Montag, 23. Juni 2025

Sicherheitspolitik von Ralf und Rolf - manifest daneben und dennoch lehrreich

Vor dem Bundesparteitag der SPD komponiert eine innerparteiliche Opposition gegen die Sicherheitspolitik von Scholz, Klingbeil und Pistorius einen manifesten „Diskussionsanstoß“ aus Erinnerungen an den Kalten Krieg und Erfolge sozialdemokratisch geprägter Entspannungspolitik. Verdient der so viel öffentliche Aufmerksamkeit? Wie verhalten sich die Kernaussagen zur Realität? Was blenden sie aus und was lässt sich daraus lernen?

 

Eine Beleuchtung entlang von sieben Zitaten:

 

Zitat 1: „In Deutschland und in den meisten europäischen Staaten haben

sich Kräfte durchgesetzt, die die Zukunft vor allem in einer militärischen

Konfrontationsstrategie und hunderten von Milliarden Euro für Aufrüstung suchen.“

 

Wenn „Kräfte“ eine „Konfrontationsstrategie“ suchen, verfolgen sie systematisch das Ziel, mit Gewalt die eigene Position zu verbessern. Es gibt aktuell exakt eine Kraft in Europa, die ein Nachbarland gewaltsam zu unterwerfen versucht.

 

Zitat 2: „Der Zwang zu immer mehr Rüstung und zur Vorbereitung auf einen angeblich drohenden Krieg wird beschworen, statt notwendige Verteidigungsfähigkeit mit einer Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik zu verknüpfen, um gemeinsame Sicherheit und gegenseitige Friedensfähigkeit zu erreichen.“ 

 

Hier und an anderen Stellen im Text nutzen die Autoren die von Populisten eingeübte Finte und kritisieren eine Position, die in der politischen Debatte überhaupt nicht existiert: Rüstung statt Verhandlungen. Absolut niemand bezweifelt, dass es Gespräche und Verhandlungen braucht, auf dem Weg  zur Beendigung des größten Krieges in Europa seit 1945 wie auch danach.

 

Zitat 3: „Wir sind davon überzeugt, dass das Konzept der gemeinsamen Sicherheit der einzige verantwortungsbewusste Weg ist, über alle ideologischen Unterschiede und Interessen-Gegensätze hinweg Krieg durch Konfrontation und Hochrüstung zu verhindern.“

 

Das klingt sympathisch, aber sich auf einen „einzigen Weg“ zu verlassen, wäre faktisch verheerend. Denn es verstellt jede Möglichkeit, mit einem militärisch gewichtigen Akteur umzugehen, der die „gemeinsame Sicherheit“ in Grund und Boden bombardiert. Eine Sicherheitspolitik, die nicht auf Handeln und Motive des Gegenübers reagieren könnte, wäre keine.

 

Zitat 4: „Vielen scheint gemeinsame Sicherheit heute illusorisch. Das ist ein gefährlicher Trugschluss, weil es zu einer solchen Politik keine verantwortungsbewusste Alternative gibt.“

 

Wenn es wirklich „keine  Alternative“ gäbe, könnte jeder Staat mit einem Nachbarn, der auf gemeinsame Sicherheit pfeift, einpacken. Natürlich braucht es eine Alternative zum Vertrauen auf beidseitigen Friedenswillen, und zwar Abschreckung durch Verteidigungsfähigkeit.

 

Zitat 5: „Zudem ist Europa heute mehr denn je gefordert, eigenständig Verantwortung zu übernehmen. Unter Präsident Trump verfolgen die USA erneut eine Politik, die auf Konfrontation besonders gegenüber China setzt. Damit wächst die Gefahr einer weiteren Militarisierung der internationalen Beziehungen.“

 

Von viel unmittelbarerer Relevanz für Europa ist an der US-Politik der angedrohte Abbau ihres erheblichen Abschreckungsbeitrags in Europa. Deshalb ist es zur Friedenserhaltung der europäischen NATO-Länder unabdingbar, die Abschreckungslücke schnellstmöglich zu schließen. Wer das ausblendet, verletzt die fundamentalen Sicherheitsinteressen der Menschen in Europa.

 

Zitat 6: „… Herstellung einer eigenständigen Verteidigungsfähigkeit der europäischen Staaten unabhängig von den USA. Stopp eines Rüstungswettlaufs. Europäische Sicherheitspolitik darf sich nicht am Prinzip der Aufrüstung und Kriegsvorbereitung, sondern muss sich an einer wirksamen Verteidigungsfähigkeit orientieren.“

 

Unabhängig von den USA kann europäischen Verteidigungsfähigkeit rein logisch nur sein, wenn Europa den US-Anteil an Abschreckung kompensiert. Also schnell und erheblich in Rüstung und militärische Ausbildung investiert. Ein Riesenaufgabe, die anzugehen die Autoren im gleichen Absatz mit dem Begriff „Kriegsvorbereitung“ diskreditieren.

 

Zitat 7: „Keine Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland. Die Stationierung von weitreichenden, hyperschnellen US-Raketen-Systemen in Deutschland würde unser Land zum Angriffsziel der ersten Stunde machen.“

 

Während die Regierungen Scholz und Merz alles versuch(t)en, um die USA noch etwas länger in Verantwortung für die Abschreckung in Europa zu halten, wollen die Autoren der russischen Seite ein Monopol auf Mittelstreckenraketen mit ihren extrem kurzen Vorwarnzeiten einräumen. Und behaupten auch noch, das wäre die für Deutschland sicherere Variante.

 

 

Dabei haben alle im Herbst 21 verfolgen können, wie Putin vorgeht: Eine militärische Drohkulisse an der Grenze schaffen, vom Westen die Rücknahme der Befreiung Mittelosteuropas von russischer Hegemonie verlangen und nach unbotmäßiger Reaktion einen Eroberungskrieg anordnen.

 

Muss die NATO mit einem russischen Angriff rechnen? Viel wahrscheinlicher ist doch das Muster vom Herbst 21: Militärischer Aufmarsch an einer „weichen Stelle“, das Einfordern von „Entgegenkommen gegenüber legitimen russischen Sicherheitsinteressen“ und, wenn das ausbleibt, ein zunächst begrenzter militärischer Schlag, um die die Glaubwürdigkeit der NATO-Abschreckung zu testen. Putin kann sich darauf verlassen, dass viele im Westen sofort das Gewicht der umstrittenen Quadratmeter Finnlands, Lettlands oder Litauens in Relation zur nuklearen Gefahr stellen werden. Damit hätte er wieder beste Chancen, unter dem Schutzschirm seines Nukleararsenals einen konventionellen Angriffskrieg zu führen.

 

Lässt sich etwas positiv aus dem Manifest ziehen?

 

Ja, die Formel von gemeinsamer Sicherheit ist und bleibt hervorragend geeignet, ein Zielbild für eine Friedensordnung zu beschreiben. Aber sie wäre den Namen nicht wert, wenn sie nicht auch eine kriegsvermeidende Antwort auf einen militärisch aggressiven Akteur bereithielte, der selbst durch die Verlockungen gemeinsamer ökonomischer Chancen nicht von Waffengewalt abzuhalten ist.

 

Ja, die diplomatische Flanke hat in den bisherigen Kriegsjahren kommunikativ weniger Präsenz gehabt als die militärische Unterstützung. Auch der Zielbegriff „Frieden“ schien lange Zeit gerade jenen zu gehören, die die Nöte und Rechte der angegriffenen Seite relativieren. Die hölzern-unbeholfene Kommunikation von Bundeskanzler Scholz hat nicht geholfen, in der Zeitenwende ein empathisches und klares Zielbild zu vermitteln. Das alles rechtfertigt aber nicht, die Legende vom dialogbereiten Putin und von Gesprächsverweigerung des Westens weiterzustricken.

 

Ja, wir können von der Deeskalation im Kalten Krieg Positives lernen, die Anstrengungen zu Abrüstung und regelbasierter Ordnung können belohnt werden. Aber der Öffentlichkeit weiszumachen, die Motivlage der aktuell Handelnden im Kreml seien vergleichbar mit der in Europa saturierten Sowjetunion nach Chruschtschow, verkleistert den Blick auf die Gegenwart. Putins Handeln und Reden zeichnet ein konsistentes Bild von einem, der den vermeintlich historisch begründeten Anspruch auf „sein“ Imperium einlösen will. Was nicht ohne Konflikt mit NATO-Ländern realisierbar ist.

 

Ja, es muss gelernten Sozialdemokraten schwerfallen, massive öffentliche Mittel in Rüstung zu stecken und dabei dem Kursanstieg von Rüstungsaktien zuzuschauen. Aber was bitte will Deutschland einer aggressiven und expansiven Militärmacht entgegenstellen, wenn nicht eine technologisch starke Verteidigungstechnik? Auch eine Lehre des Kalten Krieges: Wenn der Westen zahlenmäßig nicht mithalten kann bei Panzern und Soldaten, muss er auf Grundlage marktwirtschaftlicher Incentives einen technologischen Vorsprung aufbauen. Also seine Schlüsselstärke einsetzen.

 

Ja, wir müssen Abschreckung durch Verteidigungsfähigkeit unabhängig von den USA organisieren. Kein Aber.

 

Bleibt die Frage, was die Autoren antreibt und was sie beabsichtigen. Angesichts der offensichtlichen Auslassungen und logischen Brüche lässt sich leicht über die Wiederauferstehung der Moskau-Connection spekulieren. Die Aufweichung des sicherheitspolitischen Kurses einer kaum ersetzbaren Regierungspartei im größten Land des freien Europas wäre ein traumhaftes Geschenk für Putin.

 

Wer aber derart niederen Motiven misstraut, kann nur vermuten, dass auch bei manchen Profi-Politikern das Festhalten an Denkmechaniken aus der guten alten Zeit als Tugend und nicht als Beleg von Unbelehrbarkeit gilt. Oder dass Teile einer in elektorale Bedrängnis geratenen Partei ihr Heil im Nachplappern anderswo erfolgreicher Narrative suchen.

 

Wenn schon keine sozialdemokratische Positionierung ohne Zitate von Altvorderen auskommt, sei an Ferdinand Lassalle erinnert: „Alle große politische Aktion besteht in dem Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit.“ Wenn sich das Ist vom Gewesenen unterscheidet, verlangt es auch andere Antworten. Der Kalte Krieg war lehrreich, aber Putin agiert nicht als abschottender Systemverteidiger, sondern als revisionistischer Imperialist.

 

Die Sozialdemokratie steht traditionell für zwei Versprechen: Individuelle Sicherheit - und ihre kollektive Realisierbarkeit, sobald der Staat seine Kräfte dafür bündelt. Sozialdemokratische Außen- und Sicherheitspolitik könnte einen Beleg liefern, wie eine große gemeinsame Anstrengung aus der Wahrnehmung des passiven Ausgeliefertseins gegenüber kalt kalkulierenden Gewaltstaaten herausführt und einen verbindenden Spirit von Friedfertigkeit und Wehrhaftigkeit begründet.

 

Frieden und Sicherheit als gemeinsame gesellschaftliche Aufgabe - das wäre doch ein Leitmotiv für einen erfolgreichen Parteitag in besonderen Zeiten.

 

Montag, 17. Februar 2025

Apfelbaum gegen Apathie? Politisch-kommunikative Führung in der Welt der Trump-atlantischen Beziehungen

Damals, in der alten Normalität, hätte es jetzt kein anderes Thema gegeben als die letzten Tage zur Bundestagswahl. Wer kommt rein, wer fliegt raus, wer wird Kanzler, mit welchen Partnern?

Mit dem Ende des transatlantischen Westens als weltpolitischer Formation sind es Abgründe, die den Ausblick bestimmen. Die ökonomische, technologische und militärische Weltmacht Nr. 1 hat Deutschland und Westeuropa die Freundschaft gekündigt und sich mit den schlimmsten Gegnern unserer Freiheit verbündet. Jetzt und hier, auf der MSC im Bayerischen Hof, unserem sicherheitspolitischen Wohnzimmer. Global droht ein neues Jalta zur Verschiebung der Grenzen in Europa, nur ohne einen Churchill, also ohne gewichtige Stimme aus Europa.

Ob Merz mit Rot oder Grün koaliert, ist angesichts dessen so relevant wie der Münzwurf zur Seitenwahl im Vorrundenspiel für den Ausgang einer Fußball-WM.

All das trifft auf ein kaum reaktionsfähiges Europa: Militärisch schon mit dem bereits laufenden Krieg überfordert, in jeder Hinsicht vielstimmig, ohne Kraftzentrum und politisch schon länger von Trumps Brüdern und Schwestern im Geiste unter Druck. Ohne verbindende europäische Medien, ökonomisch in unbewältigte Transformation verwickelt und ohne eine gestaltungswillige Positivvision.

Prognostizieren lässt sich mit Blick auf die öffentliche Meinung nur eines: Die Gravitation der Bequemlichkeit. Wir alle werden - schon allein mit Blick auf unseren Schlaf oder, grundsätzlicher, unsere seelische Gesundheit - nach Gründen dafür fahnden, dass alles schon nicht soo schlimm wird. Dass doch auch „die Amis“ auf Bündnispartner angewiesen sind. Dass Europa doch der stärkste Weltwirtschaftsraum ist. Dass Trump sich keinen Sieger namens Putin erlauben kann. Oder anders, dass die Tage länger werden, die Krokusse rauskommen und man doch das Leben genießen und den Anvertrauten zuwenden solle.

Die verführerische politische Kraft, die das „jetzt erst mal in Ruhe nachdenken und dann schauen wir mal, wie schlimm alles wird“ repräsentiert, kann sich stets großer Sympathien gewiss sein. Oder vielleicht noch schnell im Sinne Luthers einen Apfelbaum pflanzen?

Und richtig ist ja: Existenzielle Bedrohungen zu vergegenwärtigen, in denen weder der Flucht- noch der Kampfreflex Abhilfe verspricht, ist tatsächlich ein dickes Brett für jede und jeden Einzelnen. Gerade ein Land, dessen Bewohner Politikprofessor Korte gern die „Sicherheitsdeutschen“ nennt, tut sich extrem schwer damit, dass der Ordnungsrahmen für ein Leben zwischen Schulpflicht und Frührente bedroht ist, weil unser freies und wohlständiges europäisches Leben seinen großen Beschützer verloren hat und uns nun mit allerlei disruptiven Zündeleien beschäftigt, während er unserem östlichen Aggro-Nachbarn freimütig imperialen Expansionsraum freiräumt.

Also dass Krieg, nüchtern bewertet, schlicht wahrscheinlicher geworden ist und damit das Ende von allem, was uns ausmacht. Kriege entstehen nun mal genau da, wo sich in einer militärischen Sicherheitsordnung Schwächen auftun. Und ohne verlässliches Bündnisversprechen ist Europa für Putin ein viel zu verlockendes Ziel, um es nicht - erst durch Bedrohung und Angst, dann durch Provokation und schließlich handgreiflich - herauszufordern. Zumal Krieg seine persönliche Macht schützt.

In München stand der Begriff Weckruf für die befreiende Hoffnung, dass Europa dieses Erlebnis zum heilsamen Schock kanalisiert. Doch Rufe jeder Art neigen zum Verhallen, wenn ihnen nichts von Substanz folgt.

Wie also müsste politische Führung agieren? Welche Positionierung könnte dem gefährlichen  „Ruhe bewahren und weiterschauen“ standhalten? Einen Krieg wieder unwahrscheinlicher machen? Und dem Druck der Trump-Kamarilla auf eine Populistenrevolte auch in Europa Widerstandsgeist entgegenstellen?

Europäische politische Führung muss beides kontern: den Druck von außen und die Apathie der Hilflosigkeit im innern. Deshalb wäre ein zusammengestottertes neues Sicherheitsversprechen „von oben“ allein keine Lösung: Mehr Geld für äußere Sicherheit, mehr militärische Integration, technologisch und ökonomisch gestärkte Rüstungswirtschaft allein wären substanziell erst mal nur herbeibehauptete Sicherheit. Denn es dauert, bis sie wirken. Und jeder dieser notwendigen Einzelschritte wird erst mal von vielerlei Gegenwehr behindert und gebremst werden.

Außerdem würde es in der Denke paternalistischer Politik verharren: Liebe Leute, wir sorgen für sichere Renten, mehr Wohnungen, pünktliche Züge und nun auch wieder für Abschreckung und Wehrhaftigkeit. Eine Politikstil, den man schon bisher dafür kritisieren konnte, weil er allzuoft durch Enttäuschungserfahrungen ausgehöhlt wurde und in den Köpfen eine Trennung von Politik- und Eigenverantwortung zementiert hat: Sollen die Politikanbieter da oben erst mal machen, ich schau mir das an und wähle dann wieder ab, was mir nicht passt.

Der fundamentale Wandel, den die Sicherheit in Europa jetzt braucht, gelingt nur als gesellschaftliches Gemeinschaftsprojekt. Nur wenn wir den Washingtoner Regime Change und seine Schockwelle nach Europa in persönliches Handeln übersetzen, durchbrechen wir die Apathiefalle, in die uns der Cocktail aus Bequemlichkeit und Angst lockt, und stärken unsere Sicherheit dauerhaft und substanziell.

Sicherheit als Gemeinschaftsprojekt bedeutet alltäglich visible und persönliche Beiträge zur Abwehrbereitschaft:

  • Wiederaufbau von Zivilverteidigung mit allem, was wir im Kalten Krieg gelernt und dann verdrängt haben, oft unterschätzte Grundvoraussetzung für glaubwürdige Wehrhaftigkeit
  • schrittweiser Aufbau einer Wehrpflicht für Frauen und Männer
  • freiwillige Beteiligung von Ungedienten bei militärischen Unterstützungsleistungen nach skandinavischem Vorbild
  • Vorbereitung der zivilen Infrastruktur (Gesundheitswesen, Verkehr, Digitales) auf Verteidigungsfähigkeit


In deutschen Köpfen ist Krieg hypothetisch gleichbedeutend mit nuklearem Weltuntergang. Der Kriegspraktiker Putin hingegen kombiniert unterschiedlichste Mittel von Gewaltanwendung, um den Druck für eigene Ziele nach Bedarf zu vergrößern. Gegen die große Mehrzahl dieser Mittel gibt es Gegenwehr, die vorzubereiten in unseren Händen liegt. Und gegen die atomare Katastrophe glaubwürdige Abschreckung.

Sicherheit als gesellschaftsverbindendes Großprojekt ist nicht nur notwendig zur Verteidigung europäischer Handlungsfähigkeit und Freiheit. Sie ist auch das einzig glaubwürdige Sicherheitsversprechen im neuen Normal der Trump-atlantischen Realität, in der Artikel 5 des Nordatlantikvertrags seine Abschreckungsselbstverständlichkeit verloren hat.

Und sie wäre ein mobilisierendes Neustartprojekt für eine neue Bundesregierung in einem reanimierten europäischen Kraftzentrum.

Montag, 27. Januar 2025

Merz und seine Basta-Show - die rot-grüne Wahl zwischen Falle und Führung

Der Fünf-Punkte-Merz-Move stellt SPD und Grünen eine Falle. Die Falle schnappt zu, sobald beide nach dem Schema reagieren, noch mehr sei zur Kontrolle von Zuwanderung rechtlich nicht machbar.

Diese Falle fußt auf der schiefen öffentlichen Wahrnehmung, dass ein Großteil von Gewaltverbrechen in Deutschland auf Asylbewerber zurückgehe. Da in den letzten Monaten und Jahren keine relevante politische oder mediale Kraft dieser Wahrnehmung entgegengetreten ist, würde es jetzt, wenn es von SPD und Grünen käme, wie ein verachtungswürdiger Beschwichtigungsversuch wirken. Was Medien nicht aus der Verantwortung nimmt, die quantitativen Maßstäbe zurechtzurücken.

Die Parteien müssen aber mit der Wahrnehmung umgehen, wie sie ist. Meinungen sind Tatsachen, zumal im Wahlkampf.

Es ist mehr als nachvollziehbar, dass SPD und Grüne Merz für den Tabubruch kritisieren, gemeinsam mit der AfD eine parlamentarische Mehrheit anzustreben. Ausgerechnet bei deren Leib- und Magenthema Migration legt die Union den rechtsradikalen Menschenfeinden den roten Teppich zur gemeinsamen Mehrheit aus. Und das vermeintliche Gesprächsangebot an die Mitte-Parteien killt Merz selbst mit seinem Ausschluss von Kompromissmöglichkeiten.   

In den Augen eines Großteils der ungebundenen Wählerschaft aber wird SPD und Grünen auch begründete Merz-Kritik kaum helfen, solange sie sich in der Falle bewegen, das substanzielle Abhilfe rechtlich und nicht möglich sei.

Es wird auch wenig helfen, Merz die Widersprüche zwischen seinen bisherigen Aussagen zur Zusammenarbeit mit der AfD nachzuweisen. Weil er das emotionale "Argument" auf seiner Seite hat, genug sei nun mal genug.

Es ist keine durchhaltbare politische Position bei einem von der Öffentlichkeit als hoch relevant eingeordneten Thema, in langen juristischen Begründungskaskaden immer wieder Handlungsunfähigkeit zu dokumentieren. Oder Fortschritte der letzten Monate als wertvolle Lösungsschritte darzustellen, während die Öffentlichkeit weitere schwerste Straftaten verarbeiten muss. Oder auf das Bashing föderaler Einzelakteure zu setzen. All das wird, wie so oft in der politischen Öffentlichkeit, unabhängig von faktischer Substanz keine breite Zustimmung auslösen, keine Affekte besänftigen.

Deshalb ist der vermutliche Verlauf der Debatte prognostizierbar: Das Merz-Manöver wird sowohl SPD und Grünen als auch AfD und Union in ihrer Kernklientel bei der Wählerbindung helfen. Also im brisantesten Wahlkampfthema die Gesellschaft noch tiefer spalten. Da AfD und Union aktuell eine weit stärkere öffentliche Unterstützung genießen, werden SPD und Grüne die relativen Verlierer einer noch stärker zementierten Spaltung sein.

AfD-Wahlwillige haben dabei durch den Merz-Move keinerlei Grund, nicht die AfD zu wählen. Sie werden vielmehr bestärkt, auf der richtigen Seite zu stehen.

Dass SPD und Grüne dieser Falle entgehen, ist nach den ersten Reaktionen von Scholz und Habeck nicht wahrscheinlich. Denn sie bewegen sich in ihren üblichen Gewässern.

Beide haben Zeit bis zur Bundestagsdebatte am Mittwoch, der noch erreichbaren unentschlossenen Wählerschaft Gründe zu liefern, ihnen erneut Gehör zu gewähren. Noch einmal zuhören wird man bei neuen (!) Aussagen mit einer belastbaren praktischen (!) Wirkung auf die Gewaltkriminalität. In Verbindung mit dem Nachweis, dass der Merz-Weg genau diese praktische Wirkung nicht hätte.

Raum für eine hinhörenswerte Neupositionierung bieten Aspekte, die bisher hinter den Themen Grenzkontrollen und Abschiebungen nicht die gebührende Aufmerksamkeit genießen: die träge, papierbeschwerte Bürokratie im kleinschrittigen Zusammenspiel von Behörden mit engen Detailzuständigkeiten. Da Attentate wie in Magdeburg und Aschaffenburg verhindert worden wären, wenn "der Staat" nach dem ihm vorliegenden Wissen hätte handeln können, hätte ein Paket aus konsequenter Digitalisierung im Behördenverkehr, begradigten Zuständigkeiten, Neujustierung von Datenschutz und digitalen Fahndungsoptionen reale Relevanz zur Verhinderung weiterer Straftaten.

Hinhörenswert wäre es gerade dann, wenn SPD und Grüne angesichts der brisanten gesellschaftlichen Situation öffentlich einige überkommene Positionen räumen würden (etwa bei Datenspeicherung oder digitaler Gesichtserkennung).

Eine solche Kurskorrektur würde die vielleicht größte Schwäche der Scholz-Kommunikation kontern: sich nie öffentlich zu hinterfragen und Fehler einzuräumen. Einer Ursache dafür, dass er auf viele wirkt wie ein Kanzler von einem anderen Stern.

Einem öffentlichen Bedürfnis nach Neugewichtung zwischen Datenschutz und innerer Sicherheit zu folgen, wäre nicht anrüchig,  sondern ebenso legitim wie verfassungskonform. Und vor allem würde es der Kriminalitätsbekämpfung auch in der großen Mehrheit der Fälle dienen, in denen Asylbewerber keine Rolle spielen.

Kraft bekäme eine solche Umpositionierung nicht nur durch die Argumente für die Änderungen, sondern durch den Vergleich mit der dürren praktischen Wirkung der fünf Merz-Punkte. Denn die würden durch die ihnen inhärenten juristischen Auseinandersetzungen über Monate und Jahre schlicht nichts ändern. Schließlich hat Merz anders als Trump die obersten Gerichte nicht unter Kontrolle.

SPD und Grüne entgehen der von Merz gestellten Falle nur, wenn sie ihren parteitypischen Reflexen entsagen und die öffentliche Erwartung nach substanziellen Reaktionen bedienen. Nur wenn dies überraschend, schnell und konsequent erfolgt, könnte es noch öffentliche Wirkung entfalten. Und den eigenen Wählkämpfern Selbstbewusstsein für Haustür und Fußgängerzone mitgeben.

Es würde den Merz-Move dastehen lassen als das, was er ist: ein hektisches Wahlkampfmanöver, zudem im Widerspruch zur großen demokratischen Tradition der Union. Letztlich bestätigt Merz die Erwartung von Beobachtern, irgendwann im Wahlkampf die Nerven zu verlieren. Fünf krawallige Pseudoreformen auf der Welle der Empörung über Aschaffenburg wären vielleicht nur traurig - die Kombination mit der expliziten Einladung an die AfD und der Annoncierung von Kompromisslosigkeit gegenüber der demokratischen Mitte konterkarieren Merz' Bemühen, sich als nüchterner und lösungsorienterter Kandidat für die breite Mitte in Deutschland zu präsentieren.

Wenn aber SPD und Grüne nicht entschieden, mutig und klug reagieren, sind sie die Nettoverlierer der sauerländischen Basta-Show.