Damals, in der alten Normalität, hätte es jetzt kein anderes Thema gegeben als die letzten Tage zur Bundestagswahl. Wer kommt rein, wer fliegt raus, wer wird Kanzler, mit welchen Partnern?
Mit dem Ende des transatlantischen Westens als weltpolitischer Formation sind es Abgründe, die den Ausblick bestimmen. Die ökonomische, technologische und militärische Weltmacht Nr. 1 hat Deutschland und Westeuropa die Freundschaft gekündigt und sich mit den schlimmsten Gegnern unserer Freiheit verbündet. Jetzt und hier, auf der MSC im Bayerischen Hof, unserem sicherheitspolitischen Wohnzimmer. Global droht ein neues Jalta zur Verschiebung der Grenzen in Europa, nur ohne einen Churchill, also ohne gewichtige Stimme aus Europa.
Ob Merz mit Rot oder Grün koaliert, ist angesichts dessen so relevant wie der Münzwurf zur Seitenwahl im Vorrundenspiel für den Ausgang einer Fußball-WM.
All das trifft auf ein kaum reaktionsfähiges Europa: Militärisch schon mit dem bereits laufenden Krieg überfordert, in jeder Hinsicht vielstimmig, ohne Kraftzentrum und politisch schon länger von Trumps Brüdern und Schwestern im Geiste unter Druck. Ohne verbindende europäische Medien, ökonomisch in unbewältigte Transformation verwickelt und ohne eine gestaltungswillige Positivvision.
Prognostizieren lässt sich mit Blick auf die öffentliche Meinung nur eines: Die Gravitation der Bequemlichkeit. Wir alle werden - schon allein mit Blick auf unseren Schlaf oder, grundsätzlicher, unsere seelische Gesundheit - nach Gründen dafür fahnden, dass alles schon nicht soo schlimm wird. Dass doch auch „die Amis“ auf Bündnispartner angewiesen sind. Dass Europa doch der stärkste Weltwirtschaftsraum ist. Dass Trump sich keinen Sieger namens Putin erlauben kann. Oder anders, dass die Tage länger werden, die Krokusse rauskommen und man doch das Leben genießen und den Anvertrauten zuwenden solle.
Die verführerische politische Kraft, die das „jetzt erst mal in Ruhe nachdenken und dann schauen wir mal, wie schlimm alles wird“ repräsentiert, kann sich stets großer Sympathien gewiss sein. Oder vielleicht noch schnell im Sinne Luthers einen Apfelbaum pflanzen?
Und richtig ist ja: Existenzielle Bedrohungen zu vergegenwärtigen, in denen weder der Flucht- noch der Kampfreflex Abhilfe verspricht, ist tatsächlich ein dickes Brett für jede und jeden Einzelnen. Gerade ein Land, dessen Bewohner Politikprofessor Korte gern die „Sicherheitsdeutschen“ nennt, tut sich extrem schwer damit, dass der Ordnungsrahmen für ein Leben zwischen Schulpflicht und Frührente bedroht ist, weil unser freies und wohlständiges europäisches Leben seinen großen Beschützer verloren hat und uns nun mit allerlei disruptiven Zündeleien beschäftigt, während er unserem östlichen Aggro-Nachbarn freimütig imperialen Expansionsraum freiräumt.
Also dass Krieg, nüchtern bewertet, schlicht wahrscheinlicher geworden ist und damit das Ende von allem, was uns ausmacht. Kriege entstehen nun mal genau da, wo sich in einer militärischen Sicherheitsordnung Schwächen auftun. Und ohne verlässliches Bündnisversprechen ist Europa für Putin ein viel zu verlockendes Ziel, um es nicht - erst durch Bedrohung und Angst, dann durch Provokation und schließlich handgreiflich - herauszufordern. Zumal Krieg seine persönliche Macht schützt.
In München stand der Begriff Weckruf für die befreiende Hoffnung, dass Europa dieses Erlebnis zum heilsamen Schock kanalisiert. Doch Rufe jeder Art neigen zum Verhallen, wenn ihnen nichts von Substanz folgt.
Wie also müsste politische Führung agieren? Welche Positionierung könnte dem gefährlichen „Ruhe bewahren und weiterschauen“ standhalten? Einen Krieg wieder unwahrscheinlicher machen? Und dem Druck der Trump-Kamarilla auf eine Populistenrevolte auch in Europa Widerstandsgeist entgegenstellen?
Europäische politische Führung muss beides kontern: den Druck von außen und die Apathie der Hilflosigkeit im innern. Deshalb wäre ein zusammengestottertes neues Sicherheitsversprechen „von oben“ allein keine Lösung: Mehr Geld für äußere Sicherheit, mehr militärische Integration, technologisch und ökonomisch gestärkte Rüstungswirtschaft allein wären substanziell erst mal nur herbeibehauptete Sicherheit. Denn es dauert, bis sie wirken. Und jeder dieser notwendigen Einzelschritte wird erst mal von vielerlei Gegenwehr behindert und gebremst werden.
Außerdem würde es in der Denke paternalistischer Politik verharren: Liebe Leute, wir sorgen für sichere Renten, mehr Wohnungen, pünktliche Züge und nun auch wieder für Abschreckung und Wehrhaftigkeit. Eine Politikstil, den man schon bisher dafür kritisieren konnte, weil er allzuoft durch Enttäuschungserfahrungen ausgehöhlt wurde und in den Köpfen eine Trennung von Politik- und Eigenverantwortung zementiert hat: Sollen die Politikanbieter da oben erst mal machen, ich schau mir das an und wähle dann wieder ab, was mir nicht passt.
Der fundamentale Wandel, den die Sicherheit in Europa jetzt braucht, gelingt nur als gesellschaftliches Gemeinschaftsprojekt. Nur wenn wir den Washingtoner Regime Change und seine Schockwelle nach Europa in persönliches Handeln übersetzen, durchbrechen wir die Apathiefalle, in die uns der Cocktail aus Bequemlichkeit und Angst lockt, und stärken unsere Sicherheit dauerhaft und substanziell.
Sicherheit als Gemeinschaftsprojekt bedeutet alltäglich visible und persönliche Beiträge zur Abwehrbereitschaft:
- Wiederaufbau von Zivilverteidigung mit allem, was wir im Kalten Krieg gelernt und dann verdrängt haben, oft unterschätzte Grundvoraussetzung für glaubwürdige Wehrhaftigkeit
- schrittweiser Aufbau einer Wehrpflicht für Frauen und Männer
- freiwillige Beteiligung von Ungedienten bei militärischen Unterstützungsleistungen nach skandinavischem Vorbild
- Vorbereitung der zivilen Infrastruktur (Gesundheitswesen, Verkehr, Digitales) auf Verteidigungsfähigkeit
In deutschen Köpfen ist Krieg hypothetisch gleichbedeutend mit nuklearem Weltuntergang. Der Kriegspraktiker Putin hingegen kombiniert unterschiedlichste Mittel von Gewaltanwendung, um den Druck für eigene Ziele nach Bedarf zu vergrößern. Gegen die große Mehrzahl dieser Mittel gibt es Gegenwehr, die vorzubereiten in unseren Händen liegt. Und gegen die atomare Katastrophe glaubwürdige Abschreckung.
Sicherheit als gesellschaftsverbindendes Großprojekt ist nicht nur notwendig zur Verteidigung europäischer Handlungsfähigkeit und Freiheit. Sie ist auch das einzig glaubwürdige Sicherheitsversprechen im neuen Normal der Trump-atlantischen Realität, in der Artikel 5 des Nordatlantikvertrags seine Abschreckungsselbstverständlichkeit verloren hat.
Und sie wäre ein mobilisierendes Neustartprojekt für eine neue Bundesregierung in einem reanimierten europäischen Kraftzentrum.
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