Dienstag, 13. August 2024

Antworten auf Wagenknecht - der Kampf um das Friedensnarrativ

Vielleicht ist es in der Debatte über politische Kommunikation der Modebegriff überhaut: das Narrativ. Dabei wird es gern vereinfachend auf Formulierungsstanzen reduziert, die in immergleichen Worten immergleiche Positionen repräsentieren und so Politik und ihre Köpfe „branden“. 

Herfried Münkler beschreibt in seiner „Welt in Aufruhr“ das Konzept von Narrativen wesentlich treffender als Erzählmuster, „in denen es um die Herkunft und Zukunft eines Sozialverbandes oder politischen Akteurs geht […]. Dabei sind Narrative nicht mit den ihnen verbundenen Erzählungen identisch, sondern bezeichnen die Muster, die den Erzählungen zugrunde liegen. […] Narrative und Symbole sorgen dafür, dass wir in einer bestimmten Gruppe von Erzählungen und Bildern dieselbe Idee erkennen, so dass diese uns «vertraut» erscheint und ein Signum des Eigenen oder des Fremden ist.“ Und diese Vertrautheit trägt viel zur Bereitschaft bei, zuzustimmen und sich von den „Fremden“ mit anderer Ideenbasis abzugrenzen.

 

Das aktuell vielleicht erfolgreichste Narrativ lässt sich mit den Worten „Reden statt Waffen“ skizzieren. Das BSW hat unter dem Schirm dieses Musters sogar auf Landesebene das Koalitionsjunktim postuliert, Putin faktisch freie Hand in der Ukraine zu geben. Keinem anderen Thema räumte Frau Wagenknecht so viel Gewicht ein. Das Kalkül ist nachvollziehbar – mit seinem Friedensversprechen profiliert sich das ansonsten programmatisch schwer greifbare Parteien-Startup so erfolgreich, dass es nach den kommenden Landtagswahlen eine Königsmacher-Rolle erwarten kann, obwohl kaum jemand spezifische landespolitischen BSW-Positionen benennen könnte.

 

Nicht anders die AfD: Die Rechtsextremisten nehmen die Chance dankbar entgegen, ihrem Dauerbrennerthema Migration einen starken Sekundanten zu Seite zu stellen und sich feixend mit der Friedenstaube zu schmücken, um ihr grob gerastertes Zielbild vom besseren Gestern moralisch zu garnieren.

 

 

Die Macht des Honigtopfs

 

Alle diesseits von BSW und AfD leiden erkennbar unter der großen Anziehungskraft des Denkmusters „Reden statt Waffen“. Denn es drückt emotional mächtige Knöpfe, in Ost wie West.

 

Wer den Kalten Krieg im Westen erlebt hat, erinnert zwei Phasen:  

  •  Die Block-Auseinandersetzung, die Europa Jahrzehnte eines hochgerüstetenriedens gebracht hat. Die Sowjetunion hatte sich selbst eingemauert und in Rüstungs- wie Abrüstungsfragen recht berechenbar agiert. Und was ansonsten in ihrer Einflusszone passierte, war das Problem einer ganz anderen Welt.
  • Die Phase der Friedensdividende, in der sich der Verteidigungsauftrag der Bundeswehr mangels Bedrohung in Luft auflöste und die freiwerdenden zig Milliarden in schöne Dinge flossen, während enge Wirtschaftsbeziehungen mit Russland beide Seiten scheinbar zu einem friedlichen Nebeneinander disziplinierten.

 

Aus ostdeutscher Sicht ein anderes Erleben, aber mit ähnlichen Konsequenzen für heute:

  •  Bis zum Mauerfall war die Sowjetunion ein täglich sichtbarer Machtfaktor. Wer im Rahmen der Möglichkeiten mit seiner Familie gut und in Frieden leben wollte, tat gut daran, den „russischen Bären“ und seine hiesigen Vertreter nicht zu reizen.
  •  Mit dem Ende der Sowjetunion endete die Zeit der Übersichtlichkeit. Den neuen Freiheiten standen große Verletzungen und Unsicherheiten gegenüber. Eingespielte Wirtschaftskontakte nach Russland galten als eine der wenigen ökonomischen Chancen des Ostens.

 

Vor dem Hintergrund beider Vorgeschichten wird verständlich, wie sich Ost- wie Westdeutsche im eingefrorenen Ost-West-Konflikt eingerichtet hatten und wie leicht es Populisten heute haben, die alte Berechenbarkeit herbeizubeschönigen. Das unterkomplexe Friedensversprechen von BSW und AfD ist: Die müssen endlich wieder miteinander reden, und dann wird schon alles gut. Dieses Versprechen findet viel  Beifall unter jenen, die entlang der sorgfältig abgesteckten imperialen Schnittstelle in Europa ihren Weg finden mussten.

 

Die intuitive Zustimmung vor dem Hintergrund vergangener Erfahrungen und Erzählungen macht den Zauber und damit die Macht erfolgreicher Narrative aus. Ein Honigtopf voller Erinnerungen an geordnete und kriegsfreie Zeiten, verbunden mit dem verlockendsten Angebot überhaupt: Lehnt Euch zurück, die sollen endlichen reden und alles wird gut. Garniert mit eingeübten Aversionen gegen die Rüstungswirtschaft und die USA sowie mit dem alt-rechten Gedanken von Äquidistanz zwischen Ost und West, dessen Wurzeln weit ins Kaiserreich zurückreichen.

 

Das „Reden-statt-Waffen“-Narrativ wirkt (unabhängig von der real verwendeten Formulierung) mehrfach attraktiv:

  • Es klingt sofort sympathisch, weil friedliebend.
  • Es knüpft an persönliche Erfahrungen aus geordneten Zeiten ohne Krieg in Europa an.
  • Es entlastet: Denn „wir“ sind damit raus - raus der Verpflichtung zur Unterstützung und dem ungeliebten militärischen Denken überhaupt und raus aus der Last, zu sehr mit dem überfallenen Land und seinen Menschen zu leiden, sollen die doch endlich verhandeln.

 

Zu Kriegsbeginn sprach Lawrow die diabolische Einladung an den Westen aus, das Ganze doch bitte als Auseinandersetzung zwischen slawischen Verwandten zu verstehen – wie bequem wäre doch so viel emotionale Distanz zum Töten und Sterben.

 

Stellt sich die Frage, wie sich dieses Narrativ zur Realität verhält und wie es jene entzaubern können, die Politik in eben dieser Realität verantworten.

 

 

Narrativ mit inneren Widersprüchen

 

Ein zentraler Hebel zum Entzaubern: Der Gegensatz im „Reden statt Waffen“ ist logisch einfach nur unsinnig. Kriege wurden schon immer durch Verhandlungen beendet, so wird es auch hier sein und niemand bezweifelt das. Nur dass die Seite ohne wettbewerbsfähige Waffen dabei null Verhandlungsgewicht hat, solange die Gegenseite militärische Überlegenheit mit Macht einsetzt. Die Reden-statt-Waffen-Anhängerschaft verweigert konsequent die Antwort, was die Konsequenz wäre, nämlich blanke Unterwerfung.

 

Wer einem Angegriffenen das Recht zur Verteidigung abspricht, kollidiert nicht nur mit dem Völkerrecht, er bereitet den Zielen des Aggressors den Weg. Wer im Gewand der „Reden-statt-Waffen“-Logik für das Ausbluten der ukrainischen Gegenwehr eintritt, gibt der größten europäischen Militärmacht freie Hand auch für weitere Überfälle. Friendly Reminder: Putins Benchmark, das sowjetische Imperium, war ziemlich ausladend!

 

Widersprüchlich argumentieren die Wagenknechte bei der Einordnung der relativen Stärke Russlands: Einerseits singen sie das Lied von den Einkreisungsängsten des ach so bedrohten Riesenlandes. Gleichzeitig soll aber die Ukraine unverzüglich die Waffen strecken, da sie militärisch eh chancenlos sei. Russland ist für sie an seiner Außengrenze schutzbedürftig schwach und übermächtig stark zugleich, Hauptsache der Westen ist schuld.

 

Der dritte Denkfehler: Die Analogie zwischen Putins Russland und der UdSSR seit Chruschtschow. Die erinnerungspolitische Gleichsetzung der seit den 60ern saturierten Sowjetunion mit Putins revisionistischem Russland kollabiert in sich selbst, sobald man die Fakten wahrzunehmen bereit ist. Seit 20 Jahren beweist Putin mit Worten und Taten, in der Wiederherstellung imperialer Größe nach den brutalen Regeln des 19. und mit den Waffen des 21. Jahrhunderts den zentralen Sinn seiner Herrschaft zu sehen. Lenin vermochte es innerhalb weniger Jahre, das in WW1 verlorene zaristische Großreich weitgehend zurückzuerobern. In Putins Logik muss die Geschichte nun nach dem sowjetischen Kollaps mit militärischen Mitteln korrigiert werden.

 

Dass die Welt nach 1945 nach anderen Regeln funktioniert und sich im nuklearen Zeitalter aggressiver Imperialismus mehr denn je verbietet, steht in seinen Augen selbstverständlich hinter seiner nationalistischen Mission zurück. Er pfeift im Unterschied zur Sowjetunion auf Verträge und Verpflichtungen und hat spätestens seit 2014 allen Wunschträumen, er werde in das System vertraglicher internationaler Regeln zurückkehren, den imperialen Mittelfinger gezeigt. Stattdessen begeht er den maximalen Tabubruch in der europäischen Friedensordnung und will sich das zweitgrößte europäische Flächenland einverleiben, im Vertrauen auf Unverletzlichkeit durch seine Nuklearmacht.

 

Doch während das „heilige Russland“ die Wiedergewinnung alter Größe mit aller Brutalität betreibt, rutscht diese ernste Erkenntnis auf gleich zwei Teflonschichten aus vielen Köpfen: Auf der Erinnerung an das geordnete Nebeneinander mit der UdSSR vor 1990 und auf der epochalen Erfahrung des kooperativen Aufbruchs der 90er. Zwei Epochen und mehrere Jahrzehnte Lebenserfahrung stehen dem Wahrhaben des erschreckenden Hier und Jetzt entgegen: Krieg ist wieder gestaltende Realität in Europa.

 

Alle Fakten helfen nicht, wenn sie gegen ein verlockend sympathisches und einfaches Narrativ verpuffen. Die Kanzler-Botschaft von der Zeitenwende war vielleicht die verstörendste Botschaft der deutschen Nachkriegszeit. Denn sie offenbarte, dass militärische Handlungsfähigkeit zum existenziellen Faktor der Gegenwart geworden ist. Den Traum vom Friedenschaffen ohne Waffen haben Putins Panzer überrollt, aber kritisiert wurde jener, der die Tatsachen aussprach.

 

Bausteine eines Zeitenwende-Narrativs

 

30 Kriegsmonate später will ein Viertel der Westdeutschen und die Hälfte der Ostdeutschen Parteien wählen, die „Reden statt Waffen“ plakatieren und damit de facto die Ukraine vor den Bus werfen. Wie kann eine kommunikative Antwort darauf aussehen? Wie formuliert sich ein Zeitenwende-Narrativ, das in Sachen intuitiver Zustimmungsfähigkeit mithält? Das die Lebenserfahrung der Deutschen und ihre emotionalen Bedürfnisse spiegelt und die Realitäten anerkennt?

 

Ausgangspunkt eines erfolgversprechenden Konters ist die Tatsache, dass BSW und AfD den Deutschen das legitime Bedürfnis nach Sicherheit verwehren. Sicherheit ist in fast allen Politikbereichen eine Schlüsselanforderung an Politik. Gerade auch in der BSW- und AfD-Wählerschaft. Die Erschütterung von gelernten Sicherheiten ist übergreifendes Merkmal von Verunsicherung jener, die die Autoren der „Triggerpunkte“ als „Veränderungserschöpfte“ bezeichnen. Eine besonders Populismus-gefährdete Teilöffentlichkeit, die sich qua Ausbildung, Familienbild und Status aus der Mitte der Gesellschaft verdrängt fühlt. Zurück blieb ein unbedientes Sicherheitsbedürfnis.

 

Auch das Ende des Friedens in Europa repräsentiert die Zerstörung einer selbstverständlich wirkenden Sicherheit. Genau deshalb ist Verdrängung eine beliebte Reaktion. Die Lieblingsparteien vieler Veränderungserschöpften laden durch ihr „Reden-statt-Waffen“-Narrativ herzlich dazu ein, sich in der guten alten Zeit von Dialog und Abrüstungsverhandlungen zu wähnen – und damit außerhalb der gegenwärtigen Realität, in der sich Putin und Lawrow ein wiedererstandenes Großreich herbeibomben wollen.

 

Auf der anderen Seite sammelt Boris Pistorius seit Amtsantritt bemerkenswert viele Sympathiepunkte, weil er etwas für einen Verteidigungspolitiker Ungewöhnliches macht: Kriegsgefahr und prägnante Lücken deutscher Verteidigungsfähigkeit offen anzusprechen. Er behandelt Sicherheit nicht als gegeben, sondern als Ziel, bis zu dem noch eine Menge Meter gemacht werden müssen. Diese für einen Verteidigungsverantwortlichen erstaunliche Transparenz vermittelt neben den Fakten auch Haltung gegenüber dem Beschönigungsnarrativ: Lasst uns den Tatsachen ins Auge blicken und nüchtern handeln.

 

Das allein genügt aber nicht als Konter gegen das verlockende Weidel-Wagenknecht-Wunschdenken.  Es braucht auch für die Regierungsposition ein Erzählmuster aus narrativen Vertrauensankern, die intuitive Zustimmung auslösen, weil sie auf lange eingefrästen Erfahrungen und Glaubenssätzen beruhen. Dafür stehen die folgenden Schlüsselbegriffe.

 

1. Sicherheit

Das übergeordnete Ziel; ist uneingeschränkt positiv assoziiert; und aus vielen anderen Politikbereichen ist gelernt, dass Sicherheit eine permanente Aufgabe ist und andauernde Anstrengungen erfordert.

 

2. Friedensordnung

Verbindet den Friedensbegriff (der nicht der Gegenseite überlassen werden darf) mit dem Ergebnis gestaltender und regelbasierter Politik. Ordnung steht für Stabilität, klare Grenzen. Und jeder weiß, dass sie zur Not auch mit Macht durchgesetzt werden muss. Sie ruht auf zwei Säulen: diplomatische Verständigung aller Beteiligten und Durchsetzung gegen jene, die sie umstoßen.

 

3. Schutz

Das Aufreißen der Wunde namens Krieg in Europa vergrößert die politische Sehnsucht nach Schutz. Der von Europa abrückende Fokus der USA vergrößert die Dringlichkeit. Deshalb gehört ins Zentrum eines neuen Sicherheitsnarrativs ein Schutzversprechen, basierend auf Kriegsvermeidung durch glaubwürdige Abschreckung, ein in Ost wie West gelerntes und bewährtes Konzept. Schutz durch Abschreckung hilft aus ängstlicher Apathie heraus, indem er im Sinne der Selbstwirksamkeit eigene Fähigkeiten gegen Kriegsgefahr mobilisiert.

 

4. Stärken

Glaubwürdig ist ein Sicherheits- und Schutznarrativ dann, wenn man den eigenen Streitkräften Verteidigung und Abschreckung auch zutraut. Im aktuell apathisch-selbstzweifelnden Deutschland keine Selbstverständlichkeit. Als glaubwürdiger Vertrauensanker taugt das Vertrauen in die technologischen Stärken eigener Militärtechnik. Aber auch die überlegene Attraktivität des geschützten Lebens in einer rechtsstaatlichen Ordnung stärkt im Wettbewerb mit Autokratien.

 

5. Gemeinschaft

Statt der Delegierung von Verteidigungsfähigkeit nach außen an die USA braucht es einen neuen Konsens nach innen, dass Sicherheit und Schutz stets das Ergebnis einer gesellschaftlichen Großanstrengung sind. Deutschland kann nicht nur Sicherheit, sondern auch Zusammenhalt gewinnen, sobald es den Schutz des freien Lebens seiner Menschen als verbindende Aufgabe begreift und organisiert.

 

 

Kommunikation nach einer Zeitenwende braucht beides: die Dekonstruktion eines Narrativs, das genau diese Wende negiert. Und ein Erzählmuster, das, aufbauend auf gelernten Überzeugungen und Erfahrungen, ein neues Ziel und den Weg dorthin formuliert. Ein neues Sicherheitsnarrativ kann die Bereitschaft, unbequeme Tatsachen ernst zu nehmen, nicht ersetzen; aber es kann politische Führung erleichtern und zum erforderlichen Rückhalt beitragen.

Mittwoch, 14. Februar 2024

Peace! Gedanken zu den Perspektiven des Genderns ohne Polarisierungsabsicht

Den Kerngedanken des Gender Mainstreamings beschreibt das BMFSFJ auf seiner Website damit, dass es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gebe. Und deshalb die unterschiedlichen Auswirkungen politischer Entscheidungen auf die Geschlechter „grundsätzlich und systematisch“ zu berücksichtigen sind. Und dass die UN-Weltfrauenkonferenz 95 den Begriff etabliert habe. Konsequenz: ohne geschlechtsneutrale Wirklichkeit auch keine solche Sprache mehr.

Aus Sicht des ergrauten Sprachpraktikers fing die harte Zeit für das generische Maskulinum tatsächlich Ende der 90er an. Mit dem Argument, dass Frauen in männlichen Formulierungen nicht mehr nur „mitgemeint“ sein wollen, setzte sich eine self fulfilling Prophecy in Gang: Je mehr in der Praxis die Doppelnennung von männlichen und weiblichen Formulierungen zum Standard wurden, desto ausschließender wirkten Sätze in der rein männlichen Form.

Assoziierte man früher das Aufzählen beider Geschlechter mit dem weggenuschelten „Genossinnen und Genossen“ von Erich Honecker und verwendete es nur in sehr förmlicher Kommunikation (Sehr geehrte Damen und Herren“), wirken seitdem Begriffe wie Arzt oder Politiker immer mehr so, als seien nur die männlichen Exemplare gemeint.

Wer heute Mitte 30 ist oder jünger, ist mit der häufigen Doppelnennung beider Geschlechter aufgewachsen. Was gut erklärt, dass diese Generation heute viel Gender-freudiger spricht und schreibt als Ältere, die noch vom generischen Maskulinum geprägt sind und deshalb bei ihm weniger Störgefühle entwickeln.  

Schon diese Entwicklung führte die Sprachpraxis weg von der offiziellen Orthographie. Denn die hält es bis heute für ein unglückliches Missverständnis, das grammatische Geschlecht mit dem biologischen gleichzusetzen. Aber weder der Hinweis auf die offizielle Lehre noch viele Beispiele von eindeutig weiblichen Wesen, die in unserer Sprache mit einem grammatisch männlichen oder neutralen Begriff bezeichnet werden, hilft ihr bei der Rehabilitation des generischen Maskulinums.

Zwei Gründe führten in der Folge zum Einsatz von Gender-Sonderzeichen: Die Sprachökonomie, schlicht weil die Doppelbezeichnungen zur erheblichen Satzverlängerung beitrugen - in einer Welt mit immer kürzeren Kommunikationsformen wurden Einwort-Bezeichnungen etwa für Berufe oder Staatsangehörigkeiten dringend gesucht. Und ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass die Doppelnennung noch immer die nicht binären Geschlechtsidentitäten ausblendet. Also ein neues Problem der sprachlichen Nicht-Repräsentation schafft.

Damit entstanden mehrere neue Probleme: Stilistisch sind die Sternchen und ihre Verwandten für keine Textform ein Gewinn. Es lassen sich leicht Beispielsätze formulieren, in denen mehrere Berufsbezeichnungen oder Nationalitäten auftauchen und die grauenhaft bürokratisch entseelt wirken, obwohl sie doch von Menschen handeln und ihnen „inklusiv“ zugewandt sein wollen. Erst recht bei Komposita wie „Beamt*innenanwärter*innen“ - puh! Zudem erforderten sie eine neue Sprechweise. Und es funktioniert nicht immer, gendert man „Franzosen“ mit o oder ö?

Aber vielleicht wiegt schwerer, dass Gender-Sonderzeichen in verschiedenen Teilen der Gesellschaft heute völlig unterschiedliche Wirkung auslösen und zum Symbol der Trennung von „Woken“ und „Normalen“ wurden.

Das Ergebnis dieser Vorgeschichte ist heute Verwirrung. Der Autor dieser Zeilen räumt häufigere Ratlosigkeit ein, in welcher Situation er wie sprechen oder schreiben soll. Kommunikation hat doch sowohl im professionellen wie im privaten Raum meist den Zweck, Menschen durch Austausch von Information und Meinung zu verbinden. Solange aber Sprachwahrnehmung von der Schubladisierung „gegendert“ oder „nicht gegendert“ überschattet wird, lässt sich kaum ein Satz sprechen, der nicht Teilen der Zuhörerschaft auf die Füße tritt.

Dabei ist diese vertrackte Situation entstanden, obwohl niemand etwas falsch gemacht hätte oder Übles im Schilde führte. Das Bedürfnis nach sprachlicher Repräsentanz ist ebensowenig kritisierbar wie der Wille, gemäß verbindender Regeln und Konvention ein stilistisch ansprechendes, flüssiges Deutsch zu sprechen und zu schreiben.

Leicht haben es nur die Menschen an beiden Polen der Debatte in ihren Bubbles: Wer konsequent am generischen Maskulinum festhält, hat - entsprechendes Publikum vorausgesetzt - keine Probleme, ansprechende, kurze und regelkonforme Sätze zu produzieren. Wer die Gender-Sonderzeichen-Sprechweise in die alltägliche Selbstverständlichkeit übernommen hat, vermeidet  im eigenen Umfeld jeden Normverstoß und bekundet seine Zugehörigkeit zum inklusiv tickenden Teil der Welt einfach nur durch persönliche Sprachpraxis.

Das Problem haben aber alle anderen: alle mit dem Anspruch, in möglichst allen Teilen der Gesellschaft verstanden zu werden. Und das sind viele - in Politik, Wirtschaft und auch in der Werbung. Also alle, die professionelle Massenkommunikation betreiben. Aber auch all jene, deren private Lebenswelt sowohl Menschen mit ausgeprägter Gendersensibilität wie auch Praktizierende der überkommenen Sprachkonventionen umfasst. (Damit ist der Autor schon doppelt betroffen und somit doppelt ratlos).

Die deutschsprachigen Nachrichtenagenturen haben für unsereins bereits vor drei Jahren eine Arbeitshilfe für ihre Beschäftigten veröffentlicht, die auch anderen massenmedial Tätigen hilft. (Link) Grundgedanke: Solange sich keine Sonderzeichen-Lösung wirklich breit etabliert, bitte das generische Maskulinum durch Doppelnennung oder andere trickreiche Umwege vermeiden. (Wie in diesem Text).

Alle geschilderten Widersprüche auflösen kann und will das allerdings nicht. Semantisch wären  schnell Grenzen überschritten, sobald nicht nur von Studierenden und Mitarbeitenden, sondern auf von Richtenden und Staatsanwaltenden die Rede wäre. Auch die Verarztenden hat (im Gegensatz zu den unsäglichen Gästinnen) noch niemand erfunden. Aber der Bedarf nach Ein-Wort-Bezeichnungen wird groß bleiben und sich seinen Weg bahnen.

Schön ausgedacht sind Versuche, neue, aber kompakte Formen von geschlechtsübergreifenden Formulierungen wie Professx“ (gesprochen: Professiks). Aber mal ehrlich - hat das Erfolgsaussichten, und wäre es wirklich stilistisch ein Fortschritt?

Ebenso hypothetisch ist wohl ein anderer Traum: Eine gesellschaftliche Verständigung auf die gute, alte grammatikalische Tatsache, Geschlecht und Geschlecht nicht gleichzusetzen. Die  Praxis des generischen Maskulinums hatte nicht nur sprachökonomische und ästhetische Vorteile - sie hat, richtig aufgefasst, auch nicht binäre Identitäten eingeschlossen (vermutlich ohne sich dessen bewusst zu sein).

Dennoch mag die Hoffnung auf ein Wiederentdecken seiner Vorteile nicht recht gedeihen. Weil 25 Jahre intensiver Verwendung der Doppelnennung die Wahrnehmung verstärkt haben, dass es sich beim Chef wie beim Mitarbeiter, beim Franzosen wie beim Kunden vermutlich um männliche Lebensformen handelt. Und weil gesellschaftliche Großkonflikte wie die um das Gendern selten mit dem umfassenden Sieg einer Seite enden.

Aus der täglichen Schreibpraxis noch eine Selbstbeobachtung: Das permanente Vermeiden von „Gender-pflichtigen“ Formulierungen, wie es die Nachrichtenagenturen empfehlen, ist eine durchaus schwierige Lösung - kostet viel Aufmerksamkeit und vor allem stilistischen Freiraum, weil viele Formulierungsoptionen wegfallen. Zudem lässt sich bezweifeln, ob Studierende wirklich das gleiche sind wie Studenten oder -innen; die auf eine Tätigkeit verengende Verlaufsform tut fast so, als wenn man diese bunte und wertvolle Lebensphase ausschließlich beflissen in der Unibibliothek absitzt. Am Ende bleiben wieder viele Doppelnennungen, wider das Bedürfnis nach prägnanter Knappheit.

Deshalb bringt vielleicht auch hier der Mittelweg den Tod. Wieder eine ehrenhafte Idee ohne gutes Ergebnis. Aber es ist ja auch als eine Art Brückentechnologie gedacht.

Deshalb bleibt nur pragmatische Deeskalation:

  1. Gegenseitige Vorwürfe sind völlig fehl am Platz. Weder haben diejenigen, die das Gendern (mit und ohne Sonderzeichen) aufgebracht haben, finstere Motive verfolgt. Noch tun es diejenigen, die sich nach Abwägung von Pro und Contra anders entscheiden. Beide treiben respektable Motive.
  2. Politische Initiativen für „Genderverbote“ sind hingegen sichtlich anbiedernd motiviert. Ebenso unlegitimiert wie Punktabzüge für Nichtgendernde an Hochschulen, die ebenfalls Freiheit beschneiden.
  3. Es ist noch keine Lösung absehbar, die sich vollständig durchsetzt. Sagt sich leicht, aber eigentlich ist es mehr als bemerkenswert, da sich unsere Sprache auf längere Zeit faktisch einer klaren Normierung entziehen wird.
  4. Deshalb sollten wir das Nebeneinander lieben lernen. Ist besser für den Blutdruck und für das Miteinander. Den Promotern des Genderns liegt sicher nicht an noch mehr gesellschaftlicher Spaltung. Und die Fans der offiziellen Orthographie wollen damit nicht Geringschätzung gegenüber weiblichen oder diversen Personen bekunden.
  5. Soweit sich Genderneigung altersbedingt unterscheidet, entspannt zudem die Erinnerung, wie normal schon immer unterschiedliche Sprachgewohnheiten zwischen den Generationen waren.
  6. Erfolgsvoraussetzung: Wir nehmen es nicht zu wichtig. Wir denken beim Sprechen und Schreiben vor allem an Inhalt und Verständlichkeit. Und interpretieren Gendern oder Nichtgendern nicht als Differenzierungsmarken von Gruppenzugehörigkeit oder von ethisch-normativen Gut-Böse-Clustern.



Freitag, 12. Januar 2024

Ratlos gegen rechts ins Superwahljährchen?

Das konservative Dreierlei und drei Vorschläge nach vorn

Verkehrte Welt. Wer seine politische Biographie im rot-grün-rebellischen Geist gegen Aufrüstung, US-Imperialismus und ererbte Russlandfeindlichkeit gestartet hat, muss sich permanent schütteln. Denn seitdem Russland militärische Aggression als einen blutig-manifesten Faktor europäischer Machtpolitik wiederbelebt hat, bleibt einem keine andere Wahl, als alte Affekte zu bändigen.

Es sei denn, man bleibt ihnen „treu“ und ignoriert die Konsequenzen, die der Verzicht auf militärische Gegenwehr hätte - noch mehr Gewalt durch einen in seiner Strategie bestärkten Gewaltstaat.  

Wenn es früher einen Begriff gab, dem sich alle Linken trotz ihrer Differenzen verbunden fühlten, dann den des Fortschritts. Also den grundsätzlichen Zug der Geschichte, menschliche Gesellschaften in Richtung Gleichberechtigung und Gerechtigkeit, Wohlstand und friedliche Konfliktlösung fließen zu lassen, in den meisten Epochen verbunden mit einem optimistischen Verständnis von wissenschaftlich-technischen Entwicklungen.

Und nun: Extremisten erfreuen sich demoskopischer Zustimmung in bisher unbekannten Dimensionen, verdrängen in wichtigen Demokratien bürgerliche Parteien und drohen nun mit der Zerstörung der ältesten und mächtigsten Demokratie des Planeten. Auch hierzulande wirkt Mitte-Links ebenso ratlos gegen rechts wie die Union. In ostdeutschen Ländern scheint die Bildung parlamentarischer Mehrheiten gegen die Apologeten Putins und Propagandisten niederster menschlicher Instinkte immer schwerer.

Dazu kommt eine Talkshowkönigin mit einem Angebot für jene, die linke Umverteilungsträume mit antiwestlichem Revisionismus verknüpfen wollen. Wer bis in die Mitte des politischen Spektrums hinein johlende Zustimmung provozieren will, muss nur in den Wettbewerb um die hässlichste Attacke auf grüne Spitzenpolitiker eintreten.

Das alles zwingt die demokratische Linke in eine ungewohnte Position: Statt, wie über mehr als 150 Jahre gelernt, für gesellschaftlichen Fortschritt, also Veränderung in Richtung einer besseren  Zukunft einzustehen, ist sie heute eine konservativ-bewahrende Kraft. Rot und Grün werden in die Rolle gedrängt, gegen starken Widerstand die repräsentative Demokratie und Westbindung zu verteidigen.

Auch der gute alte Konservatismus hat es nicht leicht. Sichtbar am Niedergang der zentristischen Parteien in großen Teilen Europas und den USA. Aber auch an der mühsamen Suche der hiesigen Union, klar und abgrenzend zu beschreiben, welche Werte denn ihre Gemeinschaft verbinden und welche Positionen nicht hineinpassen.

Dass sie noch nie Programmparteien waren, hat CDU und CSU in der Vergangenheit nicht geschadet. Seitdem aber die Treue zum klassischen Familienbild mit überkommenen Geschlechterrollen, kirchliche Wurzeln und im Zweifel der Vorrang von Wachstums- gegenüber Umweltzielen nicht mehr als Kit taugen, leidet auch die Union unter der Zersplitterung der gesellschaftlichen Mitte. Also an der Not, zugleich ihre alte, kleinstädtisch-kulturkonservative Kernklientel und das moderne, eher urbane, liberal-weltoffene Bürgertum zu erreichen. Sichtbar am Bemühen des Partei- und Fraktionsvorsitzenden, den Sauerlandismus als CDU-Leitmeldodie auch in Berlin, Schleswig-Holstein und den anderen Teilen NRWs durchzusetzen.

Eine Wurzel dieses Problems: Auch der aufstrebende Rechtspopulismus spricht konservative Bedürfnisse an, die aber mit dem staatstragendem Konservatismus der Union kollidieren. Die Überforderung vieler durch permanenten Innovationsdruck, nagende Krisen und den Verlust von Gewissheiten hat antimoderne Abwehrreflexe zu einem gewichtigen politischen Faktor wachsen lassen. Im schnell gewachsenen Reservoir von AfD-Wahlwilligen geht die Abneigung gegen Wärmepumpen, Schwulenpartys, Migranten und globalisierten Kapitalismus so weit, dass die Hemmschwellen zum umstürzlerischen Rechtsextremismus flugs verdampft sind.

So zeigt die politische Landschaft aktuell schwere Schlagseite: Einen breiten Wettbewerb um den besten Konservatismus.

Alle wollen bewahren und schützen. Alle suchen als Reaktion auf Verunsicherung und Segmentierung der Wählerschaft ihr Heil im Versprechen, den Status quo so gut wie möglich zu bewahren. Nur dass die rechtspopulistische Öffentlichkeit darunter die „gute“ alte Zeit von reinrassiger Recht-und-Ordnung-Welt plus Ewigkeitsgarantie für Verbrenner versteht, die rot-grüne Szene einen defensiv-trotzigen Verfassungspatriotismus („Wir standen schon immer auf der richtigen Seite der Geschichte“) und die demokratisch-konservative Welt solide Staatstreue mit einer Portion wehmütiger Erinnerung an Ludwig Erhard und Dalli Dalli.

Nun könnte man dieses konservierende Dreierlei als eine blöde Verirrung der politischen Ideengeschichte abhaken. Aber die Lücke, die sie hinterlässt, hat Folgen: Es fehlt ein Politikangebot „nach vorne“. Und damit eine Idee von der Zukunft, die mit mehr lockt als möglichst wenig Verlust. Verlust an Wohlstand, Status und Rente, belebter Umwelt, Werten, Hausärzten und Busverkehrstakt.

Während die Soziologie beschreibt, wie persönliche Verunsicherung und Verlust an gefühlter Selbstwirksamkeit die Kohäsion in der Mitte der Gesellschaft zerstört, ist das Versprechen der demokratischen Politikanbieter, die Verluste an Lebenschancen zu begrenzen? Klingt nicht nach einem entschlossenen Konter. Und führt, etwa am Beispiel der SPD, dazu, dass man sich selbst bei der Bedeutungserosion zuschaut, dies aber in wohliger Selbstversicherung, dem Kernversprechen von „abfedernder“ Sozialpolitik auch im großen Wandel treu geblieben zu sein. Schließlich durfte man doch den Kanzler stellen nach einem Wahlkampf, dessen sichtbare Versprechen sich in mehr Mindestlohn und stabiler Rente erschöpften.

Dabei blickt der treueste Teil ihrer Wählerschaft den letzten drei oder vier Bundestagswahlen seines Lebens entgegen, während die Jungwähler sich immer offener für harten Rechtsextremismus zeigen. Es ist nicht mehr Opa, der stolz vom großen Krieg erzählt, es sind viele Junge, die sich von Autokraten Heil versprechen.

Die FES erhebt im Zweijahresrhythmus die Verbreitung rechtsextremer Positionen in Deutschland (Link). Der Anteil der Menschen mit klarer Abgrenzung gegen Rechtsaußen ist zuletzt, nach vielen Jahren großer Stabilität, von 86,2 auf 71,6% geschrumpft. Jüngere bis 34 Jahre  pflegen nun fast dreimal häufiger ein geschlossen rechtsextremes Weltbild als Ältere über 65. Nicht nur harter Rechtsextremismus hat stark zugelegt; auch das, was die FES Graubereich nennt, also Offenheit für mehrere Aspekte von Rechtsextremismus, hat sich fast verdoppelt.

Die programmatisch-defensive Erstarrung der ehemals “progressiven“ Mitte-Links-Parteien fällt zusammen mit dem Verlust des Generalkonsenses für Demokratie und ihre Institutionen. Während die Rechten die Grenzen des Sagbaren immer weiter verschieben und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit aus den Schmuddelecken des Parteienspektrums in den Alltagsdiskurs eindringt, kontert der traditionell stärkste Kern der Antifaschisten mit nichts mehr als Schadensbegrenzung gegenüber den Veränderungen, die über uns schicksalhaft hinweg rollen. Repräsentiert durch eine Bundeskanzlerkommunikation, die von Gestaltungsfreude und Zukunftsideen so weit weg ist wie Arminia Bielefeld von der Champions League.

Lag Ralf Dahrendorf mit seiner Analyse vielleicht doch richtig, dass sich die Sozialdemokratie zu Tode gesiegt hat und nach Bildungsaufstieg sowie breiter Emanzipation von Arbeiterschaft und Frauen keine neuen Visionen zu erobern sind? Hat sie vielleicht wie die Union massive Probleme, eine zeitgemäße Rolle für sich selbst zu definieren, die über die nostalgisch warme Erinnerung an ehemals klare Fronten nach außen und Schulterschluss im Inneren hinaus gehen?

Es wäre eher ein Wunder, wenn es anders wäre. Die SPD entstand in einer Zeit, in der nationalistischer Kolonialismus, wie ihn heute Putin wiederbelebt, zum selbstverständlichen politischen Kanon aller europäischen Nationen zählte. Als Frauen wenig galten, Arbeiter systematisch ausgebeutet wurden und Adel und Kirchen den autoritären Ton angaben. Und wie in allen Parteien (und anderen Vereinen) erhalten intern stets jene den meisten Applaus, die an die Vorbilder der Altvorderen erinnern. Parteien verfügen über einen Automatismus, stets die Treue zu den Wurzeln zu feiern, statt das unentdeckte Land der Veränderung zu suchen. Vor diesem Hintergrund ist die SPD noch recht erfolgreich gealtert.

Aber nicht nur historisierende Beharrung steht einer positiven linken Vision für das 21. Jahrhundert im Weg. Auch der Ampel-Alltag erdrückt. Wenn die Dauerkrise das beherrschende Merkmal der Gegenwart ist, reduziert sich Politik auf ihre Eindämmung. Und hier blockiert die Mechanik der Ampel den sozialdemokratischen Lösungsweg. Seit Mario Draghi der Weltfinanzkrise mit seinem „whatever it takes“ die schärfsten Zähne zog, indem er mit massiven öffentlichen Mitteln drohte, um den Finanzmärkten die Lust an Weltuntergangsspekulation auf den Euro zu nehmen, stand dieser selbstbewusste Umgang mit öffentlichen Riesensummen auch bei Pandemie und Krieg im Zentrum des Scholz’schen Krisenmanagements..

Dieser Mechanismus kollidiert mit dem festgetackerten Mantra der Bundesfinanzministerpartei. Das Ergebnis, massiv verschärft durch Karlsruhe, ist eine Bundesregierung, die ihre schulterzuckende Ratlosigkeit auch öffentlich nicht verbergen kann. Damit steigen die Sorgen vieler, den Verschlechterungen schutzlos ausgeliefert zu sein. So trägt die Koalitionsverkantung zum größten Problem bei - zur Verunsicherung der den Krisen ausgesetzten Öffentlichkeit und zur Bestätigung des „es wird alles immer schlimmer“-Schnacks.

Nun wäre das ein überschaubares Problem, wenn die demokratische Opposition auf Grundlage wachsender Zustimmung für  ihre Alternativkonzepte die Regierungsübernahme vorbereiten könnte, um dann zu beweisen, dass „sie es besser kann“. Doch weder verfügt die Union über ein Gegenkonzept noch über Köpfe, die bei der Mehrheit optimistische Wechselstimmung auslösen. Im demoskopischen Persönlichkeitsranking ist die Anzahl der Spitzenpolitiker, die im Durchschnitt positiv bewertet werden, auf 1 oder 2 von 10 geschrumpft. Keineswegs schneidet die Opposition grundsätzlich besser ab als die Koalition. Die Bevölkerungsmehrheit zeigt sich zutiefst unzufrieden mit der Regierungsmehrheit, setzt zugleich aber kaum Hoffnungen auf einen demokratischen Machtwechsel.

Damit hat die repräsentative Demokratie ein echtes Legitimationsproblem. Und das zu Beginn eines „Superwahljährchens“ mit der Europawahl als traditioneller Bühne für Proteststimmen und drei Landtagswahlen mit der Poleposition für Rechtsextreme.

Höchste Zeit für neue Kommunikation der Demokraten. Nur wenn dem Wahlvolk politische Angebote vermittelt werden, die eine Neubewertung ihrer Macher anstoßen, kann Deutschland die Kurve kriegen und repräsentative Demokratie wieder greifen. Also der Wettbewerb jener Köpfe, denen man die Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten am ehesten zutraut - statt der Verzwergung von Parlamentswahlen zur Volksabstimmung über das gerade hotteste Aufregerthema.

Dazu drei Vorschläge:

1. Den Rechten den Nimbus des Erhaltenden streitig machen

Wer die EU attackiert, vernichtet die wichtigste wirtschaftliche Basis Deutschlands. Und die einzige Chance, als Mittelmacht weiter weltweit Einfluss zu nehmen. Wer Menschen nach Hautfarbe, Herkunft oder anderen willkürlich gewählten Merkmalen in ihrer Wertigkeit sortiert, vernichtet mit dem Menschenbild des Grundgesetzes die Grundlage unseres Zusammenlebens. Wer sich weigert, Klimawandel zu bekämpfen, schafft unvorstellbare Fluchtbewegungen und zerstört auch hierzulande Lebensgrundlagen. Wer Putins Russland mit dem Westen gleichsetzt und Deutschland außen- wie sicherheitspolitisch genau dazwischen positionieren will, entzieht unser Land der Wertegemeinschaft von Nationen, denen Demokratie, Gewaltenteilung, Rechtsstaat und individuelle Freiheitsrechte heilig sind. Und wer rhetorisch immer wieder die Lust am Umsturz kitzelt und völkische Staatsfeinde hofiert, bedroht inneren Frieden, zivilisiertes Zusammenleben und persönliche Sicherheit.

Die Folgen einer AfD-Mehrheit wären das Gegenteil von bewahrend. Nicht der Erhalt von als schützenswert erachteten Lebensmodellen in Abgrenzung zu „woken“ Besserwissern wäre das Ergebnis. Sondern das Ende all dessen, was unser Land in seiner Vielfalt zusammenhält, wirtschaftlich stark macht und gute Lebenschancen für jede und jeden Einzelnen bietet.

Wir sollten endlich aufhören, uns auf die diskreditierende Wirkung des Attributs „rechtsextrem“ zu verlassen, wo es um die AfD geht. Und stattdessen klar und deutlich aussprechen, was ganz real die zerstörerische Wirkung von AfD-Politik wäre.

Und wir sollten aufhören, die Themen der Debatte von der AfD diktieren zu lassen. Den Wettbewerb um die strikteste Zuwanderungskontrolle werden immer die anderen gewinnen. Stattdessen ist es unsere Pflicht, eigene Themen zu setzen und unsere Stärken auszuspielen.


2. Eine neue Fortschrittserzählung etablieren

So wertvoll für Parteien gemeinsame Wurzeln im Inneren sind - gewählt werden sie für glaubwürdige und attraktive Zukunftspläne. Deshalb gehört die Leidensform ersetzt, mit der Rote und Grüne bisher die Geschichte von Transformation und Dekarbonisierung erzählen. Nämlich als Schicksal, das über die Welt kommt und dessen Folgen so gut wie möglich zu mindern sind.

In der Loslösung von fossilen Energiequellen liegt eine große Befreiungsgeschichte verborgen. Warum nur erzählt sie keiner?

Sobald wir uns freischwimmen von Kohle, Öl und Gas und unsere Energie nicht mehr „verbraucht“, sondern schadlos jeden Tag aufs Neue erzeugt wird, macht das eine neues Level von Wohlstand möglich. Eine Gesellschaft auf Grundlage erneuerbarer Energiequellen und nachwachsender Ressourcen kann sich freimachen von den „Grenzen des Wachstums“, die am Beginn des technologiekritischen Zukunftspessimismus Anfang der 70 angemahnt wurden. Sie kann reisen und heizen, bauen und produzieren, ohne die Abhängigkeit von Rohstoffdiktatoren zu vergrößern oder Lebensräume verdorren zu lassen.

Und sie befreit sich vom Automatismus begrenzt vorhandener Güter (wie Öl), auf Sicht zwangsläufig teurer zu werden. Stattdessen wird der Preis erneuerbar erzeugter Energie mit dem Ausbau ihrer Kapazitäten weiter sinken. Dekarbonisierung ermöglicht erstmals in der Wirtschaftsgeschichte dauerhaft sinkende variable Energiekosten. Was für eine Chance für Deutschland, vorn dabei zu sein!

Die Transformation lässt sich als große Chancengeschichte erzählen. Damit verschwinden nicht die Hürden auf dem Weg dahin. Aber sie wird zur politisch attraktiven Vision statt, wie heute, zum miesmuffeligen Abwehrkampf rund um Verzichtsappelle. Zu einer Vision, die wirtschaftliche Chancen wie persönliche Freiheiten vergrößert.


3. Repräsentationsbedürfnisse ernst nehmen

Zum Kontern der Rechten gehört auch, die legitimen unter den Anforderungen ihrer Wählerschaft zu identifizieren und ein Angebot für sie zu formulieren. Kern dieses Angebots muss es sein, echten Respekt und Rückendeckung für ihre Vorstellungen von Zusammenleben und Gemeinschaft zu vermitteln, ohne sie gegen andere Vorstellungen auszuspielen.

Basis der gefühlten Ausgrenzung ist die Wahrnehmung vieler, vergessen oder geringgeschätzt zu sein, obwohl sie sich als Mittelpunkt von Normalität erleben. Wer vom Eindruck geprägt ist, von der neuen gesellschaftlichen Elite für eine aussterbende Gattung gehalten zu werden, aber eigentlich mit seiner Leistung den Laden am Laufen zu halten, verliert den Glauben an „das System“ und „die da oben“.

Diese Repräsentationslücke ist allein programmatisch nicht zu füllen, sie beruht im Kern auf kulturellen Bruchlinien. Nur so konnte Gendern zu einem Leuchtturm der erlebten  gesellschaftlichen Spaltung werden: Obwohl faktisch die große Mehrheit ihre Sprachgewohnheiten nicht verändert hat und sie somit die Sprachwirklichkeit unverändert dominiert, fühlt sich ein Teil dieser Mehrheit in seiner verbalen Souveränität bedrängt oder zurückgesetzt.

Niemand könnte glaubwürdig das große Revival der homogenen unteren Mittelschicht versprechen, wie sie in den 70er-Jahren kulturell dominiert hat. Aber die politische Welt, inklusive der Roten und Grünen, könnte doch anerkennen, dass dieser Teil der Mitte weiter zahlreich ist und einen Anspruch auf demokratische Vertretung hat. Was zu einer geradezu banalen Antwort führt: Typen ins Rennen schicken, die zumindest die Möglichkeit in sich tragen, als „eine oder einer von uns“ durchzugehen.

Der demoskopische Senkrechtstarter des letzten Jahres kann hier Mut machen: Der Verteidigungsminister war allein wegen seiner kommunikativen Selbstverständlichkeit der Shooting Star (hö) in den Beliebtheitscharts. In einfachen Worten zu sagen, was ist, und dann konkrete Lösungen anzugehen, wird auch dann noch belohnt, wenn es ein Sozialdemokrat tut. Einer, dem man zutraut, früher auch mal selbst bei seinem Käfer oder Wartburg die Zündung eingestellt zu haben und sich als Ortsvorsteher mit natürlicher Autorität zwischen Schweinemästern und Windbauern durchzusetzen, wird von vielen deutlich eher für voll genommen als Kandidierende, die spürbar über Jahrzehnte geschliffen wurden zwischen den Empfindlichkeiten aller innerparteilichen Anspruchsgruppen und den lebensfernen Codes der Ministerialbürokratie.

Mehr Bühne für Leute wie Laumann und Reul, Pistorius, Rehlinger, Ramelow oder auch Hofreiter - und die repräsentative Demokratie würde auf das Repräsentationsdefizit eines wichtigen Teils der Gesellschaft mit ihrer Kernkompetenz antworten: Köpfe anbieten, die nicht nur für eine fachpolitische Einzelfrage stehen, sondern denen man zutraut, „einer von hier“ zu sein und das schon vernünftig zu machen in diesem verrückten Politikbetrieb.

 



Dienstag, 31. Oktober 2023

Wortfindungsstörungen und der Äquidistanz-Reflex

Wie geht Kommunikation über Hamas, Palästina und Israel?
 
Über den Westfälischen Frieden sagt man, es sei ein Schlüssel zum Erfolg gewesen, nicht über Dinge zu streiten, über die man nicht streiten kann. In dem Fall über religiöse "Wahrheit". Zwar war Religion einer der Auslöser des Krieges. Aber es war völlig klar, dass da keine Einigkeit und auch kein Kompromiss denkbar war. Frieden geht nur, wenn man ausschließlich über Dinge spricht, bei denen Kompromisse zumindest theoretisch möglich sind.
 
Der einzig lohnende Streit ist der um eine Lösung. Und dazu gehört Klarheit gegen Fake News. Wo die schiere Unwahrheit Gewicht in einer argumentativ abwägenden Auseinandersetzung beansprucht, kann keine realitätstaugliche Lösung entstehen.
 
Gerade feierte die Wissenschaftsgeschichte den 1050sten Geburtstag des muslimischen Universalgelehrten al-Biruni, der als Vordenker des Prinzips der Falsifikation gilt, also des Wissensgewinns durch Identifikation widerlegbarer Thesen. Erst viele Jahrhunderte später erkannte auch das Abendland die fundamentalen Chancen durch systematischen Umgang mit an der Realität gescheiterten Behauptungen.
 
Es bringt Ordnung in den Kopf, die Themen, über die man sich wunderbar streiten kann, zu trennen von denen, bei denen der Blick auf die Realität die Fragen löst, Streit also einfach unsinnig ist.
 
Aktuell ist diese Ordnung in den Köpfen überall dort ein knappes Gut, wo die richtigen Worte zu Israel, Hamas, Gaza und den Rechten von Palästinensern gesucht werden. Vielleicht besonders in Deutschland. Also versuchen wir es mit der Trennung von streittauglich und nicht.
 
Auch deshalb, weil jeder Versuch, legitime Kontroversen mit staatstragenden Selbstverständlichkeitsfloskeln zu übertünchen, nach hinten losgeht. Sobald Solidarität mit Israel zum reinen, nicht begründungsbedürftigen Axiom entseelt wird, löst es gern das Gegenteil der beabsichtigten Wirkung aus, weil es vielen als Einladung zum „warum eigentlich?“ gilt.
 
Für einen lebendigen Diskurs bleibt – auch beim Thema Palästina – Debattenspielraum wertvoll. Ansonsten würde man großen Teilen der Gesellschaft das übereinander statt miteinander Reden verordnen.
 
Streiten kann man hervorragend darüber, wie eine dauerhafte Friedensordnung aussehen könnte. Inkl. Siedlungspolitik, Autonomie, internationale Garantien, Ost-Jerusalem, vieles mehr. Ein wunderbar großer Raum von legitimer Kontroverse.
 
Und dann kommen schon jede Menge Fragen, die nach einmal Nachdenken keine sind:
 

  • Dass beide Seiten ihr Recht auf einen eigenen Staat haben. Wie es die UN schon bei der Gründung Israels vorgesehen hatte, bevor die arabischen Nachbarstaaten Israel am Tag seiner Unabhängigkeit angriffen.
  • Dass keine der beiden Seiten die physische Existenz der anderen bedrohen darf.
  • Dass keine Seite der anderen religiös oder sonstwie prinzipiell überlegen ist.
  • Dass Deutschland dem Staat Israel besonders verbunden ist, weil es durch seinen Millionenmord erheblich dazu beigetragen hat, dass Jüdinnen und Juden persönliche Sicherheit in einem eigenen Staat gesucht haben.
  • Dass Hamas eine Terrororganisation ist, die kein Interesse an Frieden hat.
  • Und dass mit dem Iran ein Regime in Palästina zündelt, dem Menschenrechte und Freiheit nichts gelten und das mit seiner Interpretation des Islam sowohl andere Muslime als auch anders Religiöse verdrängen will.

 
Heute wie 1648 ist Frieden nur möglich, wenn sich politische und militärische Mächte nicht als Diener einer Religion verstehen, um die gesamte Welt zu unterwerfen. Die Geschichte ist voll von Beispielen, wo auf der Grundlage dieser Erkenntnis ein friedliches Nebeneinander von Religionen und der ihnen verbundenen Ethnien gelungen ist. Gerade in muslimisch dominierten Kulturen. Umso eindeutiger ist es die Pflicht der zivilisierten Welt, sich jedem Versuch entgegenzustellen, irgendeine Vision vom Reich irgendeines Gottes mit Gewalt auf der Erde zu errichten.
 
Widerspruch verdient aber auch jeder Versuch, die Taten vom 7. Oktober als Ausdruck des palästinensischen Widerstands einzuordnen. Von Widerstand ließe sich sprechen, wenn in einem besetzten Territorium Besatzer verdrängt werden würden. Nichts dergleichen hat Hamas versucht, eben das kennzeichnet Terrorismus: Tausende von Menschen grausam zu massakrieren (einschließlich Moslems) und damit einen Krieg gegen einen militärisch überlegenen Staat zu entfesseln, stärkt in keiner Weise die Freiheit von Palästinensern, es tötet sie nur. Ob der 11. September oder der 7. Oktober - Terrorismus inszeniert Massenmord an Unbeteiligten, um Hass zu schüren und friedliches Miteinander unmöglich zu machen.
 
Die Hamas zwingt Millionen von Menschen in Gaza in einen Krieg, in dem sie zu nichts anderem ausersehen sind, denn als Opfer vor den Kameras der Welt. Ein Krieg mit dem Ziel, arabischen Herrschern den Weg zu einer friedlichen Annäherung an Israel zu verstellen. Hamas vernichtet Lebenschancen von Palästinensern. Sie betreibt das Gegenteil von Widerstand im Sinne der Palästinenser. Sie will blockieren, was der einzige Weg für ein gedeihendes Palästina wäre, nämlich eine geordnete Zweistaaten-Nachbarschaft.
 
Die fälschliche Gleichsetzung von Terror mit Widerstand führt bei uns viele in die beliebte Äquidistanz-Falle: Wir dürfen nicht nur auf einer Seite stehen, beide haben Fehler gemacht, deshalb müssen beide der Gegenseite entgegenkommen. Das Muster kennen wir aus der Russland-Ukraine-Debatte. Mit der Wagenknecht-Partei bekommt der Äquidistanz-Reflex nun eine wortreiche zusätzliche Stimme.
 
Diese Denkweise beruft sich gern auf das Rechtsprinzip „audiatur et altera pars“. Aber in Sachen Gaza wie anderswo führt das vermeintlich faire beiden-Seiten-Zuhören gern mal in die Irre, sobald nach dem Zuhören das Denken endet. Eine Terrororganisation, die sogar ihre „eigenen Leute“ zu Geiseln macht, ist weder Sprachrohr palästinensischer Interessen noch legitimer Verhandlungspartner für Akteure der zivilisierten Welt.
 
Attraktiv werden Äquidistanz-Positionen durch die Kombination des bequemen Verzichts auf Komplexität mit zurückgelehnter Selbstgerechtigkeit: Ich lasse mir doch nichts vormachen, die sind doch am Ende alle gleich.
 
Der Äquidistanz-Reflex erspart, genau hinzuschauen und bedacht zu bewerten. Er ist der politische Gegenpart zu dem, was wir aus der Kommunikationswelt seit Trump und Corona als False Balance kennengelernt haben, also den handwerklich-journalistischen Fehler, unbelegten oder bereits falsifizierten Behauptungen den gleichen Raum einzuräumen wie echten Informationen.
 
Eine offene, sinnvolle, lebendige und durchaus kontroverse deutsche Palästina-Debatte in der Politik, in Schulen, auf den Straßen und auch bei Demonstrationen würde den Ausgleich an der richtigen Stelle suchen: zwischen den Lebensinteressen von Menschen auf beiden Seiten des Gaza-Grenzzauns. Wie bereits lange vor dem Terroranschlag. Wer dabei aber eine Terrororganisation als sein Sprachrohr akzeptiert, nimmt sich als legitimer Diskutant selbst aus dem Spiel.
 
Al Biruni war beides: ein außerordentlicher Naturwissenschaftler, der in der systematischen Analyse der Realität dem Westen weit voraus war – und ein aufrechter Muslim. Jahrhunderte, bevor in Europa der Gedanke an eine Kugelgestalt der Erde um sich griff, hat er bereits ihren Radius ermittelt – und er fühlte sich zu Hause in seiner Religion. Religionen können friedlich koexistieren, wenn ihre Anhänger nicht über das Jenseitige, sondern über die sicht- und greifbare Realität diskutieren, über Beleg- und Widerlegbares.
 
Übrigens: Der Begriff „Staatsräson“ für Israels Existenz steht für ein gut begründetes deutsches Politikprinzip. Aber kommunikativ schafft er erst mal gefühlte Distanz zwischen den dieser Räson Verpflichteten und den Verpflichtenden. Wer Empathie für die realen Menschen in Israel vermitteln will, wer leidenschaftlich für eine menschliche Lösung streiten will, der könnte andere Begriffe wählen als jene Wortstanzen, die sich in Jahrzehnten eingeschliffen haben und deshalb einen anderen gefährlichen Reflex auslösen können: weghören.
 
 
 
 
 
 
 
 

Dienstag, 4. Juli 2023

Im Osten nichts Neues?

Dirk Oschmann und Konsequenzen für die Politik

Es schmerzt. „Der Osten - eine westdeutsche Erfindung“ ist eine durchgängig heftig formulierte und einseitig argumentierende Anklageschrift. Vielleicht ist das Buch deshalb so erfolgreich. Es will gar nicht objektiv sein, oder differenzieren. Und das sagt der Autor eingangs klar und deutlich. Er polarisiert transparent, mit offenem Visier, über alle Lebensbereiche hinweg.

Seine Leitthese: Überall und bis heute sind es westdeutsche Normen, die eine Allgemeingültigkeit im ganzen Deutschland für sich reklamieren. Unausgesprochen, mit großer Selbstverständlichkeit und ohne Pardon. In der Folge haben Menschen mit ostdeutschen Wurzeln stark unterdurchschnittliche Chancen auf eine Führungsrolle, in praktisch allen Bereichen. Und, trotz aller Zuspitzung, diese Leitthese kann er immer wieder überzeugend belegen.

Für einen Leser mit westdeutsch geprägten ersten Lebensjahrzehnten bleibt der Ansatz schwer verdaulich. Weil eine Anklageschrift auch einen Angeklagten braucht. Man fragt sich ständig, wer es denn war, der den gesamten Westen zu einem derart koordinierten geistig-kulturellen  Eroberungszug durch die neuen Länder geführt hat. Zumal unsereins die alte Bundesrepublik als alles andere als einen homogenen Block mit einem gemeinsamen Ziel und einem perfekt abgestimmten Vorgehen in Erinnerung hat. Vielmehr haben wir über alles Mögliche gründlich gestritten - nicht zuletzt auch über den besten Weg zur deutschen Einheit.

Auch hier hilft nur, sich auf die Autorenperspektive einzulassen: Oschmann beschreibt nichts mehr als die ostdeutsche Erfahrung. Er begibt sich in die Rolle des Anklägers und nicht des differenzierenden und abwägenden Richters, der spezifische Schuld gegenüber spezifischen Einzelpersonen zuweist. Er bilanziert nach über drei Jahrzehnten das Ergebnis: maximale Dominanz von Köpfen mit Westwurzeln in Wissenschaft, Medien, Wirtschaft, Politik und sogar im Sport. So macht er deutlich, dass es um weit mehr geht als das überwältigende Gefühl im Osten, kein Gewicht im Lande zu haben - es ist auch faktisch so, abzählbar etwa am östlichen Anteil an Leitungsfunktionen in Hochschulen, Unternehmen, Funkhäusern, Gerichten und Verwaltungen.

Deutschland leistet sich fünfeinhalb Bundesländer mit Menschen, die sich fremdbestimmt fühlen und es auch sind, wenn man ihre Perspektive zulässt, dass Leute aus dem Westen zunächst mal Fremde waren. Und es leistet sich zehneinhalb Bundesländer mit Menschen, für die deutsche Einheit nichts anderes bedeutet als ein uneingeschränktes „Weiter so“, nur mit vergrößertem Wirkungskreis.

Was Oschmann nicht tut: Diskutieren, was wir mit diesen Erkenntnissen politisch anstellen. Na dann!

Der Reflex aus Sicht eines Menschen mit Sozialkunde im Blut: Nutzt doch bitte die Partizipationschancen, die uns allen offen stehen. Schon die geringen Mitgliedszahlen in den östlichen Landesverbänden der demokratischen Parteien führen ja gleich zu zwei Problemen: zu weit unterproportionalem Gewicht in den Bundesparteien und zu einer dünnen ehrenamtlichen Basis in der Kommunal- und Landespolitik im engeren Umfeld. Auch die geringe gewerkschaftliche Basis im Osten bleibt nicht folgenlos: ohne Arbeitnehmermacht keine starke Basis für Tarifverträge, und deren Fehlen ist eine von mehreren Ursachen für die weiter bestehenden Gehaltsunterschiede.

Aber so wahr das alles ist - es ist eben auch eine Form von Wessi-Plaining. Es fügt sich in ein grundsätzlich kompetitives Gesellschaftsverständnis: Wer etwas will, muss dafür kämpfen. Gegen Arbeitgeber, gegen Bescheide von Behörden, Krankenkassen oder Rentenversicherern.

Der Rechtsstaat hat DDR-Willkür beendet. Aber mit dem Prinzip Rechtssicherheit hat er auch jeder und jedem den Job übergeholfen, seine Rechte einzufordern. Und damit in eine Konfrontationsposition gegenüber all jene Institutionen gebracht, deren Zweck doch eigentlich sein sollte, mir zur Seite zu stehen. Was für gelernte Wessis selbstverständlicher Alltag ist, verstärkt aus Ost-Perspektive den Eindruck, Fremder im eigenen Land zu sein.

Sind das Gründe für das DDR-System nach dem Muster: Wenn ich etwas brauche, frage ich meinen Betriebsleiter, und vielleicht bekomme ich es? Wohl kaum, denn das Prinzip war willkürlich. Aber es hilft zu verstehen, dass der eine Teil Deutschlands mit Institutionen fremdelt, die dem anderen als selbstverständlich und prinzipiell nützlich vorkommen. Und zuzuhören und zu verstehen ist für unsereins ja schon mal ein Anfang.

Oschmanns Buch hätte auch vor 10 oder 20 Jahren erscheinen können, es hätte genauso gepasst. Aber wie schön wäre es, wenn es in 10 oder 20 Jahren nicht mehr zur Stimmung im Osten passen würde. Nur auf eines dürfen wir uns nicht verlassen: dass die Zeit die Wunden schon von selbst heilen wird. Der Blick in andere Länder, etwa die USA oder Italien und aktuell Frankreich, lehrt eindrücklich, wie sich abgehängt und ungehört zu fühlen dauerhaft Gesellschaften spalten kann und politisch kaum beherrschbare Zustände schafft. Und der Blick in die nahe Zukunft erinnert an Wahlen im nächsten Jahr, in denen die Demoskopie echte Probleme für mehrheitsfähige demokratische Koalitionen im Osten befürchten lässt.

Wie können also die Institutionen, die das vereinte Deutschland regieren, verwalten und repräsentieren, auf Menschen im Osten zugehen? Welche Identifikationsangebote hätten Aussicht auf Erfolg, und welche Partizipationsformen?

Wer Menschen mit DDR-Vergangenheit fragt, was sie am meisten vermissen, bekommt immer die gleiche Antwort: den persönlichen Zusammenhalt. Mit fast erschreckender Durchgängigkeit. Offensichtlich fielen hier zwei DDR-typische Bedingungen zusammen: ein höheres Maß an materieller Egalität in den meisten Nachbarschaften und Familien mit einer Mangelwirtschaft, in der vieles nur mit gemeinschaftlicher Anstrengung und gegenseitiger Hilfe möglich war, von der Haus- und Autoreparatur bis zu Festen und anderen Gemeinschaftserlebnissen. Diese Hilfe war prinzipiell praktisch und gegenseitig, aber nie monetärer Natur.

Dieses Prinzip gegenseitiger Hilfs- und Tauschbereitschaft dominiert den positiven Teil der Erinnerungen an die DDR-Jahrzehnte. Und es wird nach 1990 einerseits sein Verschwinden beklagt - andererseits lebt es, zumindest in Dorfgemeinschaften und Nachbarschaften, bis heute fort und bestimmt als ungeschriebenes Gesetz das Miteinander. Es scheint dabei heute wie früher mehr zu sein als praktisch nützlich und emotional enorm wertvoll - es scheint weiterhin auch ein Element der Behauptung gegenüber dem System derer da oben mitzuschwingen: Wir machen unser Ding, redet uns nicht rein, wenn ihr schon nicht helft.

Demokratische Institutionen bräuchten also, was ihnen am meisten fehlt: eine Basis, die z.B. ihre lokale Parteiorganisation zunächst mal als ihr eigenes Ding begreift, als Teil des lokalen Lebens, der sich anschickt, das Gemeinwesen drumherum auf Grundlage der verbindenden politischen Werte mitzugestalten. Wer im Osten in die Basisorganisation einer demokratischen Partei hineinhört, stößt auf eine klare Abgrenzung gegenüber denen in Berlin. Und es sind nur wenige, die dennoch unter den jeweiligen Parteifarben etwa zu Kommunalwahlen antreten und den Spagat zwischen Abgrenzung von Berlin und Identifikation mit Werten und Überzeugungen meistern. Im Ergebnis werden lokale Wahlen häufig „entparteipolitisiert“, oft gewinnen Parteilose. Abgesehen von extremen Populisten und Verfassungs- und somit auch Einheitsgegnern.

Grundlagen für organisiertes Miteinander existieren sehr wohl. Feuerwehren und Sportvereine etwa, auch Naturschutzverbände und Kulturinitiativen. Alle wünschen sich mehr Mitglieder, insbesondere junge, aber alle zusammen bilden eine durchaus lebendige Zivilgesellschaft.  Demokratischen Parteien bleibt jedoch im Alltag eine Nebenrolle. Und damit genau jenen, die eine Brücke bilden sollten zwischen lokalen Bedürfnissen, Nöten und Lösungswegen und der Politik von Land und Bund.

Somit sind die Perspektiven der repräsentativen Demokratie schlecht. Wo das passive Wahlrecht nur von wenigen beansprucht wird, wird auch die aktive Wahlteilnahme für demokratische Parteien weiter erodieren.

Auf der Suche nach Lösungen sollte auch eine ganz andere Frage erlaubt sein: Ist eine ausgeflaggte Ostidentität vielleicht auch Teil der Lösung? Müssten die Ost-Organisationen der Parteien nicht viel lauter als bisher als Repräsentant von Regionalinteressen und emotional verbindenden Ost-Wurzeln auftreten? Nicht nur, weil es wohl eine unrealistische Ambition wäre, auf ein Aufgehen in einem gesamtdeutschen Verfassungspatriotismus zu hoffen. Sondern weil nur so eine Brücke zwischen dem wahrgenommenen Nicht-Gehört-Werden und den Möglichkeiten der parlamentarischen Repräsentanz entstehen könnte.

Das ist kein Plädoyer für eine Ostpartei. Sondern für Lautstärke. Im Deutschen Bundestag sind die Landesgruppen in den Fraktionen echte Machtfaktoren. Die CSU als Sonderform einer solchen Landesgruppe zeigt, wie man in diesem System regionalen Einfluss maximieren kann und kommunikativ enorme Präsenz erobert.

Die ostdeutschen Landesverbände der demokratischen Parteien werden sich den Respekt der Menschen nur verdienen, wenn sie gegenüber Berlin substanzielle Erfolge durchsetzen. Substanz bedeutet nicht ausschließlich Materielles, echte Präsenz und scharfes Profil in gesamtdeutschen Auseinandersetzungen würden enorm helfen, der repräsentativen Demokratie neue Achtung zu verschaffen.

Ja, auch das ist ein kompetitiver Ansatz. Aber in der Arena, wo der Wettbewerb um Werte, Einfluss und Lösungsansätze hingehört, in die Parlamente. Wettbewerb unter Abgeordneten mit gleich langen Stöcken, und nicht zwischen staatlichen Großinstitutionen und einzelnen Betroffenen.

Dirk Oschmann hat vor allem für eine Institution eine Menge Spott übrig: für den Ostbeauftragten der Bundesregierung. Nicht gegen die Person, die das Amt aktuell ausfüllt, sondern gegen das Prinzip: Die Repräsentanz eines großen Teils Deutschlands in der Regierung wird einer nachrangigen Funktion überlassen, die vom Bundeskanzler ausgewählt und, falls es denn mal einen Konflikt gäbe, von ihm kontrolliert werden könnte. Das wirkt tatsächlich wie ein Feigenblatt für den Osten und das Gegenteil demokratisch legitimierter Repräsentation. Die muss von den Abgeordneten, von den Landesregierungen und von den Landesverbänden der Parteien kommen.  

Statt eines Ostbeauftragten der Bundesregierung bräuchte es mehr laute, profilierte und geerdete Beauftragte des Ostens in Regierungen und Parlamenten. Nicht weil Ost und West prinzipiell unterschiedliche Ziele verfolgten. Sondern weil es Deutschland als Ganzes nicht aushalten kann, dass ein wesentlicher Teil seiner Menschen sich ungehört und gleicher Chancen beraubt fühlt und deshalb in die innere oder in eine härtere Form der Immigration geht.


Nachlesen lohnt: https://www.ullstein.de/werke/der-osten-eine-westdeutsche-erfindung/hardcover/9783550202346

Sonntag, 14. August 2022

Drei Typen von Staaten und die Kommunikation von Olaf Scholz

Der Berliner Politologe Herfried Münkler hat im Jahr 2005 seinen Klassiker „Imperien“ veröffentlicht. Was eine Hilfe sein kann, die zeitengewendete Welt von heute einzuordnen. Und die deutsche Position klarer zu formulieren.

Das knackig geschriebene Buch erschien im Schatten des dritten Golfkriegs und mit Blick auf die These, das amerikanische Imperium habe seinen Höhepunkt hinter sich. Dabei sind die Muster, die er in der Geschichte des internationalen Machtgefüges immer wieder gefunden hat, für das Verständnis der ach so unordentlichen Gegenwart faszinierend nützlich. Sein Blick reicht von den großen „klassischen“, lange wirkmächtigen Imperien China und Rom über die kurzlebigen Riesenreiche der Reitervölker, die Handelsimperien der Portugiesen und Niederländer, die eher wirtschaftsschwachen Großreiche der Spanier und Russen bis zum britischen Weltreich und seinem US-amerikanischen Erben.

Beim Lesen muss man im Kopf erst mal umschalten: Er nutzt den Begriff Imperien rein deskriptiv-analytisch und nicht, wie wir alle es gelernt haben, normativ voller Abscheu und Empörung. Da  Imperien die Zivilisationsgeschichte maßgeblich geprägt haben, beschreibt er ihre Eigenschaften, Funktionen und Unterschiede nüchtern und sachlich. Dabei ist seine Leitidee, Imperien nicht nur mit Blick auf das strahlende Machtzentrum zu verfolgen, sondern das Zusammenspiel von Zentrum und Peripherie zu verfolgen. Und hier wird der Bezug zum heutigen Krieg in Europa interessant.

In seiner Grundordnung existieren drei Typen von Staaten:

  • Normale Staaten wie aus dem Bilderbuch der UN, die einander auf Augenhöhe begegnen und mal mehr und mal weniger friedlich mit- und nebeneinander her leben
  • Hegemonialmächte, die andere Staaten von sich abhängig machen
  • und Imperien.


Natürlich selten so klar abgrenzbar, mit Misch- und Übergangsformen. Aber konzeptionell unterscheidbar.

Imperien sind für Münkler viel mehr als Großmächte. Oft entstanden aus einer weltpolitischen Randlage ohne starke konkurrierende Nachbarn, haben sie sich dann nach einer rasanten Expansion als stabiles Großgebilde reorganisiert (Vorbild Kaiser Augustus) und sind dann dauerhaft kraftvoll geblieben, wenn sie militärische, ökonomische, politische und kulturelle Führungsmacht zugleich wurden - oder die Schwäche in einem dieser Felder durch eine andere Stärke kompensieren können. Münkler fällt auf, dass Imperien oft keine harte Grenze haben, sondern am Rand durch Übergangszonen geprägt sind, in denen sich verschiedene Einflüsse überlagern.

Kommunikativ pflegen Imperien zwei Typen von Narrativen: Für die Gegenden hinter der Übergangszone eine Barbaren-Erzählung, für das Selbstverständnis hingegen eine imperiale Mission. In China etwa das Mantra der Einheit in Harmonie, in Spanien wie Russland eine religiöse Mission und im US-Imperium Demokratie, Freihandel und Menschenrechte.

Zentrale Faktoren für die Stabilität von Imperien: Gegenüber der Peripherie müssen sie ihr Versprechen halten, Frieden durchzusetzen. Und im Zentrum müssen sie permanent begründen, dass die Beherrschungskosten lohnende Investitionen sind. Denn die sind erheblich. Münkler verdeutlicht das anhand der USA: Sie haben nicht nur absolut die höchsten Militärausgaben weltweit, auch relativ zur Wirtschaftsleistung investieren sie ein Mehrfaches gegenüber etwa Deutschland, Japan oder Kanada in Waffen und Soldaten. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts streiten die USA darüber, ob sich ihr „Engagement“ außerhalb des eigenen Dunstkreises lohnt. Aber bis heute finanzieren sie die weltweit einzige Armee, die überall auf der Welt kurzfristig und machtvoll einsatzfähig ist. Auch in der Kombination der anderen drei imperialen Machtfaktoren - politische Durchsetzungsfähigkeit, kulturelle Dominanz und Wirtschaftskraft - macht ihnen niemand etwas vor.

Dennoch erörtert Münkler bereits die Risiken einer Überdehnung von Imperien auch am amerikanischen Beispiel. Dabei konnte er 2005 das Scheitern der US-Intervention im Mittleren Osten in seiner ganzen Dramatik noch gar nicht kennen. Die Nutzenbilanz einer militärisch abgesicherten Ordnung bis an den imperialen Rand kann schnell negativ werden, der Aufwand größer als der Ertrag und die Gefahr einer prestigegefährdenden Niederlage wächst. Münkler beschreibt, wie  asymmetrische Formen von Kriegsführung, Partisanenkrieg und Terrorismus, den imperialen Herrschaftsanspruch aufzuweichen vermögen, weil die Beherrschungskosten im Zentrum irgendwann nicht mehr akzeptiert werden. Er zeigt: imperiale Ausdehnung kann, an rationalen Kriterien gemessen, für das Zentrum schädlich werden. Mit anderen Worten: Ein rational agierendes Imperium wird niemals Größe um jeden Preis anstreben.

Und: Münkler mahnt, was zusammenbrechende Imperien gern mal hinterlassen: lang anhaltende Unruhe, mündend in gewaltsam ausgefochtene Konflikte um neu geschnittene Staaten und alte Hegemonialansprüche. Womit wir spätestens in der Gegenwart angekommen wären.

Die UdSSR war der imperiale Counterpart zum Westen: Sie verfügte über eine imperiale Mission (Weltrevolution), auch wenn sie die faktisch nur bis zur Mitte der 1960er ernsthaft verfolgt hat. Sie hat neben gewaltiger Militärmacht auch für Imperien wichtige Prestigeerfolge erzielt, von der Raumfahrt bis zu massenhaft olympischen Medaillen. Sie hat dabei an vorrevolutionäre Traditionen angeknüpft, das russische Großreich, eine beachtliche Kulturnation und panslawistische Ambitionen. Von den Zaren geerbt hat sie aber auch ökonomische Schwäche, die in Verbindung mit den Fesseln der Planwirtschaft in den 1980ern den Zusammenbruch aus dem Zentrum des Imperiums heraus auslöste.

Der Zusammenbruch eines solchen Imperiums hinterlässt zweierlei: die Peripherie, die sich - zunächst in einem machtpolitischen Übergangsvakuum -  sicherheitspolitisch neu einordnen muss. Und ein Zentrum, das gedemütigt den Gang in eine Zukunft als regionale Mittelmacht antreten muss. Die Beispiele der Briten, der Franzosen, der Türkei und der Weimarer Deutschen zeigen, dass die mit dem Abschied von Großmachtträumen verbundenen Schmerzen wahrlich kein russisches Sonderphänomen sind und teilweise über Jahrzehnte nachwirken.

In den Jahren nach dem Erscheinen von „Imperien“ hat Putin-Russland systematisch an einer militärisch und kulturell fundierten Hegemonialrolle in seiner westlichen Nachbarschaft gearbeitet, Krieg in Syrien geführt und militärische Beziehungen in Afrika ausgebaut. Auch wenn es, ökonomisch und demografisch bedingt, die Rolle des globalen Counterparts der USA nun China überlassen muss, hat es seine begrenzten Möglichkeiten aggressiv eingesetzt, ist weltpolitisch eine unruhestiftende „Spoiler-Macht“ und destabilisiert westliche Demokratien mit ihren verachteten, verweichlichten post-heroischen Gesellschaften und ihren Schwulen-Partys (Putins Barbaren-Narrativ).

Mit den Überfällen auf Georgien 2008 und die Ukraine 2014 hat Putin signalisiert, dass die territoriale Integrität von Nachbarstaaten vor ihm nicht sicher ist. Viel wird darüber diskutiert, warum erst der russische Angriff im Februar 2022 in Deutschland und anderswo zu einer fundamentalen Neubewertung der russischen Strategie geführt hat. Mit Blick auf die Bedeutung von Kommunikation in dieser weltpolitischen Situation ist vielleicht interessanter, wie sich Münklers Methodik zur Analyse dieser Krise anwenden lässt.

Quelle: AP

Präsident Selenskyj ist vom ersten Kriegstag an für seine aktive und mobilisierende Kommunikation gelobt worden. Sie hat, in Verbindung mit der überraschend erfolgreichen militärischen Leistung der Ukraine, den Blick vieler auf das Land, seine Erfolgsaussichten und den Unterstützungsbedarf des Westens verändert. Dabei fällt auf, dass manche seiner Forderungen in den Augen westlicher Regierungen geradezu absurd erscheinen mussten, etwa sein Appell an die Nato, eine Flugverbotszone über der Ukraine einzurichten, was schlicht einer frontalen militärische Konfrontation mit Russland gleichkäme. Taktisch kann man dahinter das Motiv vermuten, viel zu fordern, um wenigstens etwas, zum Beispiel Waffen, zu bekommen.

In Münklers Mechanik spielt er aber ein größeres Spiel: Er übt aus der Peripherie Druck auf das Zentrum des „westlichen Imperiums“ aus, um unter den Schirm  dessen Friedensversprechens zu schlüpfen. Er hat eine beachtliche Soft Power entwickelt, um in den westlichen Öffentlichkeiten für die Integration in das politische und militärische Sicherheitsbündnis zu werben.

Dafür bedient er die Klaviatur, die Münkler identifiziert hat: Er appelliert an die imperiale Mission des Westens, Demokratie, Menschenrechte und freier Handel, und positioniert die Ukraine als engagierten europäischen Vorposten dieser Werte. Und er ordnet die Berichte über russische Kriegführung und Kriegsverbrechen in das westliche Barbaren-Narrativ über Russland ein. Zum regelmäßigen Bestandteil seiner Videoansprachen zählt zudem die Bilanzierung der vom westlichen Zentrum geforderten Investitionen: Jetzt müsst ihr (im imperialen Zentrum) nur in Waffen für uns in der Peripherie investieren, aber wenn ihr das unterlasst, kostet es euch selbst Frieden, Freiheit und Wohlstand, also viel mehr als viel Geld.

Es lässt sich viel darüber philosophieren, welches Gewicht die EU im amerikanischen Imperialverbund hat. Die Schaffung einer europäischen Gemeinschaftswährung und des gemeinsamen Binnenmarktes war sicher auch Auswuchs des europäischen Bedürfnisses, das eigene Gewicht im transatlantischen Verhältnis zu stärken. Aber klar ist, militärisch und damit machtpolitisch wirkt die EU ohne Schulterschluss mit den USA wenig kraftvoll. Auch in diesem westlichen Verbund zweier durchaus unterschiedlicher Pole war es ein zählbarer Erfolg für die Ukraine, mit der beschriebenen kommunikativen Soft Power den Kandidatenstatus zur EU zu erringen (und damit auf dem Balkan die Frage aufzuwerfen, warum dort der EU-Integrationsprozess deutlich zäher verläuft).

Die Selenskyj-Administration hat es vermocht, die zunächst mehr als zögerlichen zentralen europäischen Führungsmächte aus der Peripherie heraus zu bewegen, in die Mitverantwortung für die Verteidigung der Ukraine zu gehen. Deutschland hat sich durchgerungen, das absolute  Gegenteil ihrer alten Waffenexport-Doktrin zu vollziehen und Waffen dorthin zu liefern, wo sie akut eingesetzt werden. Deutschland und Frankreich haben enorme Summen und großes politisches Entgegenkommen für die zuletzt noch immer eher mit spitzen Fingern behandelte Ukraine mobilisiert. Gemeinsam mit der konsequenten Militärhilfe durch die USA ist eine Situation entstanden, in der die Ukraine auf einen scheinbar unerschöpflichen Rüstungs- und Finanznachschub hoffen kann, während Putin immer ältere Panzer und schlechter ausgebildete Soldaten mobilisiert.

Es ließe sich einwenden, dass das Verhalten des Westens schlicht rational ist und wenig mit der diplomatischen Soft Power aus Kiew zu tun hat. Es gibt aber durchaus rationale Gründe für den Westen, eine neutrale Ukraine zu bevorzugen: Eine in den Folgen schwer kalkulierbare militärische  Beistandsverpflichtung wäre vermieden, der unsichere russische Kantonist an der weichsten Stelle seiner Westgrenze zugleich befriedet und eingehegt, und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der Ukraine stünde nichts im Weg.

Es zählt zu den Merkmalen kluger Imperien, nicht auf Teufel komm raus zu expandieren, sondern stets Kosten und Nutzen für das Zentrum abzuwägen. Die Weigerung Frankreichs und Deutschlands im Jahr 2008, dem Druck auf eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine nachzugeben, mag man als starkes Indiz für solch ein zurückhaltendes Kalkül verstehen.

Eine solche Interpretation westeuropäischer Motive könnte ein großes kommunikatives Rätsel lösen: Was bitte treibt Bundeskanzler Scholz zu seiner unentschlossen bis schwankend wirkenden öffentlichen Positionierung? Warum agiert er verbal wie faktisch - etwa in Sachen Waffenexporte - wundersam unentschlossen, nachdem er mit der Zeitenwende-Rede im Bundestag in wenigen Minuten jahrzehntealte Glaubenssätze weggespült hatte (keine deutschen Waffen in Krisengebiete und erst recht nicht gegen Russland).

Scholz vermeidet den Anschein eines entschlossen-verlässlichen Unterstützers der Ukraine so sorgfältig und zäh, dass ein Glaubwürdigkeitsverlust Deutschlands kaum mehr zu leugnen ist. Parallel zeigt die Demoskopie in Deutschland Ungewöhnliches: Während Krisen sonst dazu führen, dass sich die Mehrheit hinter dem Kapitän in schwerer See versammelt, erodieren die SPD-Werte in Richtung 15 Prozent. Anzunehmen, dahinter stecke schlicht ein eklatanter Mangel an politisch-handwerklichem Können, würde dem mehrfach erfolgreichen Wahlkämpfer nicht gerecht werden.

Sein Verhalten erhält im Licht von Münklers Erklärungsmuster eine andere innere Logik: Scholz agiert wie jemand, dem man die Freiheit genommen hat, seiner eigenen Agenda zu folgen, und dies in Inhalt wie in Geschwindigkeit. Münkler beschreibt eines der Privilegien erfolgreicher Imperien damit, dass sie über Zeitsouveränität verfügen, wann sie welchen machtpolitischen Zug vornehmen und wann sie eine Konsolidierungsphase folgen lassen. Deutschland wie Frankreich wirken hingegen wie Akteure, denen ein großer Teil ihrer Souveränität geraubt wurde: Russland hat die Friedensordnung Europas atomisiert, und zudem das deutsche Modell einer Industriepolitik mit vergleichsweise günstiger Energie. Die Ukraine hat den Westen mit den kommunikativ-diplomatischen Mitteln der machtpolitischen Peripherie zu weitreichender Unterstützung und zur geöffneten Tür Richtung EU-Mitgliedschaft gedrängt. Die letzte verbliebene Gestaltungsmacht für die Bundesregierung besteht im kleinteiligen, getrieben wirkenden Krisenmanagement, in der niemand glänzen, aber jeder Fehler machen kann. Deutsche Handlungsfähigkeit scheint verengt auf die Abwägung zwischen den Kategorien Gepard, Marder und Leopard.

Münklers Methode taugt gleichzeitig, Putins Fehlspekulation einzuordnen. Er agiert offen aus der revanchistischen Motivation, den vermeintlichen „Glanz“ des Sowjetimperiums wiederherzustellen, diesmal nicht mit einer marxistischen, sondern wie zu Zarenzeiten mit einer rückwärtsgewandten und nationalistisch-klerikalen imperialen Mission. Dabei setzt er auf das alte militärische Zentrum russischer Großmachtträume, nur unzureichend flankiert von anderen Komponenten imperialer Macht. Auch die rechtsautoritären Politiker im Westen, die er sorgsam gepflegt hat, leiden nun Erklärungsnot für Putins militärische Aggression. Er hat Russland zu einem Gewaltstaat ausgebaut, der bei seinen Nachbarn null Anziehungskraft, aber viel Verteidigungsbereitschaft auslöst.

Russland sieht sein Heil allein in einer aggressiven imperialen Expansion und ignoriert damit Münklers Kriterium, in großen hierarchischen Machtgebilden sowohl im Zentrum wie in der Peripherie überzeugende Gründe für eine Zugehörigkeit zum Imperium zu aktivieren, und für das Tragen der damit verbundenen Lasten. Münkler benennt die historisch, in der Fläche gemessen, größten Weltreiche, die der asiatischen Reitervölker, als Beispiel für kurzlebige Imperien. Ihr System konnte in rasanter Geschwindigkeit expandieren, aber die Peripherie wurde durch nichts als die Androhung vernichtender Überfälle zur Loyalität gezwungen. Mit der Folge, dass sie die Verbindung so schnell wie möglich kappten und das Imperium kollabierte.

Wenn keine Gefahr besteht, dass der machtpolitische Gegner Sympathiepreise gewinnt, ist das nicht die schlechteste Voraussetzung für einen kommunikativen roten Faden für die Bundesregierung. Es droht aber die Falle der Eindimensionalität: Deutschland kann auch kommunikativ kaum mit der Absolutheit einer Kriegspartei auftreten. Und es sollte vermeiden, sich daran messen zu lassen. Deutschland kann nicht vollends auf das Verschwinden der aggressiven russischen Bedrohung setzen, selbst bei einem für Putin ungünstigen Kriegsverlauf.

Was fehlt, ist, wie schon in Afghanistan, die Formulierung eines klaren und zugleich realistischen Ziels. Und das kann nur ein abgestuftes sein: Das klare und unkonditionierte Beistandsversprechen etwa für die baltischen Staaten muss sich erkennbar unterscheiden von der wirtschaftlichen und militärischen Unterstützung der Ukraine zur Wiedererlangung ihrer Souveränität auf ihrem gesamten Territorium. Also eine Unterstützung auf Grundlage der Prinzipien des Völkerrechts und nicht von Bündniszugehörigkeit.

Ja, es ist absolut im deutschen Interesse, dass Russland beim Annexionsversuch der Ukraine scheitert. Und dass es an Drohpotenzial gegenüber anderen Nachbarn verliert. Und dass sich andere nicht ermutigt sehen, Staatsgrenzen ebenfalls als unverbindliche Garniervorschläge zu verstehen. Aber eine klare Einordnung der deutschen Motive und der deutschen Maßnahmen in einen völkerrechtlich fundierten Beistand, unabhängig von Nato-Bündnislogik, würde mehr Klarheit und Nachvollziehbarkeit nach innen und außen bringen. Und zugleich zur vermutlich größten Scholz-Priorität passen, eine militärische Eskalation zwischen Russland und dem Westen zu vermeiden.

Nebenbei: Die Nato ist aktuell sicher eine wertvolle Plattform zur Koordinierung von Waffenlieferungen und der damit verbindenden Logistik und Ausbildung. Aber auch sie sollte kommunikativ nicht als militärischer Akteur auftreten. Weder ist sie es faktisch, noch hilft es ihren Mitgliedern, eine klare und durchhaltbare Rolle im aktuellen Krieg in Europa einzunehmen.

Die Einordnung des russischen Einmarschs in die Ukraine als Element des Ost-West-Konflikts hilft nur Putin: Sie fingiert Normalität, wo keine ist. Niemand hat Russland in die Rolle der Gegnerschaft zum Westen gezwungen. Niemand hat die Staaten des ehemaligen Warschauer Vertrags zum Nato-Beitritt gezwungen, außer die wachsende Bedrohung durch Russland. Der russische Angriffskrieg gehört drei Jahrzehnte nach der Implosion des Warschauer Vertrags und  der russischen Unterschrift unter die Sicherheitsgarantien für die Ukraine nicht mehr in das Raster des Konflikts zwischen zwei Imperien. Er stellt schlicht einen seit langem singulären Bruch völkerrechtlicher Verträge und Prinzipien dar.

Die Kommunikation der EU-Führungsmächte Deutschland und Frankreich sollte daher ihre Unterstützung für die überfallene Ukraine nicht ständig auf Absprachen im Bündnis beziehen. Nicht das westliche Bündnis unterstützt die Ukraine, denn es ist ein Verteidigungsbündnis, und zwar exklusiv für seine Mitglieder. Die Unterstützung kommt von Staaten, die das Völkerrecht ernst nehmen. Weder stehen alle Nato-Staaten aktiv an der Seite der Ukraine, noch beschränkt sich die Unterstützung auf Nato-Staaten.

Eine klar völkerrechtliche und nicht bündnisbezogene Begründung der deutschen Unterstützung würde sich Putins Legende vom historisch unvermeidbaren Ost-West-Krieg am Dnepr entziehen. Sie bleibt auch legitim, wenn nicht alle politischen Verhältnisse in der Ukraine westlichen Maßstäben unterliegen. Vor allem spiegelt sie keine Ausweitung der Grenzen des „Imperiums Atlantica“, sondern Überlebenshilfe gegen Gewalt und Unrecht.

Wie gut täte ein aufrecht und unverdruckst auftretender Bundeskanzler mit ungefähr den Worten: Wir Deutschen helfen einem großen europäischen Land bei der Verteidigung von Einheit, Recht und Freiheit. Gegen einen Gewaltstaat, der die Rechtsprinzipien der Weltgemeinschaft bricht. Mit dem Ziel, dieses Recht wieder herzustellen. Wie viele andere Staaten auch.


Fazit

  1. Imperial konstruierte Großmächte bestehen aus mehr als ihrem Zentrum. Auch die Peripherie braucht gute Gründe, dem Zentrum die Treue zu halten. Und sie verfügt über Einfluss.
  2. Eine periphere Rolle kann für Staaten durchaus attraktiv sein (s. Bundesrepublik seit 1949).
  3. Deshalb ist es nicht per se „antiamerikanisch“, die USA nach imperialen Maßstäben zu verstehen. Ihre globale Macht ist zugleich real und in vielerlei Hinsicht für ihre Peripherie nützlich.
  4. Die Ukraine zeigt, wie sich mit kommunikativer Soft Power die Anerkennung als Peripherie erzwingen lässt, um „imperialen“ Beistand zu erhalten: Bezug auf die imperiale Mission, auf das Barbaren-Narrativ und auf die Nutzenbilanz des imperialen Zentrums. 
  5. Das deutsche Subzentrum im westlichen Machtbereich leidet zwischen der ukrainischen Soft- und der amerikanischen Hard Power unter akut eingeschränktem Handlungsspielraum.
  6. Offensichtlich misstraut der Bundeskanzler wie seine Vorgängerin einem direkten Weg der Ukraine in die Nato, es gäbe Gründe. Auch wenn Putin-Russland seine Vertrauenswürdigkeit als völkerrechtlicher Vertragspartner selbst zerstört hat, und Neutralität bräuchte geregelte Nachbarschaft.
  7. Aber Zwischentöne passen nicht in eine polarisierte Großwetterlage. Sie befeuern das Risiko, schwer berechenbar zu wirken, das steht einer EU-Führungsmacht nicht gut.
  8. Kommunikativ würde helfen, die Unterstützung Deutschlands für die Ukraine eindeutig  völkerrechtlich und nicht bündnispolitisch einzuordnen. 
  9. Eine derart klare Grundlinie würde Scholz helfen, sich nicht von Selenskyjs Bündnisansprüchen  treiben zu lassen. Und, viel wichtiger, Putins historisierendes Geschwurbel von der Zweiteilung der Welt in Anspruchszonen und einer imperialen Mission des ewigen Russlands ins Leere laufen zu lassen.
  10. Denn der Krieg ist kein Krieg zwischen zwei Imperien und damit keine Fortsetzung des Ost-West-Konflikts. Sondern der Überfall eines europäischen Gewaltstaates auf einen Nachbarn.  


Lesetipp: https://www.rowohlt.de/buch/herfried-muenkler-imperien-9783644118218


Montag, 31. Januar 2022

Irrationalität als politischer Faktor

Impfverweigerer schaden sich selbst. Und sie schaden der Allgemeinheit. Sie handeln irrational. Unsere Gesellschaft ist geübt darin, tolerant mit Irrationalität umzugehen. Es sei denn, Irrationalität hat massive Auswirkungen im Diesseits.

Bei Wahlprognosen gelten Stichproben von rd. 2.000 Meinungen als ausreichend, um eine statistisch gute Voraussage über das Wahlverhalten von zig Millionen abzugeben. Bei der Covid19-Impfung sind inzwischen Milliarden Menschen geimpft, mit einem riesigen Anteil an nachweisbarer Wirkung und einem winzigen Anteil an ernsthaften Nebenwirkungen. Die wundersame zivilisatorische Erfindung des Messens und Zählens zum Vergleich erwünschter und unerwünschter Wirkung hat für mehrere Impfstoffe phantastische Relationen offenbart. Und doch finden sich Tausende, teils gut ausgebildeter, abwägende, oft sympathische Menschen, um den ersichtlichen Fakten zu widersprechen und zuwider zu handeln.

Wir Kommunikationsmenschen fragen uns, welches Mittel dagegen helfen könnte. Und wir politisch denkende Menschen fragen uns, wie eine Demokratie mit Irrationalität klarkommen kann. Schließlich wäre es verwegen, darauf zu setzen, dass, wie heute in der Impffrage, die Vernunft stets klare Mehrheiten hinter sich hat. Und auch eine realitätsleugnende Minderheit kann bei einer Infektionskrankheit das Gemeinwesen vor große Probleme stellen.

Gedachtes zu Beobachtetem addieren

Offenkundige Irrationalität ist unserer ach so aufgeklärten westlichen Fortschrittsgesellschaft alles andere als neu. Obwohl die Medizin in ihrer erstaunlich kurzen Geschichte von Wissenschaftlichkeit und Evidenzorientierung in rund 200 Jahren eine sprunghafte Verlängerung von Lebenserwartung und Lebensqualität vollbracht hat, halten sich vorwissenschaftliche Theorien und Praktiken, insbesondere im deutschsprachigen Raum, und es kommen immer noch neue dazu. Andere Realitätsoppositionelle stellen die Evolution in Frage, in den Vereinigten Staaten mit beachtlicher, auch politischer Wirkung. Oder die Kugelform der Erde. Obwohl auch hier die beobachtende Wissenschaft keinen Raum für Zweifel lässt.

Menschliche Zivilisationen leben seit jeher mit Irrationalität, und vielleicht gäbe es sie ohne gar nicht. Die älteste Ergänzung der Realität durch Addition von Gedachtem zu Beobachtetem sind sicher Religionen. Sie haben in der Menschheitsgeschichte eine enorm produktive Rolle gespielt, weil sie große Gemeinschaften zusammengehalten haben und so ganze Gruppen, Städte, Staaten, Zivilisationen durch entsprechende Führung zu koordiniertem, gleichgerichtetem Handeln mobilisieren konnten. Und sie hatten individuell enormen Wert, weil sie dem Menschen im Umgang mit dem Unerklärlichen, nicht Kontrollier- und Vorhersagbaren helfen. Durch das gedankliche Konstruieren von Ursache-Wirkungsketten (z.B. Vorteile als Folge von Opfergaben) konnten wir uns versichern, dem Schicksal nicht hilflos ausgeliefert zu sein. Und gefühlte Selbstwirksamkeit ist ein menschliches Kernbedürfnis sowie eine starke Energiequelle, für sich und die Seinen alles zu geben, ein handfester Vorteil gegenüber schicksalsergebenen Konkurrenten.

Irrational heilen

Irrationale Lehren rund um Krankheit und Gesundheit haben bis vor historisch kurzer Zeit die gesamte Medizin dominiert. Noch Anfang des 19. Jahrhunderts sind viele Menschen (die sich zu ihrem Unglück eine solche „Behandlung“ leisten konnten) am Aderlass gestorben. Erst dann - und sehr langsam - setzte sich die systematisch beobachtende wissenschaftliche Medizin Schritt für Schritt durch, etwa mit ersten Erkenntnissen zum Nutzen von Hygiene oder zu Gesetzen der Ansteckung, erst Jahrzehnte später mit der Entdeckung von Krankheitserregern und wirksamen Pharmazeutika. Auch wenn die Medizin später als andere Naturwissenschaften das neuzeitliche Instrumentarium von Messen und Zählen, vom Aufstellen von Hypothesen und ihrem methodisch präzisen Falsifizieren übernahm - sie hat das menschliche Dasein stärker und unmittelbarer verbessert als andere Wissenschaften. Und dennoch halten sich - in Orient wie Okzident - ganz eigene Vorstellungen von Krankheit und Heilung. Auch wenn vielen dieser alternativen Heilmethoden ein belastbarer Wirkungsnachweis fehlt, lasten großen Hoffnungen auf ihnen. Was faktisch eigentlich zu großen Enttäuschungen führen müsste. (Und alternative Therapien, die messbar wirken, werden zu Unrecht in einen Topf mit den Scharlatanen geworfen.)

Bemerkenswert: Während Religionen einen Vorteil für ihre Anhänger für sich reklamieren können und deshalb aus nachvollziehbaren Gründen weiterhin einen Großteil der Menschheit beschäftigen, wird das Ersetzen rationaler durch irrationale Medizin in vielen Fällen mit Krankheit oder Tod sanktioniert. Und sonst mit wirkungslos investierten Kosten.

Die meisten Religionen verlegen die „Auszahlung“ des Gewinns, der den Gläubigen für das Einhalten ihrer Glaubensregeln versprochen ist, in ein Jenseits, das sich der Überprüfung durch Sterbliche entzieht. Damit sind sie prinzipiell nicht falsifizierbar. Und jene, die eine Belohnung im Diesseits versprochen haben, sind deshalb längst aus der Mode gekommen.

Anders medizinische Heilslehren, die beim Messen und Zählen zu keinem überzeugenden  Wirkungsnachweis  kommen: Auch wenn sie quasi überirdische Kräfte in Anspruch nehmen, müsste ihre Wirkung im Diesseits erkennbar sein. Und obwohl sie genau dieses Versprechen brechen, können sie sich einer treuen Anhängerschaft erfreuen.

Der anekdotische Fehlschluss

Offensichtlich ist einer relevant großen Anzahl von Menschen etwas wichtiger als die begründete Aussicht auf besten Behandlungserfolg. Dahinter steckt ein grundlegender Logikfehler menschlicher Wahrnehmung, der gut untersucht und vielfach belegt ist, zusammengefasst etwa vom Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman: Menschen lieben keine Zahlen, sondern den greifbaren Einzelfall. Sie weisen Geschichten über singuläre Erfahrungen anderer Menschen ein viel größeres Gewicht zu, als es für eine wichtige Entscheidung, etwa in Gesundheitsfragen, sachgerecht wäre.

Entsprechend gering wirken statistische Argumentationsketten. Das, was Kahneman schnelles Denken nennt, liebt die argumentative Kraft eines in sich stimmig erzählten Einzelfalls. Die Bewertung von Zahlenkolonnen und der kritische Blick zu ihrem Vergleich und zum Check ihrer Quellen ist hingegen dem „langsamen Denken“ vorbehalten, das vom Gehirn viel mehr Zeit und Energie abverlangt - also möglichst vermieden wird. Während Einzelfälle überprüfbar und in sich konsistent wirken, verlangen statistisch belegte Argumentationen Wissen um die Bewertungsmethodik oder Vertrauen in jene Experten, die sie vorgelegt haben.

Wer mit Impfgegnern spricht, findet oft genau dieses Muster: Ein Bekannter ist nach Impfung schwer krank geworden, oder ein Bekannter von einem Bekannten. Ein anderer ist trotz Impfung in die Intensivstation gekommen. Und irgendjemand habe ja auch über die Gefahr von Unfruchtbarkeit geschrieben.

Sobald unser Gehirn mit greifbaren Erfahrungen von Menschen in ähnlichen Lebens- oder Entscheidungssituationen konfrontiert wird, stürzt es sich mit Begeisterung darauf und nimmt dankbar die Einladung an, den anstrengenden Weg der kritischen Abwägung auszusparen. Das ist keine Charakterschwäche, sondern Resultat des Ökonomieprinzips, also der systematischen Energieeinsparung, die die Evolution bei uns einprogrammiert hat und die noch immer wirkt -  obwohl wir von energiereicher Nahrung heute nur so umzingelt sind und sie mühsam in Laufschuhen wieder abtrainieren.

Diese evolutionär bedingte Unterschätzung von harten, aber nackten und großen Zahlen trifft die Wissenschaft hart. Wer seinen epocheprägenden Beitrag zum zivilisatorischen Fortschritt auf Beobachten, Messen und Zählen gründet, muss verzweifeln über so viel Ignoranz gegenüber der Essenz von Erkenntnisgewinn. Generationen von Kolleginnen und Kollegen aus der Wissenschaftskommunikation haben sich an diesem Effekt abgearbeitet.

Wirkungsverstärker von Impfgegnerschaft

Aber als Erklärung für die Intensität und Aggressivität der Impfgegner genügt dieser Faktor nicht. Die Informationen über die Todeszahlen von Ungeimpften oder die Nicht-Wirksamkeit von exotischen Heilslehren würden auch bei ihnen vermutlich nicht gänzlich ohne Wirkung bleiben. Es muss einen zusätzlichen Realitätsfilter geben. Einen, der epidemiologisch durchaus relevante Minderheiten bewegt.

Offensichtlich verleihen persönliche Prägungen der Pandemie-Kontroverse eine starke emotionale, eskalatorische Komponente: eine rebellische Neigung gegen das kollektive Befolgen von Regeln, die Regierungen beschlossen haben. Manchen scheint es persönlich fast unmöglich, in einer Reihe mit den meisten Medien, den meisten Politikern und den meisten Mitmenschen zu handeln.  

Diese besondere Konstellation scheint bei diesem Persönlichkeitstypus den starken Verdacht zu nähren, dass es bei so viel Konformität nicht mit rechten Dingen zugehen kann. Obwohl ein koordiniertes, diszipliniertes Verhalten gerade gegenüber einer Infektionswelle schon immer die einzig wirksame Antwort war, seit den Pestepidemien und der Erfindung der Quarantäne in Venedig.

Auf diese zunächst nicht unsympathische, nonkonformistische, aber infektionsfreundliche Grundhaltung setzte sich nun eine politische Diskussion auf, die jeden Freiheitsberaubungsverdacht zu bestätigen schien: jene über die Impfpflicht.

Wer Pickel kriegt, sobald irgendein Mainstream oder irgendein Herrschender Konformität einfordert, wird sich kaum aus Überzeugung seines „langsamen Denkens“ in die Schlange des Impfzentrums eingliedern. Und erst recht nicht auf Druck. Er wird Abwehrreflexe gegen die fremdverordnete „Zwangsspritze“ entwickeln. Er wird jedes anekdotische Argument gegen Impfung dankbar aufgreifen und jede virtuose Uminterpretation statistischer Daten.

Er wird schützen, was ihm heilig ist: sein Selbstbild von unbeschränkter Selbstbestimmtheit. Er wird alle zum persönlichen Gegner erklären, die ihn zu konformem Verhalten im Kollektivinteresse drängen (obwohl es auch in seinem besten persönlichen Interesse wäre).

Nicht die irrationale Ablehnung von „Schulmedizin“ und die Offenheit für Methoden ohne Wirkungsnachweis allein machen so manche abendliche Fußgängerzone zu einem gespenstischen Ort, an dem aller Frust dieser Welt zusammenfließt in der Abwehr gegen demokratisch legitimierte Institutionen und ihre Entscheidungen. Die emotionale Intensität und die gesellschaftliche Brisanz entzündet sich erst im Zusammenwirken von Wissenschaftsskeptizismus mit tiefer persönlicher Ablehnung von staatlich initiiertem und gemeinschaftlich realisiertem Handeln.

Diese Ablehnung scheint drei sehr unterschiedliche Gruppen anzutreiben:

  • den Typus Kleinstadt-Sachse, den nach der SED-Erfahrung tiefe Skepsis gegenüber jeder institutionalisierten Gewalt „von oben“ umtreibt und der sich aus Berlin nie wieder in sein geordnetes Leben reinreden lassen will
  • den Typus Kubicki, der verbindliche Regeln für alle schon immer als „auch ne Meinung“ abgetan hat und in der Pandemie einen persönlichen Angriff auf seine heilige Individualität sieht
  • den Typus Anthroposoph, der seine teure akademische Ausbildung schon immer gewandt vermengt hat mit einer übersinnlichen Welt, in der das Vergraben von Kuhhörnern bei Neumond andere Effekte auf den landwirtschaftlichen Ertrag hat als bei Vollmond; und der deshalb die kalte Rationalität synthetisch erzeugter Impfstoffe prinzipiell aus seiner Blutbahn fernhält.


Nicht vergessen werden sollen jene, die jede Sau durchs Dorf treiben, wenn sie denn damit „das System“, also die wertebasierte Verfassungsordnung, attackieren können. Sie dürfen sich bedanken für die Naivität oder Ignoranz ihrer Mit-Spaziergänger und verzichten ansonsten auf jede Mitwirkung an einem lösungsorientierten Dialog.

Besorgnis erregt in diesem Cocktail unterschiedlicher Hochenergie-Abwehrreflexe, dass kaum ein Beteiligter Scheu zu spüren scheint, mit gewaltbereiten Demokratiefeinden gemeinsam Gesicht gegen den Staat zu zeigen. Offensichtlich hat die Pandemie dunkle Energien entlarvt, die bisher isoliert in ihren versprengten Bubbles weit weniger gefährlich erschienen.

So manche „alternative Medizin“ hat auch vor der Pandemie Kritiker wegen offensichtlichen Unsinns und Unwirksamtkeit auf die Palme getrieben. Aber solange sie hauptsächlich gegen Befindlichkeitsstörungen zum Einsatz kam und nur selten jemand starb, der wegen einer Fake-Behandlung auf eine wirksame verzichtet hatte, blieb es ein Streit für engagierte Feinschmecker. Übersinnliche Neuzeit-Weltbilder schienen bis in den Schulbetrieb so gut gesellschaftlich integriert wie die Kuhhorn-Verbuddler von Demeter in die Biomärkte der Republik..

Die Integrationsprobleme mancher kleinstädtischer ostdeutscher Bevölkerungsgruppen in den Verfassungsstaat waren spätestens 2015 im Rahmen der Attacken auf Geflüchtete zu übergreifender Aufmerksamkeit gelangt und tragen bis heute zu regional weit überdurchschnittlichen populistischen Wahlergebnissen bei.

Libertäre werden vor allem in der FDP weiter geduldet, aber sie prägen die nun-besser-doch-Regierungspartei nicht mehrheitlich.

Aber erst in der Corona-Opposition ziehen sie an einem Strang gegen die wirksamste Möglichkeit der Pandemiebekämpfung, das Impfen.

Kommunikation gegen Irrationalität?

Bei den hochengagierten Quertreibern haben sich längst Mechanismen eingespielt, mit der Impf-Argumente gewendet werden, entweder in Form von Delegitimierungsangriffen auf die Informationsquellen oder durch Bezugnahme auf die alternativen Realitäten der bewunderten Coronaleugner im weißen Kittel. Es braucht nicht viel Phantasie, die digital verbreitete Dokumentation der eingegangenen Bußgeldbescheide nach einer gesetzlichen Impfpflicht als Beweis für persönliche Standhaftigkeit vorherzusagen.

Wenn in dieser festgefahrenen Situation überhaupt etwas helfen kann, dann das Ernstnehmen der persönlichen Reaktanz-Motive - ausgenommen die offenen Feinde des Rechts- und Verfassungsstaates, die hart bekämpft gehören. Gerade weil diese Motive und Persönlichkeitstypen so unterschiedlich sind, wird eine vereinheitlichte Ansprache keinen Erfolg haben.

Und dennoch gibt es einen Faktor, der ihnen allen abgeht und der zentral ist für das Funktionieren jedes Gemeinwesens: Institutionenvertrauen. Rechtsordnungen können nur funktionieren, wenn möglichst alle, die dieser Ordnung unterliegen, die Eckpfeiler dieser Ordnung aus freien Stücken akzeptieren und nicht nur aus Angst vor Strafe. Der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Bockenförde hat dies in einem vielzitierten Satz verdichtet:  „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“

Wer vor dem Hintergrund von erfahrener Diktatur zu keinem Staatsvertrauen fähig ist, handelt deshalb weder aus Prinzip amoralisch noch verschafft er sich einen Vorteil. Er lebt schlicht unglücklicher als andere und unterschätzt seine mögliche Relevanz für das Gemeinwesen.

Wer als Libertärer prinzipiell die eigene Individualität durch staatliche Maßregelung bedroht sieht, kollidiert permanent mit den Freiheitsansprüchen anderer und muss viel Energie in das Aushandeln und Verteidigen von persönlichen Anspruchsgrenzen investieren.

Auch wer als Anhänger einer über-rationalen Philosophie in einer aufklärerisch dominierten  Mehrheitsgesellschaft zurechtkommen will, gerät in Konflikte, sobald sein Verhalten die Rechte jener anderen begrenzt, die ihre Rechte nicht durch Verweis auf die Heilslehre unterzuordnen bereit sind. Jede Form von Glaubenslehre führt ihre Anhänger in harte Konflikte, sobald sie Wirkung im Diesseits auslöst - ob gewollt, wie bei Glaubenskriegern, oder in Kauf genommen, wie bei irrationaler Impfverweigerung in Form von weitergegebener Infektion.

Keine Werbekampagne der Welt wird diese drei Gruppen bekehren. Dennoch kann die kooperationswillige Mehrheitsgesellschaft am verbindenden Schwachpunkt der kooperationsverweigernden Impfgegner-Gemeinde ansetzen: Sie kann ihre Ansprüche auf Schutz der eigenen Lebens- und Freiheitsrechte einfordern.

Sie hat beste faktische Gründe, zur Bekämpfung einer Infektionskrankheit kollektiv die erwiesenermaßen wirksamen und mildesten Mittel einzusetzen, zunächst Kontaktbeschränkungen und nun Impfungen, um Kontaktbeschränkungen baldmöglichst entbehrlich zu machen.

Und zwar bald. Im Herbst 2022, nach einem zweiten Freiheits-Sommer, wird es politisch kaum mehr möglich sein, Kontaktbeschränkungen durchzusetzen. Die geimpfte Mehrheit wird immer weniger bereit sein, ihre Freiheit zu beschränken, weil sich eine Minderheit der Realität verweigert.

Fazit: Eine lehrreiche Pandemie

Impfverweigerer schaden sich selbst. Und sie schaden der Allgemeinheit. Sie handeln irrational. Unsere Gesellschaft ist geübt darin, tolerant mit Irrationalität umzugehen. Es sei denn, Irrationalität hat massive Auswirkungen im Diesseits. Die Pandemie lehrt eine wichtige  Grenzziehung.

Die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim hat im Titel ihres Bestsellers „Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit“ eine wunderbare Formulierung geschaffen für eine Referenz, auf die sich Entscheidungen im Interesse der Allgemeinheit beziehen sollten. Es braucht politische Entschlossenheit, Entscheidungen für das Diesseits mit Argumenten aus der beobachteten, gezählten und gemessenen Realität zu begründen. Schlicht, weil es niemand besser weiß.

Es braucht darüber hinaus Offenheit für das menschliche Bedürfnis nach Spiritualität. Für die Hoffnung auf mehr als das Bisschen, was wir als Wissen ganz gut begründen können. Für die Sehnsucht nach neuen Erkenntnissen, die die Augen und Herzen öffnen, alte Fragen neu beantworten und unsere Existenz einzuordnen vermögen.

Wohl jeder einzelne Mensch lebt von mehr als dem wenigen, was er zu wissen begründen kann. Aber keine menschliche Gemeinschaft sollte ihre Entscheidungen auf anderem gründen als auf der kleinsten gemeinsamen Wirklichkeit, auf dem Bisschen, was allgemein als vernünftig gelten kann.

Im Interesse des Lebens und der Freiheit ist es unsere Verantwortung, beides voneinander zu unterscheiden: die Vernunft für die Verhältnisse im Diesseits und die Sehnsucht nach den Chancen hinter der bekannten Realität.

Überzeugen wird das die meisten Impfgegner kaum. Eine Chance auf Gehör bei ihnen hat nur, wer ihre sehr persönlichen Motive ernst nimmt, denn die sind zunächst weder illegitim noch amoralisch. Nur sind ihre Schlussfolgerungen als Maxime für staatliches Handeln untauglich, weil freiheitsbeschneidend für alle anderen.