Montag, 23. Juni 2025

Sicherheitspolitik von Ralf und Rolf - manifest daneben und dennoch lehrreich

Vor dem Bundesparteitag der SPD komponiert eine innerparteiliche Opposition gegen die Sicherheitspolitik von Scholz, Klingbeil und Pistorius einen manifesten „Diskussionsanstoß“ aus Erinnerungen an den Kalten Krieg und Erfolge sozialdemokratisch geprägter Entspannungspolitik. Verdient der so viel öffentliche Aufmerksamkeit? Wie verhalten sich die Kernaussagen zur Realität? Was blenden sie aus und was lässt sich daraus lernen?

 

Eine Beleuchtung entlang von sieben Zitaten:

 

Zitat 1: „In Deutschland und in den meisten europäischen Staaten haben

sich Kräfte durchgesetzt, die die Zukunft vor allem in einer militärischen

Konfrontationsstrategie und hunderten von Milliarden Euro für Aufrüstung suchen.“

 

Wenn „Kräfte“ eine „Konfrontationsstrategie“ suchen, verfolgen sie systematisch das Ziel, mit Gewalt die eigene Position zu verbessern. Es gibt aktuell exakt eine Kraft in Europa, die ein Nachbarland gewaltsam zu unterwerfen versucht.

 

Zitat 2: „Der Zwang zu immer mehr Rüstung und zur Vorbereitung auf einen angeblich drohenden Krieg wird beschworen, statt notwendige Verteidigungsfähigkeit mit einer Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik zu verknüpfen, um gemeinsame Sicherheit und gegenseitige Friedensfähigkeit zu erreichen.“ 

 

Hier und an anderen Stellen im Text nutzen die Autoren die von Populisten eingeübte Finte und kritisieren eine Position, die in der politischen Debatte überhaupt nicht existiert: Rüstung statt Verhandlungen. Absolut niemand bezweifelt, dass es Gespräche und Verhandlungen braucht, auf dem Weg  zur Beendigung des größten Krieges in Europa seit 1945 wie auch danach.

 

Zitat 3: „Wir sind davon überzeugt, dass das Konzept der gemeinsamen Sicherheit der einzige verantwortungsbewusste Weg ist, über alle ideologischen Unterschiede und Interessen-Gegensätze hinweg Krieg durch Konfrontation und Hochrüstung zu verhindern.“

 

Das klingt sympathisch, aber sich auf einen „einzigen Weg“ zu verlassen, wäre faktisch verheerend. Denn es verstellt jede Möglichkeit, mit einem militärisch gewichtigen Akteur umzugehen, der die „gemeinsame Sicherheit“ in Grund und Boden bombardiert. Eine Sicherheitspolitik, die nicht auf Handeln und Motive des Gegenübers reagieren könnte, wäre keine.

 

Zitat 4: „Vielen scheint gemeinsame Sicherheit heute illusorisch. Das ist ein gefährlicher Trugschluss, weil es zu einer solchen Politik keine verantwortungsbewusste Alternative gibt.“

 

Wenn es wirklich „keine  Alternative“ gäbe, könnte jeder Staat mit einem Nachbarn, der auf gemeinsame Sicherheit pfeift, einpacken. Natürlich braucht es eine Alternative zum Vertrauen auf beidseitigen Friedenswillen, und zwar Abschreckung durch Verteidigungsfähigkeit.

 

Zitat 5: „Zudem ist Europa heute mehr denn je gefordert, eigenständig Verantwortung zu übernehmen. Unter Präsident Trump verfolgen die USA erneut eine Politik, die auf Konfrontation besonders gegenüber China setzt. Damit wächst die Gefahr einer weiteren Militarisierung der internationalen Beziehungen.“

 

Von viel unmittelbarerer Relevanz für Europa ist an der US-Politik der angedrohte Abbau ihres erheblichen Abschreckungsbeitrags in Europa. Deshalb ist es zur Friedenserhaltung der europäischen NATO-Länder unabdingbar, die Abschreckungslücke schnellstmöglich zu schließen. Wer das ausblendet, verletzt die fundamentalen Sicherheitsinteressen der Menschen in Europa.

 

Zitat 6: „… Herstellung einer eigenständigen Verteidigungsfähigkeit der europäischen Staaten unabhängig von den USA. Stopp eines Rüstungswettlaufs. Europäische Sicherheitspolitik darf sich nicht am Prinzip der Aufrüstung und Kriegsvorbereitung, sondern muss sich an einer wirksamen Verteidigungsfähigkeit orientieren.“

 

Unabhängig von den USA kann europäischen Verteidigungsfähigkeit rein logisch nur sein, wenn Europa den US-Anteil an Abschreckung kompensiert. Also schnell und erheblich in Rüstung und militärische Ausbildung investiert. Ein Riesenaufgabe, die anzugehen die Autoren im gleichen Absatz mit dem Begriff „Kriegsvorbereitung“ diskreditieren.

 

Zitat 7: „Keine Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland. Die Stationierung von weitreichenden, hyperschnellen US-Raketen-Systemen in Deutschland würde unser Land zum Angriffsziel der ersten Stunde machen.“

 

Während die Regierungen Scholz und Merz alles versuch(t)en, um die USA noch etwas länger in Verantwortung für die Abschreckung in Europa zu halten, wollen die Autoren der russischen Seite ein Monopol auf Mittelstreckenraketen mit ihren extrem kurzen Vorwarnzeiten einräumen. Und behaupten auch noch, das wäre die für Deutschland sicherere Variante.

 

 

Dabei haben alle im Herbst 21 verfolgen können, wie Putin vorgeht: Eine militärische Drohkulisse an der Grenze schaffen, vom Westen die Rücknahme der Befreiung Mittelosteuropas von russischer Hegemonie verlangen und nach unbotmäßiger Reaktion einen Eroberungskrieg anordnen.

 

Muss die NATO mit einem russischen Angriff rechnen? Viel wahrscheinlicher ist doch das Muster vom Herbst 21: Militärischer Aufmarsch an einer „weichen Stelle“, das Einfordern von „Entgegenkommen gegenüber legitimen russischen Sicherheitsinteressen“ und, wenn das ausbleibt, ein zunächst begrenzter militärischer Schlag, um die die Glaubwürdigkeit der NATO-Abschreckung zu testen. Putin kann sich darauf verlassen, dass viele im Westen sofort das Gewicht der umstrittenen Quadratmeter Finnlands, Lettlands oder Litauens in Relation zur nuklearen Gefahr stellen werden. Damit hätte er wieder beste Chancen, unter dem Schutzschirm seines Nukleararsenals einen konventionellen Angriffskrieg zu führen.

 

Lässt sich etwas positiv aus dem Manifest ziehen?

 

Ja, die Formel von gemeinsamer Sicherheit ist und bleibt hervorragend geeignet, ein Zielbild für eine Friedensordnung zu beschreiben. Aber sie wäre den Namen nicht wert, wenn sie nicht auch eine kriegsvermeidende Antwort auf einen militärisch aggressiven Akteur bereithielte, der selbst durch die Verlockungen gemeinsamer ökonomischer Chancen nicht von Waffengewalt abzuhalten ist.

 

Ja, die diplomatische Flanke hat in den bisherigen Kriegsjahren kommunikativ weniger Präsenz gehabt als die militärische Unterstützung. Auch der Zielbegriff „Frieden“ schien lange Zeit gerade jenen zu gehören, die die Nöte und Rechte der angegriffenen Seite relativieren. Die hölzern-unbeholfene Kommunikation von Bundeskanzler Scholz hat nicht geholfen, in der Zeitenwende ein empathisches und klares Zielbild zu vermitteln. Das alles rechtfertigt aber nicht, die Legende vom dialogbereiten Putin und von Gesprächsverweigerung des Westens weiterzustricken.

 

Ja, wir können von der Deeskalation im Kalten Krieg Positives lernen, die Anstrengungen zu Abrüstung und regelbasierter Ordnung können belohnt werden. Aber der Öffentlichkeit weiszumachen, die Motivlage der aktuell Handelnden im Kreml seien vergleichbar mit der in Europa saturierten Sowjetunion nach Chruschtschow, verkleistert den Blick auf die Gegenwart. Putins Handeln und Reden zeichnet ein konsistentes Bild von einem, der den vermeintlich historisch begründeten Anspruch auf „sein“ Imperium einlösen will. Was nicht ohne Konflikt mit NATO-Ländern realisierbar ist.

 

Ja, es muss gelernten Sozialdemokraten schwerfallen, massive öffentliche Mittel in Rüstung zu stecken und dabei dem Kursanstieg von Rüstungsaktien zuzuschauen. Aber was bitte will Deutschland einer aggressiven und expansiven Militärmacht entgegenstellen, wenn nicht eine technologisch starke Verteidigungstechnik? Auch eine Lehre des Kalten Krieges: Wenn der Westen zahlenmäßig nicht mithalten kann bei Panzern und Soldaten, muss er auf Grundlage marktwirtschaftlicher Incentives einen technologischen Vorsprung aufbauen. Also seine Schlüsselstärke einsetzen.

 

Ja, wir müssen Abschreckung durch Verteidigungsfähigkeit unabhängig von den USA organisieren. Kein Aber.

 

Bleibt die Frage, was die Autoren antreibt und was sie beabsichtigen. Angesichts der offensichtlichen Auslassungen und logischen Brüche lässt sich leicht über die Wiederauferstehung der Moskau-Connection spekulieren. Die Aufweichung des sicherheitspolitischen Kurses einer kaum ersetzbaren Regierungspartei im größten Land des freien Europas wäre ein traumhaftes Geschenk für Putin.

 

Wer aber derart niederen Motiven misstraut, kann nur vermuten, dass auch bei manchen Profi-Politikern das Festhalten an Denkmechaniken aus der guten alten Zeit als Tugend und nicht als Beleg von Unbelehrbarkeit gilt. Oder dass Teile einer in elektorale Bedrängnis geratenen Partei ihr Heil im Nachplappern anderswo erfolgreicher Narrative suchen.

 

Wenn schon keine sozialdemokratische Positionierung ohne Zitate von Altvorderen auskommt, sei an Ferdinand Lassalle erinnert: „Alle große politische Aktion besteht in dem Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit.“ Wenn sich das Ist vom Gewesenen unterscheidet, verlangt es auch andere Antworten. Der Kalte Krieg war lehrreich, aber Putin agiert nicht als abschottender Systemverteidiger, sondern als revisionistischer Imperialist.

 

Die Sozialdemokratie steht traditionell für zwei Versprechen: Individuelle Sicherheit - und ihre kollektive Realisierbarkeit, sobald der Staat seine Kräfte dafür bündelt. Sozialdemokratische Außen- und Sicherheitspolitik könnte einen Beleg liefern, wie eine große gemeinsame Anstrengung aus der Wahrnehmung des passiven Ausgeliefertseins gegenüber kalt kalkulierenden Gewaltstaaten herausführt und einen verbindenden Spirit von Friedfertigkeit und Wehrhaftigkeit begründet.

 

Frieden und Sicherheit als gemeinsame gesellschaftliche Aufgabe - das wäre doch ein Leitmotiv für einen erfolgreichen Parteitag in besonderen Zeiten.

 

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