Den Kerngedanken des Gender Mainstreamings beschreibt das BMFSFJ auf seiner Website damit, dass es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gebe. Und deshalb die unterschiedlichen Auswirkungen politischer Entscheidungen auf die Geschlechter „grundsätzlich und systematisch“ zu berücksichtigen sind. Und dass die UN-Weltfrauenkonferenz 95 den Begriff etabliert habe. Konsequenz: ohne geschlechtsneutrale Wirklichkeit auch keine solche Sprache mehr.
Aus Sicht des ergrauten Sprachpraktikers fing die harte Zeit für das generische Maskulinum tatsächlich Ende der 90er an. Mit dem Argument, dass Frauen in männlichen Formulierungen nicht mehr nur „mitgemeint“ sein wollen, setzte sich eine self fulfilling Prophecy in Gang: Je mehr in der Praxis die Doppelnennung von männlichen und weiblichen Formulierungen zum Standard wurden, desto ausschließender wirkten Sätze in der rein männlichen Form.
Assoziierte man früher das Aufzählen beider Geschlechter mit dem weggenuschelten „Genossinnen und Genossen“ von Erich Honecker und verwendete es nur in sehr förmlicher Kommunikation (Sehr geehrte Damen und Herren“), wirken seitdem Begriffe wie Arzt oder Politiker immer mehr so, als seien nur die männlichen Exemplare gemeint.
Wer heute Mitte 30 ist oder jünger, ist mit der häufigen Doppelnennung beider Geschlechter aufgewachsen. Was gut erklärt, dass diese Generation heute viel Gender-freudiger spricht und schreibt als Ältere, die noch vom generischen Maskulinum geprägt sind und deshalb bei ihm weniger Störgefühle entwickeln.
Schon diese Entwicklung führte die Sprachpraxis weg von der offiziellen Orthographie. Denn die hält es bis heute für ein unglückliches Missverständnis, das grammatische Geschlecht mit dem biologischen gleichzusetzen. Aber weder der Hinweis auf die offizielle Lehre noch viele Beispiele von eindeutig weiblichen Wesen, die in unserer Sprache mit einem grammatisch männlichen oder neutralen Begriff bezeichnet werden, hilft ihr bei der Rehabilitation des generischen Maskulinums.
Zwei Gründe führten in der Folge zum Einsatz von Gender-Sonderzeichen: Die Sprachökonomie, schlicht weil die Doppelbezeichnungen zur erheblichen Satzverlängerung beitrugen - in einer Welt mit immer kürzeren Kommunikationsformen wurden Einwort-Bezeichnungen etwa für Berufe oder Staatsangehörigkeiten dringend gesucht. Und ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass die Doppelnennung noch immer die nicht binären Geschlechtsidentitäten ausblendet. Also ein neues Problem der sprachlichen Nicht-Repräsentation schafft.
Damit entstanden mehrere neue Probleme: Stilistisch sind die Sternchen und ihre Verwandten für keine Textform ein Gewinn. Es lassen sich leicht Beispielsätze formulieren, in denen mehrere Berufsbezeichnungen oder Nationalitäten auftauchen und die grauenhaft bürokratisch entseelt wirken, obwohl sie doch von Menschen handeln und ihnen „inklusiv“ zugewandt sein wollen. Erst recht bei Komposita wie „Beamt*innenanwärter*innen“ - puh! Zudem erforderten sie eine neue Sprechweise. Und es funktioniert nicht immer, gendert man „Franzosen“ mit o oder ö?
Aber vielleicht wiegt schwerer, dass Gender-Sonderzeichen in verschiedenen Teilen der Gesellschaft heute völlig unterschiedliche Wirkung auslösen und zum Symbol der Trennung von „Woken“ und „Normalen“ wurden.
Das Ergebnis dieser Vorgeschichte ist heute Verwirrung. Der Autor dieser Zeilen räumt häufigere Ratlosigkeit ein, in welcher Situation er wie sprechen oder schreiben soll. Kommunikation hat doch sowohl im professionellen wie im privaten Raum meist den Zweck, Menschen durch Austausch von Information und Meinung zu verbinden. Solange aber Sprachwahrnehmung von der Schubladisierung „gegendert“ oder „nicht gegendert“ überschattet wird, lässt sich kaum ein Satz sprechen, der nicht Teilen der Zuhörerschaft auf die Füße tritt.
Dabei ist diese vertrackte Situation entstanden, obwohl niemand etwas falsch gemacht hätte oder Übles im Schilde führte. Das Bedürfnis nach sprachlicher Repräsentanz ist ebensowenig kritisierbar wie der Wille, gemäß verbindender Regeln und Konvention ein stilistisch ansprechendes, flüssiges Deutsch zu sprechen und zu schreiben.
Leicht haben es nur die Menschen an beiden Polen der Debatte in ihren Bubbles: Wer konsequent am generischen Maskulinum festhält, hat - entsprechendes Publikum vorausgesetzt - keine Probleme, ansprechende, kurze und regelkonforme Sätze zu produzieren. Wer die Gender-Sonderzeichen-Sprechweise in die alltägliche Selbstverständlichkeit übernommen hat, vermeidet im eigenen Umfeld jeden Normverstoß und bekundet seine Zugehörigkeit zum inklusiv tickenden Teil der Welt einfach nur durch persönliche Sprachpraxis.
Das Problem haben aber alle anderen: alle mit dem Anspruch, in möglichst allen Teilen der Gesellschaft verstanden zu werden. Und das sind viele - in Politik, Wirtschaft und auch in der Werbung. Also alle, die professionelle Massenkommunikation betreiben. Aber auch all jene, deren private Lebenswelt sowohl Menschen mit ausgeprägter Gendersensibilität wie auch Praktizierende der überkommenen Sprachkonventionen umfasst. (Damit ist der Autor schon doppelt betroffen und somit doppelt ratlos).
Die deutschsprachigen Nachrichtenagenturen haben für unsereins bereits vor drei Jahren eine Arbeitshilfe für ihre Beschäftigten veröffentlicht, die auch anderen massenmedial Tätigen hilft. (Link) Grundgedanke: Solange sich keine Sonderzeichen-Lösung wirklich breit etabliert, bitte das generische Maskulinum durch Doppelnennung oder andere trickreiche Umwege vermeiden. (Wie in diesem Text).
Alle geschilderten Widersprüche auflösen kann und will das allerdings nicht. Semantisch wären schnell Grenzen überschritten, sobald nicht nur von Studierenden und Mitarbeitenden, sondern auf von Richtenden und Staatsanwaltenden die Rede wäre. Auch die Verarztenden hat (im Gegensatz zu den unsäglichen Gästinnen) noch niemand erfunden. Aber der Bedarf nach Ein-Wort-Bezeichnungen wird groß bleiben und sich seinen Weg bahnen.
Schön ausgedacht sind Versuche, neue, aber kompakte Formen von geschlechtsübergreifenden Formulierungen wie Professx“ (gesprochen: Professiks). Aber mal ehrlich - hat das Erfolgsaussichten, und wäre es wirklich stilistisch ein Fortschritt?
Ebenso hypothetisch ist wohl ein anderer Traum: Eine gesellschaftliche Verständigung auf die gute, alte grammatikalische Tatsache, Geschlecht und Geschlecht nicht gleichzusetzen. Die Praxis des generischen Maskulinums hatte nicht nur sprachökonomische und ästhetische Vorteile - sie hat, richtig aufgefasst, auch nicht binäre Identitäten eingeschlossen (vermutlich ohne sich dessen bewusst zu sein).
Dennoch mag die Hoffnung auf ein Wiederentdecken seiner Vorteile nicht recht gedeihen. Weil 25 Jahre intensiver Verwendung der Doppelnennung die Wahrnehmung verstärkt haben, dass es sich beim Chef wie beim Mitarbeiter, beim Franzosen wie beim Kunden vermutlich um männliche Lebensformen handelt. Und weil gesellschaftliche Großkonflikte wie die um das Gendern selten mit dem umfassenden Sieg einer Seite enden.
Aus der täglichen Schreibpraxis noch eine Selbstbeobachtung: Das permanente Vermeiden von „Gender-pflichtigen“ Formulierungen, wie es die Nachrichtenagenturen empfehlen, ist eine durchaus schwierige Lösung - kostet viel Aufmerksamkeit und vor allem stilistischen Freiraum, weil viele Formulierungsoptionen wegfallen. Zudem lässt sich bezweifeln, ob Studierende wirklich das gleiche sind wie Studenten oder -innen; die auf eine Tätigkeit verengende Verlaufsform tut fast so, als wenn man diese bunte und wertvolle Lebensphase ausschließlich beflissen in der Unibibliothek absitzt. Am Ende bleiben wieder viele Doppelnennungen, wider das Bedürfnis nach prägnanter Knappheit.
Deshalb bringt vielleicht auch hier der Mittelweg den Tod. Wieder eine ehrenhafte Idee ohne gutes Ergebnis. Aber es ist ja auch als eine Art Brückentechnologie gedacht.
Deshalb bleibt nur pragmatische Deeskalation:
- Gegenseitige Vorwürfe sind völlig fehl am Platz. Weder haben diejenigen, die das Gendern (mit und ohne Sonderzeichen) aufgebracht haben, finstere Motive verfolgt. Noch tun es diejenigen, die sich nach Abwägung von Pro und Contra anders entscheiden. Beide treiben respektable Motive.
- Politische Initiativen für „Genderverbote“ sind hingegen sichtlich anbiedernd motiviert. Ebenso unlegitimiert wie Punktabzüge für Nichtgendernde an Hochschulen, die ebenfalls Freiheit beschneiden.
- Es ist noch keine Lösung absehbar, die sich vollständig durchsetzt. Sagt sich leicht, aber eigentlich ist es mehr als bemerkenswert, da sich unsere Sprache auf längere Zeit faktisch einer klaren Normierung entziehen wird.
- Deshalb sollten wir das Nebeneinander lieben lernen. Ist besser für den Blutdruck und für das Miteinander. Den Promotern des Genderns liegt sicher nicht an noch mehr gesellschaftlicher Spaltung. Und die Fans der offiziellen Orthographie wollen damit nicht Geringschätzung gegenüber weiblichen oder diversen Personen bekunden.
- Soweit sich Genderneigung altersbedingt unterscheidet, entspannt zudem die Erinnerung, wie normal schon immer unterschiedliche Sprachgewohnheiten zwischen den Generationen waren.
- Erfolgsvoraussetzung: Wir nehmen es nicht zu wichtig. Wir denken beim Sprechen und Schreiben vor allem an Inhalt und Verständlichkeit. Und interpretieren Gendern oder Nichtgendern nicht als Differenzierungsmarken von Gruppenzugehörigkeit oder von ethisch-normativen Gut-Böse-Clustern.
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