Vielleicht ist es in der Debatte über politische Kommunikation der Modebegriff überhaut: das Narrativ. Dabei wird es gern vereinfachend auf Formulierungsstanzen reduziert, die in immergleichen Worten immergleiche Positionen repräsentieren und so Politik und ihre Köpfe „branden“.
Herfried Münkler beschreibt in seiner „Welt in Aufruhr“ das Konzept von Narrativen wesentlich treffender als Erzählmuster, „in denen es um die Herkunft und Zukunft eines Sozialverbandes oder politischen Akteurs geht […]. Dabei sind Narrative nicht mit den ihnen verbundenen Erzählungen identisch, sondern bezeichnen die Muster, die den Erzählungen zugrunde liegen. […] Narrative und Symbole sorgen dafür, dass wir in einer bestimmten Gruppe von Erzählungen und Bildern dieselbe Idee erkennen, so dass diese uns «vertraut» erscheint und ein Signum des Eigenen oder des Fremden ist.“ Und diese Vertrautheit trägt viel zur Bereitschaft bei, zuzustimmen und sich von den „Fremden“ mit anderer Ideenbasis abzugrenzen.
Das aktuell vielleicht erfolgreichste Narrativ lässt sich mit den Worten „Reden statt Waffen“ skizzieren. Das BSW hat unter dem Schirm dieses Musters sogar auf Landesebene das Koalitionsjunktim postuliert, Putin faktisch freie Hand in der Ukraine zu geben. Keinem anderen Thema räumte Frau Wagenknecht so viel Gewicht ein. Das Kalkül ist nachvollziehbar – mit seinem Friedensversprechen profiliert sich das ansonsten programmatisch schwer greifbare Parteien-Startup so erfolgreich, dass es nach den kommenden Landtagswahlen eine Königsmacher-Rolle erwarten kann, obwohl kaum jemand spezifische landespolitischen BSW-Positionen benennen könnte.
Nicht anders die AfD: Die Rechtsextremisten nehmen die Chance dankbar entgegen, ihrem Dauerbrennerthema Migration einen starken Sekundanten zu Seite zu stellen und sich feixend mit der Friedenstaube zu schmücken, um ihr grob gerastertes Zielbild vom besseren Gestern moralisch zu garnieren.
Die Macht des Honigtopfs
Alle diesseits von BSW und AfD leiden erkennbar unter der großen Anziehungskraft des Denkmusters „Reden statt Waffen“. Denn es drückt emotional mächtige Knöpfe, in Ost wie West.
Wer den Kalten Krieg im Westen erlebt hat, erinnert zwei Phasen:
- Die Block-Auseinandersetzung, die Europa Jahrzehnte eines hochgerüstetenriedens gebracht hat. Die Sowjetunion hatte sich selbst eingemauert und in Rüstungs- wie Abrüstungsfragen recht berechenbar agiert. Und was ansonsten in ihrer Einflusszone passierte, war das Problem einer ganz anderen Welt.
- Die Phase der Friedensdividende, in der sich der Verteidigungsauftrag der Bundeswehr mangels Bedrohung in Luft auflöste und die freiwerdenden zig Milliarden in schöne Dinge flossen, während enge Wirtschaftsbeziehungen mit Russland beide Seiten scheinbar zu einem friedlichen Nebeneinander disziplinierten.
Aus ostdeutscher Sicht ein anderes Erleben, aber mit ähnlichen Konsequenzen für heute:
- Bis zum Mauerfall war die Sowjetunion ein täglich sichtbarer Machtfaktor. Wer im Rahmen der Möglichkeiten mit seiner Familie gut und in Frieden leben wollte, tat gut daran, den „russischen Bären“ und seine hiesigen Vertreter nicht zu reizen.
- Mit dem Ende der Sowjetunion endete die Zeit der Übersichtlichkeit. Den neuen Freiheiten standen große Verletzungen und Unsicherheiten gegenüber. Eingespielte Wirtschaftskontakte nach Russland galten als eine der wenigen ökonomischen Chancen des Ostens.
Vor dem Hintergrund beider Vorgeschichten wird verständlich, wie sich Ost- wie Westdeutsche im eingefrorenen Ost-West-Konflikt eingerichtet hatten und wie leicht es Populisten heute haben, die alte Berechenbarkeit herbeizubeschönigen. Das unterkomplexe Friedensversprechen von BSW und AfD ist: Die müssen endlich wieder miteinander reden, und dann wird schon alles gut. Dieses Versprechen findet viel Beifall unter jenen, die entlang der sorgfältig abgesteckten imperialen Schnittstelle in Europa ihren Weg finden mussten.
Die intuitive Zustimmung vor dem Hintergrund vergangener Erfahrungen und Erzählungen macht den Zauber und damit die Macht erfolgreicher Narrative aus. Ein Honigtopf voller Erinnerungen an geordnete und kriegsfreie Zeiten, verbunden mit dem verlockendsten Angebot überhaupt: Lehnt Euch zurück, die sollen endlichen reden und alles wird gut. Garniert mit eingeübten Aversionen gegen die Rüstungswirtschaft und die USA sowie mit dem alt-rechten Gedanken von Äquidistanz zwischen Ost und West, dessen Wurzeln weit ins Kaiserreich zurückreichen.
Das „Reden-statt-Waffen“-Narrativ wirkt (unabhängig von der real verwendeten Formulierung) mehrfach attraktiv:
- Es klingt sofort sympathisch, weil friedliebend.
- Es knüpft an persönliche Erfahrungen aus geordneten Zeiten ohne Krieg in Europa an.
- Es entlastet: Denn „wir“ sind damit raus - raus der Verpflichtung zur Unterstützung und dem ungeliebten militärischen Denken überhaupt und raus aus der Last, zu sehr mit dem überfallenen Land und seinen Menschen zu leiden, sollen die doch endlich verhandeln.
Zu Kriegsbeginn sprach Lawrow die diabolische Einladung an den Westen aus, das Ganze doch bitte als Auseinandersetzung zwischen slawischen Verwandten zu verstehen – wie bequem wäre doch so viel emotionale Distanz zum Töten und Sterben.
Stellt sich die Frage, wie sich dieses Narrativ zur Realität verhält und wie es jene entzaubern können, die Politik in eben dieser Realität verantworten.
Narrativ mit inneren Widersprüchen
Ein zentraler Hebel zum Entzaubern: Der Gegensatz im „Reden statt Waffen“ ist logisch einfach nur unsinnig. Kriege wurden schon immer durch Verhandlungen beendet, so wird es auch hier sein und niemand bezweifelt das. Nur dass die Seite ohne wettbewerbsfähige Waffen dabei null Verhandlungsgewicht hat, solange die Gegenseite militärische Überlegenheit mit Macht einsetzt. Die Reden-statt-Waffen-Anhängerschaft verweigert konsequent die Antwort, was die Konsequenz wäre, nämlich blanke Unterwerfung.
Wer einem Angegriffenen das Recht zur Verteidigung abspricht, kollidiert nicht nur mit dem Völkerrecht, er bereitet den Zielen des Aggressors den Weg. Wer im Gewand der „Reden-statt-Waffen“-Logik für das Ausbluten der ukrainischen Gegenwehr eintritt, gibt der größten europäischen Militärmacht freie Hand auch für weitere Überfälle. Friendly Reminder: Putins Benchmark, das sowjetische Imperium, war ziemlich ausladend!
Widersprüchlich argumentieren die Wagenknechte bei der Einordnung der relativen Stärke Russlands: Einerseits singen sie das Lied von den Einkreisungsängsten des ach so bedrohten Riesenlandes. Gleichzeitig soll aber die Ukraine unverzüglich die Waffen strecken, da sie militärisch eh chancenlos sei. Russland ist für sie an seiner Außengrenze schutzbedürftig schwach und übermächtig stark zugleich, Hauptsache der Westen ist schuld.
Der dritte Denkfehler: Die Analogie zwischen Putins Russland und der UdSSR seit Chruschtschow. Die erinnerungspolitische Gleichsetzung der seit den 60ern saturierten Sowjetunion mit Putins revisionistischem Russland kollabiert in sich selbst, sobald man die Fakten wahrzunehmen bereit ist. Seit 20 Jahren beweist Putin mit Worten und Taten, in der Wiederherstellung imperialer Größe nach den brutalen Regeln des 19. und mit den Waffen des 21. Jahrhunderts den zentralen Sinn seiner Herrschaft zu sehen. Lenin vermochte es innerhalb weniger Jahre, das in WW1 verlorene zaristische Großreich weitgehend zurückzuerobern. In Putins Logik muss die Geschichte nun nach dem sowjetischen Kollaps mit militärischen Mitteln korrigiert werden.
Dass die Welt nach 1945 nach anderen Regeln funktioniert und sich im nuklearen Zeitalter aggressiver Imperialismus mehr denn je verbietet, steht in seinen Augen selbstverständlich hinter seiner nationalistischen Mission zurück. Er pfeift im Unterschied zur Sowjetunion auf Verträge und Verpflichtungen und hat spätestens seit 2014 allen Wunschträumen, er werde in das System vertraglicher internationaler Regeln zurückkehren, den imperialen Mittelfinger gezeigt. Stattdessen begeht er den maximalen Tabubruch in der europäischen Friedensordnung und will sich das zweitgrößte europäische Flächenland einverleiben, im Vertrauen auf Unverletzlichkeit durch seine Nuklearmacht.
Doch während das „heilige Russland“ die Wiedergewinnung alter Größe mit aller Brutalität betreibt, rutscht diese ernste Erkenntnis auf gleich zwei Teflonschichten aus vielen Köpfen: Auf der Erinnerung an das geordnete Nebeneinander mit der UdSSR vor 1990 und auf der epochalen Erfahrung des kooperativen Aufbruchs der 90er. Zwei Epochen und mehrere Jahrzehnte Lebenserfahrung stehen dem Wahrhaben des erschreckenden Hier und Jetzt entgegen: Krieg ist wieder gestaltende Realität in Europa.
Alle Fakten helfen nicht, wenn sie gegen ein verlockend sympathisches und einfaches Narrativ verpuffen. Die Kanzler-Botschaft von der Zeitenwende war vielleicht die verstörendste Botschaft der deutschen Nachkriegszeit. Denn sie offenbarte, dass militärische Handlungsfähigkeit zum existenziellen Faktor der Gegenwart geworden ist. Den Traum vom Friedenschaffen ohne Waffen haben Putins Panzer überrollt, aber kritisiert wurde jener, der die Tatsachen aussprach.
Bausteine eines Zeitenwende-Narrativs
30 Kriegsmonate später will ein Viertel der Westdeutschen und die Hälfte der Ostdeutschen Parteien wählen, die „Reden statt Waffen“ plakatieren und damit de facto die Ukraine vor den Bus werfen. Wie kann eine kommunikative Antwort darauf aussehen? Wie formuliert sich ein Zeitenwende-Narrativ, das in Sachen intuitiver Zustimmungsfähigkeit mithält? Das die Lebenserfahrung der Deutschen und ihre emotionalen Bedürfnisse spiegelt und die Realitäten anerkennt?
Ausgangspunkt eines erfolgversprechenden Konters ist die Tatsache, dass BSW und AfD den Deutschen das legitime Bedürfnis nach Sicherheit verwehren. Sicherheit ist in fast allen Politikbereichen eine Schlüsselanforderung an Politik. Gerade auch in der BSW- und AfD-Wählerschaft. Die Erschütterung von gelernten Sicherheiten ist übergreifendes Merkmal von Verunsicherung jener, die die Autoren der „Triggerpunkte“ als „Veränderungserschöpfte“ bezeichnen. Eine besonders Populismus-gefährdete Teilöffentlichkeit, die sich qua Ausbildung, Familienbild und Status aus der Mitte der Gesellschaft verdrängt fühlt. Zurück blieb ein unbedientes Sicherheitsbedürfnis.
Auch das Ende des Friedens in Europa repräsentiert die Zerstörung einer selbstverständlich wirkenden Sicherheit. Genau deshalb ist Verdrängung eine beliebte Reaktion. Die Lieblingsparteien vieler Veränderungserschöpften laden durch ihr „Reden-statt-Waffen“-Narrativ herzlich dazu ein, sich in der guten alten Zeit von Dialog und Abrüstungsverhandlungen zu wähnen – und damit außerhalb der gegenwärtigen Realität, in der sich Putin und Lawrow ein wiedererstandenes Großreich herbeibomben wollen.
Auf der anderen Seite sammelt Boris Pistorius seit Amtsantritt bemerkenswert viele Sympathiepunkte, weil er etwas für einen Verteidigungspolitiker Ungewöhnliches macht: Kriegsgefahr und prägnante Lücken deutscher Verteidigungsfähigkeit offen anzusprechen. Er behandelt Sicherheit nicht als gegeben, sondern als Ziel, bis zu dem noch eine Menge Meter gemacht werden müssen. Diese für einen Verteidigungsverantwortlichen erstaunliche Transparenz vermittelt neben den Fakten auch Haltung gegenüber dem Beschönigungsnarrativ: Lasst uns den Tatsachen ins Auge blicken und nüchtern handeln.
Das allein genügt aber nicht als Konter gegen das verlockende Weidel-Wagenknecht-Wunschdenken. Es braucht auch für die Regierungsposition ein Erzählmuster aus narrativen Vertrauensankern, die intuitive Zustimmung auslösen, weil sie auf lange eingefrästen Erfahrungen und Glaubenssätzen beruhen. Dafür stehen die folgenden Schlüsselbegriffe.
1. Sicherheit
Das übergeordnete Ziel; ist uneingeschränkt positiv assoziiert; und aus vielen anderen Politikbereichen ist gelernt, dass Sicherheit eine permanente Aufgabe ist und andauernde Anstrengungen erfordert.
2. Friedensordnung
Verbindet den Friedensbegriff (der nicht der Gegenseite überlassen werden darf) mit dem Ergebnis gestaltender und regelbasierter Politik. Ordnung steht für Stabilität, klare Grenzen. Und jeder weiß, dass sie zur Not auch mit Macht durchgesetzt werden muss. Sie ruht auf zwei Säulen: diplomatische Verständigung aller Beteiligten und Durchsetzung gegen jene, die sie umstoßen.
3. Schutz
Das Aufreißen der Wunde namens Krieg in Europa vergrößert die politische Sehnsucht nach Schutz. Der von Europa abrückende Fokus der USA vergrößert die Dringlichkeit. Deshalb gehört ins Zentrum eines neuen Sicherheitsnarrativs ein Schutzversprechen, basierend auf Kriegsvermeidung durch glaubwürdige Abschreckung, ein in Ost wie West gelerntes und bewährtes Konzept. Schutz durch Abschreckung hilft aus ängstlicher Apathie heraus, indem er im Sinne der Selbstwirksamkeit eigene Fähigkeiten gegen Kriegsgefahr mobilisiert.
4. Stärken
Glaubwürdig ist ein Sicherheits- und Schutznarrativ dann, wenn man den eigenen Streitkräften Verteidigung und Abschreckung auch zutraut. Im aktuell apathisch-selbstzweifelnden Deutschland keine Selbstverständlichkeit. Als glaubwürdiger Vertrauensanker taugt das Vertrauen in die technologischen Stärken eigener Militärtechnik. Aber auch die überlegene Attraktivität des geschützten Lebens in einer rechtsstaatlichen Ordnung stärkt im Wettbewerb mit Autokratien.
5. Gemeinschaft
Statt der Delegierung von Verteidigungsfähigkeit nach außen an die USA braucht es einen neuen Konsens nach innen, dass Sicherheit und Schutz stets das Ergebnis einer gesellschaftlichen Großanstrengung sind. Deutschland kann nicht nur Sicherheit, sondern auch Zusammenhalt gewinnen, sobald es den Schutz des freien Lebens seiner Menschen als verbindende Aufgabe begreift und organisiert.
Kommunikation nach einer Zeitenwende braucht beides: die Dekonstruktion eines Narrativs, das genau diese Wende negiert. Und ein Erzählmuster, das, aufbauend auf gelernten Überzeugungen und Erfahrungen, ein neues Ziel und den Weg dorthin formuliert. Ein neues Sicherheitsnarrativ kann die Bereitschaft, unbequeme Tatsachen ernst zu nehmen, nicht ersetzen; aber es kann politische Führung erleichtern und zum erforderlichen Rückhalt beitragen.
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