herkunft oder anderen willkürlich gewählten Merkmalen in ihrer Wertigkeit sortiert, vernichtet mit dem Menschenbild des Grundgesetzes die Grundlage unseres Zusammenlebens. Wer sich weigert, Klimawandel zu bekämpfen, schafft unvorstellbare Fluchtbewegungen und zerstört auch hierzulande Lebensgrundlagen. Wer Putins Russland mit dem Westen gleichsetzt und Deutschland außen- wie sicherheitspolitisch genau dazwischen positionieren will, entzieht unser Land der Wertegemeinschaft von Nationen, denen Demokratie, Gewaltenteilung, Rechtsstaat und individuelle Freiheitsrechte heilig sind. Und wer rhetorisch immer wieder die Lust am Umsturz kitzelt und völkische Staatsfeinde hofiert, bedroht inneren Frieden, zivilisiertes Zusammenleben und persönliche Sicherheit.

Die Folgen einer AfD-Mehrheit wären das Gegenteil von bewahrend. Nicht der Erhalt von als schützenswert erachteten Lebensmodellen in Abgrenzung zu „woken“ Besserwissern wäre das Ergebnis. Sondern das Ende all dessen, was unser Land in seiner Vielfalt zusammenhält, wirtschaftlich stark macht und gute Lebenschancen für jede und jeden Einzelnen bietet.

Wir sollten endlich aufhören, uns auf die diskreditierende Wirkung des Attributs „rechtsextrem“ zu verlassen, wo es um die AfD geht. Und stattdessen klar und deutlich aussprechen, was ganz real die zerstörerische Wirkung von AfD-Politik wäre.

Und wir sollten aufhören, die Themen der Debatte von der AfD diktieren zu lassen. Den Wettbewerb um die strikteste Zuwanderungskontrolle werden immer die anderen gewinnen. Stattdessen ist es unsere Pflicht, eigene Themen zu setzen und unsere Stärken auszuspielen.


2. Eine neue Fortschrittserzählung etablieren

So wertvoll für Parteien gemeinsame Wurzeln im Inneren sind - gewählt werden sie für glaubwürdige und attraktive Zukunftspläne. Deshalb gehört die Leidensform ersetzt, mit der Rote und Grüne bisher die Geschichte von Transformation und Dekarbonisierung erzählen. Nämlich als Schicksal, das über die Welt kommt und dessen Folgen so gut wie möglich zu mindern sind.

In der Loslösung von fossilen Energiequellen liegt eine große Befreiungsgeschichte verborgen. Warum nur erzählt sie keiner?

Sobald wir uns freischwimmen von Kohle, Öl und Gas und unsere Energie nicht mehr „verbraucht“, sondern schadlos jeden Tag aufs Neue erzeugt wird, macht das eine neues Level von Wohlstand möglich. Eine Gesellschaft auf Grundlage erneuerbarer Energiequellen und nachwachsender Ressourcen kann sich freimachen von den „Grenzen des Wachstums“, die am Beginn des technologiekritischen Zukunftspessimismus Anfang der 70 angemahnt wurden. Sie kann reisen und heizen, bauen und produzieren, ohne die Abhängigkeit von Rohstoffdiktatoren zu vergrößern oder Lebensräume verdorren zu lassen.

Und sie befreit sich vom Automatismus begrenzt vorhandener Güter (wie Öl), auf Sicht zwangsläufig teurer zu werden. Stattdessen wird der Preis erneuerbar erzeugter Energie mit dem Ausbau ihrer Kapazitäten weiter sinken. Dekarbonisierung ermöglicht erstmals in der Wirtschaftsgeschichte dauerhaft sinkende variable Energiekosten. Was für eine Chance für Deutschland, vorn dabei zu sein!

Die Transformation lässt sich als große Chancengeschichte erzählen. Damit verschwinden nicht die Hürden auf dem Weg dahin. Aber sie wird zur politisch attraktiven Vision statt, wie heute, zum miesmuffeligen Abwehrkampf rund um Verzichtsappelle. Zu einer Vision, die wirtschaftliche Chancen wie persönliche Freiheiten vergrößert.


3. Repräsentationsbedürfnisse ernst nehmen

Zum Kontern der Rechten gehört auch, die legitimen unter den Anforderungen ihrer Wählerschaft zu identifizieren und ein Angebot für sie zu formulieren. Kern dieses Angebots muss es sein, echten Respekt und Rückendeckung für ihre Vorstellungen von Zusammenleben und Gemeinschaft zu vermitteln, ohne sie gegen andere Vorstellungen auszuspielen.

Basis der gefühlten Ausgrenzung ist die Wahrnehmung vieler, vergessen oder geringgeschätzt zu sein, obwohl sie sich als Mittelpunkt von Normalität erleben. Wer vom Eindruck geprägt ist, von der neuen gesellschaftlichen Elite für eine aussterbende Gattung gehalten zu werden, aber eigentlich mit seiner Leistung den Laden am Laufen zu halten, verliert den Glauben an „das System“ und „die da oben“.

Diese Repräsentationslücke ist allein programmatisch nicht zu füllen, sie beruht im Kern auf kulturellen Bruchlinien. Nur so konnte Gendern zu einem Leuchtturm der erlebten  gesellschaftlichen Spaltung werden: Obwohl faktisch die große Mehrheit ihre Sprachgewohnheiten nicht verändert hat und sie somit die Sprachwirklichkeit unverändert dominiert, fühlt sich ein Teil dieser Mehrheit in seiner verbalen Souveränität bedrängt oder zurückgesetzt.

Niemand könnte glaubwürdig das große Revival der homogenen unteren Mittelschicht versprechen, wie sie in den 70er-Jahren kulturell dominiert hat. Aber die politische Welt, inklusive der Roten und Grünen, könnte doch anerkennen, dass dieser Teil der Mitte weiter zahlreich ist und einen Anspruch auf demokratische Vertretung hat. Was zu einer geradezu banalen Antwort führt: Typen ins Rennen schicken, die zumindest die Möglichkeit in sich tragen, als „eine oder einer von uns“ durchzugehen.

Der demoskopische Senkrechtstarter des letzten Jahres kann hier Mut machen: Der Verteidigungsminister war allein wegen seiner kommunikativen Selbstverständlichkeit der Shooting Star (hö) in den Beliebtheitscharts. In einfachen Worten zu sagen, was ist, und dann konkrete Lösungen anzugehen, wird auch dann noch belohnt, wenn es ein Sozialdemokrat tut. Einer, dem man zutraut, früher auch mal selbst bei seinem Käfer oder Wartburg die Zündung eingestellt zu haben und sich als Ortsvorsteher mit natürlicher Autorität zwischen Schweinemästern und Windbauern durchzusetzen, wird von vielen deutlich eher für voll genommen als Kandidierende, die spürbar über Jahrzehnte geschliffen wurden zwischen den Empfindlichkeiten aller innerparteilichen Anspruchsgruppen und den lebensfernen Codes der Ministerialbürokratie.

Mehr Bühne für Leute wie Laumann und Reul, Pistorius, Rehlinger, Ramelow oder auch Hofreiter - und die repräsentative Demokratie würde auf das Repräsentationsdefizit eines wichtigen Teils der Gesellschaft mit ihrer Kernkompetenz antworten: Köpfe anbieten, die nicht nur für eine fachpolitische Einzelfrage stehen, sondern denen man zutraut, „einer von hier“ zu sein und das schon vernünftig zu machen in diesem verrückten Politikbetrieb.

 



Dienstag, 31. Oktober 2023

Wortfindungsstörungen und der Äquidistanz-Reflex

Wie geht Kommunikation über Hamas, Palästina und Israel?
 
Über den Westfälischen Frieden sagt man, es sei ein Schlüssel zum Erfolg gewesen, nicht über Dinge zu streiten, über die man nicht streiten kann. In dem Fall über religiöse "Wahrheit". Zwar war Religion einer der Auslöser des Krieges. Aber es war völlig klar, dass da keine Einigkeit und auch kein Kompromiss denkbar war. Frieden geht nur, wenn man ausschließlich über Dinge spricht, bei denen Kompromisse zumindest theoretisch möglich sind.
 
Der einzig lohnende Streit ist der um eine Lösung. Und dazu gehört Klarheit gegen Fake News. Wo die schiere Unwahrheit Gewicht in einer argumentativ abwägenden Auseinandersetzung beansprucht, kann keine realitätstaugliche Lösung entstehen.
 
Gerade feierte die Wissenschaftsgeschichte den 1050sten Geburtstag des muslimischen Universalgelehrten al-Biruni, der als Vordenker des Prinzips der Falsifikation gilt, also des Wissensgewinns durch Identifikation widerlegbarer Thesen. Erst viele Jahrhunderte später erkannte auch das Abendland die fundamentalen Chancen durch systematischen Umgang mit an der Realität gescheiterten Behauptungen.
 
Es bringt Ordnung in den Kopf, die Themen, über die man sich wunderbar streiten kann, zu trennen von denen, bei denen der Blick auf die Realität die Fragen löst, Streit also einfach unsinnig ist.
 
Aktuell ist diese Ordnung in den Köpfen überall dort ein knappes Gut, wo die richtigen Worte zu Israel, Hamas, Gaza und den Rechten von Palästinensern gesucht werden. Vielleicht besonders in Deutschland. Also versuchen wir es mit der Trennung von streittauglich und nicht.
 
Auch deshalb, weil jeder Versuch, legitime Kontroversen mit staatstragenden Selbstverständlichkeitsfloskeln zu übertünchen, nach hinten losgeht. Sobald Solidarität mit Israel zum reinen, nicht begründungsbedürftigen Axiom entseelt wird, löst es gern das Gegenteil der beabsichtigten Wirkung aus, weil es vielen als Einladung zum „warum eigentlich?“ gilt.
 
Für einen lebendigen Diskurs bleibt – auch beim Thema Palästina – Debattenspielraum wertvoll. Ansonsten würde man großen Teilen der Gesellschaft das übereinander statt miteinander Reden verordnen.
 
Streiten kann man hervorragend darüber, wie eine dauerhafte Friedensordnung aussehen könnte. Inkl. Siedlungspolitik, Autonomie, internationale Garantien, Ost-Jerusalem, vieles mehr. Ein wunderbar großer Raum von legitimer Kontroverse.
 
Und dann kommen schon jede Menge Fragen, die nach einmal Nachdenken keine sind:
 

  • Dass beide Seiten ihr Recht auf einen eigenen Staat haben. Wie es die UN schon bei der Gründung Israels vorgesehen hatte, bevor die arabischen Nachbarstaaten Israel am Tag seiner Unabhängigkeit angriffen.
  • Dass keine der beiden Seiten die physische Existenz der anderen bedrohen darf.
  • Dass keine Seite der anderen religiös oder sonstwie prinzipiell überlegen ist.
  • Dass Deutschland dem Staat Israel besonders verbunden ist, weil es durch seinen Millionenmord erheblich dazu beigetragen hat, dass Jüdinnen und Juden persönliche Sicherheit in einem eigenen Staat gesucht haben.
  • Dass Hamas eine Terrororganisation ist, die kein Interesse an Frieden hat.
  • Und dass mit dem Iran ein Regime in Palästina zündelt, dem Menschenrechte und Freiheit nichts gelten und das mit seiner Interpretation des Islam sowohl andere Muslime als auch anders Religiöse verdrängen will.

 
Heute wie 1648 ist Frieden nur möglich, wenn sich politische und militärische Mächte nicht als Diener einer Religion verstehen, um die gesamte Welt zu unterwerfen. Die Geschichte ist voll von Beispielen, wo auf der Grundlage dieser Erkenntnis ein friedliches Nebeneinander von Religionen und der ihnen verbundenen Ethnien gelungen ist. Gerade in muslimisch dominierten Kulturen. Umso eindeutiger ist es die Pflicht der zivilisierten Welt, sich jedem Versuch entgegenzustellen, irgendeine Vision vom Reich irgendeines Gottes mit Gewalt auf der Erde zu errichten.
 
Widerspruch verdient aber auch jeder Versuch, die Taten vom 7. Oktober als Ausdruck des palästinensischen Widerstands einzuordnen. Von Widerstand ließe sich sprechen, wenn in einem besetzten Territorium Besatzer verdrängt werden würden. Nichts dergleichen hat Hamas versucht, eben das kennzeichnet Terrorismus: Tausende von Menschen grausam zu massakrieren (einschließlich Moslems) und damit einen Krieg gegen einen militärisch überlegenen Staat zu entfesseln, stärkt in keiner Weise die Freiheit von Palästinensern, es tötet sie nur. Ob der 11. September oder der 7. Oktober - Terrorismus inszeniert Massenmord an Unbeteiligten, um Hass zu schüren und friedliches Miteinander unmöglich zu machen.
 
Die Hamas zwingt Millionen von Menschen in Gaza in einen Krieg, in dem sie zu nichts anderem ausersehen sind, denn als Opfer vor den Kameras der Welt. Ein Krieg mit dem Ziel, arabischen Herrschern den Weg zu einer friedlichen Annäherung an Israel zu verstellen. Hamas vernichtet Lebenschancen von Palästinensern. Sie betreibt das Gegenteil von Widerstand im Sinne der Palästinenser. Sie will blockieren, was der einzige Weg für ein gedeihendes Palästina wäre, nämlich eine geordnete Zweistaaten-Nachbarschaft.
 
Die fälschliche Gleichsetzung von Terror mit Widerstand führt bei uns viele in die beliebte Äquidistanz-Falle: Wir dürfen nicht nur auf einer Seite stehen, beide haben Fehler gemacht, deshalb müssen beide der Gegenseite entgegenkommen. Das Muster kennen wir aus der Russland-Ukraine-Debatte. Mit der Wagenknecht-Partei bekommt der Äquidistanz-Reflex nun eine wortreiche zusätzliche Stimme.
 
Diese Denkweise beruft sich gern auf das Rechtsprinzip „audiatur et altera pars“. Aber in Sachen Gaza wie anderswo führt das vermeintlich faire beiden-Seiten-Zuhören gern mal in die Irre, sobald nach dem Zuhören das Denken endet. Eine Terrororganisation, die sogar ihre „eigenen Leute“ zu Geiseln macht, ist weder Sprachrohr palästinensischer Interessen noch legitimer Verhandlungspartner für Akteure der zivilisierten Welt.
 
Attraktiv werden Äquidistanz-Positionen durch die Kombination des bequemen Verzichts auf Komplexität mit zurückgelehnter Selbstgerechtigkeit: Ich lasse mir doch nichts vormachen, die sind doch am Ende alle gleich.
 
Der Äquidistanz-Reflex erspart, genau hinzuschauen und bedacht zu bewerten. Er ist der politische Gegenpart zu dem, was wir aus der Kommunikationswelt seit Trump und Corona als False Balance kennengelernt haben, also den handwerklich-journalistischen Fehler, unbelegten oder bereits falsifizierten Behauptungen den gleichen Raum einzuräumen wie echten Informationen.
 
Eine offene, sinnvolle, lebendige und durchaus kontroverse deutsche Palästina-Debatte in der Politik, in Schulen, auf den Straßen und auch bei Demonstrationen würde den Ausgleich an der richtigen Stelle suchen: zwischen den Lebensinteressen von Menschen auf beiden Seiten des Gaza-Grenzzauns. Wie bereits lange vor dem Terroranschlag. Wer dabei aber eine Terrororganisation als sein Sprachrohr akzeptiert, nimmt sich als legitimer Diskutant selbst aus dem Spiel.
 
Al Biruni war beides: ein außerordentlicher Naturwissenschaftler, der in der systematischen Analyse der Realität dem Westen weit voraus war – und ein aufrechter Muslim. Jahrhunderte, bevor in Europa der Gedanke an eine Kugelgestalt der Erde um sich griff, hat er bereits ihren Radius ermittelt – und er fühlte sich zu Hause in seiner Religion. Religionen können friedlich koexistieren, wenn ihre Anhänger nicht über das Jenseitige, sondern über die sicht- und greifbare Realität diskutieren, über Beleg- und Widerlegbares.
 
Übrigens: Der Begriff „Staatsräson“ für Israels Existenz steht für ein gut begründetes deutsches Politikprinzip. Aber kommunikativ schafft er erst mal gefühlte Distanz zwischen den dieser Räson Verpflichteten und den Verpflichtenden. Wer Empathie für die realen Menschen in Israel vermitteln will, wer leidenschaftlich für eine menschliche Lösung streiten will, der könnte andere Begriffe wählen als jene Wortstanzen, die sich in Jahrzehnten eingeschliffen haben und deshalb einen anderen gefährlichen Reflex auslösen können: weghören.