Dienstag, 13. August 2024

Antworten auf Wagenknecht - der Kampf um das Friedensnarrativ

Vielleicht ist es in der Debatte über politische Kommunikation der Modebegriff überhaut: das Narrativ. Dabei wird es gern vereinfachend auf Formulierungsstanzen reduziert, die in immergleichen Worten immergleiche Positionen repräsentieren und so Politik und ihre Köpfe „branden“. 

Herfried Münkler beschreibt in seiner „Welt in Aufruhr“ das Konzept von Narrativen wesentlich treffender als Erzählmuster, „in denen es um die Herkunft und Zukunft eines Sozialverbandes oder politischen Akteurs geht […]. Dabei sind Narrative nicht mit den ihnen verbundenen Erzählungen identisch, sondern bezeichnen die Muster, die den Erzählungen zugrunde liegen. […] Narrative und Symbole sorgen dafür, dass wir in einer bestimmten Gruppe von Erzählungen und Bildern dieselbe Idee erkennen, so dass diese uns «vertraut» erscheint und ein Signum des Eigenen oder des Fremden ist.“ Und diese Vertrautheit trägt viel zur Bereitschaft bei, zuzustimmen und sich von den „Fremden“ mit anderer Ideenbasis abzugrenzen.

 

Das aktuell vielleicht erfolgreichste Narrativ lässt sich mit den Worten „Reden statt Waffen“ skizzieren. Das BSW hat unter dem Schirm dieses Musters sogar auf Landesebene das Koalitionsjunktim postuliert, Putin faktisch freie Hand in der Ukraine zu geben. Keinem anderen Thema räumte Frau Wagenknecht so viel Gewicht ein. Das Kalkül ist nachvollziehbar – mit seinem Friedensversprechen profiliert sich das ansonsten programmatisch schwer greifbare Parteien-Startup so erfolgreich, dass es nach den kommenden Landtagswahlen eine Königsmacher-Rolle erwarten kann, obwohl kaum jemand spezifische landespolitischen BSW-Positionen benennen könnte.

 

Nicht anders die AfD: Die Rechtsextremisten nehmen die Chance dankbar entgegen, ihrem Dauerbrennerthema Migration einen starken Sekundanten zu Seite zu stellen und sich feixend mit der Friedenstaube zu schmücken, um ihr grob gerastertes Zielbild vom besseren Gestern moralisch zu garnieren.

 

 

Die Macht des Honigtopfs

 

Alle diesseits von BSW und AfD leiden erkennbar unter der großen Anziehungskraft des Denkmusters „Reden statt Waffen“. Denn es drückt emotional mächtige Knöpfe, in Ost wie West.

 

Wer den Kalten Krieg im Westen erlebt hat, erinnert zwei Phasen:  

  •  Die Block-Auseinandersetzung, die Europa Jahrzehnte eines hochgerüstetenriedens gebracht hat. Die Sowjetunion hatte sich selbst eingemauert und in Rüstungs- wie Abrüstungsfragen recht berechenbar agiert. Und was ansonsten in ihrer Einflusszone passierte, war das Problem einer ganz anderen Welt.
  • Die Phase der Friedensdividende, in der sich der Verteidigungsauftrag der Bundeswehr mangels Bedrohung in Luft auflöste und die freiwerdenden zig Milliarden in schöne Dinge flossen, während enge Wirtschaftsbeziehungen mit Russland beide Seiten scheinbar zu einem friedlichen Nebeneinander disziplinierten.

 

Aus ostdeutscher Sicht ein anderes Erleben, aber mit ähnlichen Konsequenzen für heute:

  •  Bis zum Mauerfall war die Sowjetunion ein täglich sichtbarer Machtfaktor. Wer im Rahmen der Möglichkeiten mit seiner Familie gut und in Frieden leben wollte, tat gut daran, den „russischen Bären“ und seine hiesigen Vertreter nicht zu reizen.
  •  Mit dem Ende der Sowjetunion endete die Zeit der Übersichtlichkeit. Den neuen Freiheiten standen große Verletzungen und Unsicherheiten gegenüber. Eingespielte Wirtschaftskontakte nach Russland galten als eine der wenigen ökonomischen Chancen des Ostens.

 

Vor dem Hintergrund beider Vorgeschichten wird verständlich, wie sich Ost- wie Westdeutsche im eingefrorenen Ost-West-Konflikt eingerichtet hatten und wie leicht es Populisten heute haben, die alte Berechenbarkeit herbeizubeschönigen. Das unterkomplexe Friedensversprechen von BSW und AfD ist: Die müssen endlich wieder miteinander reden, und dann wird schon alles gut. Dieses Versprechen findet viel  Beifall unter jenen, die entlang der sorgfältig abgesteckten imperialen Schnittstelle in Europa ihren Weg finden mussten.

 

Die intuitive Zustimmung vor dem Hintergrund vergangener Erfahrungen und Erzählungen macht den Zauber und damit die Macht erfolgreicher Narrative aus. Ein Honigtopf voller Erinnerungen an geordnete und kriegsfreie Zeiten, verbunden mit dem verlockendsten Angebot überhaupt: Lehnt Euch zurück, die sollen endlichen reden und alles wird gut. Garniert mit eingeübten Aversionen gegen die Rüstungswirtschaft und die USA sowie mit dem alt-rechten Gedanken von Äquidistanz zwischen Ost und West, dessen Wurzeln weit ins Kaiserreich zurückreichen.

 

Das „Reden-statt-Waffen“-Narrativ wirkt (unabhängig von der real verwendeten Formulierung) mehrfach attraktiv:

  • Es klingt sofort sympathisch, weil friedliebend.
  • Es knüpft an persönliche Erfahrungen aus geordneten Zeiten ohne Krieg in Europa an.
  • Es entlastet: Denn „wir“ sind damit raus - raus der Verpflichtung zur Unterstützung und dem ungeliebten militärischen Denken überhaupt und raus aus der Last, zu sehr mit dem überfallenen Land und seinen Menschen zu leiden, sollen die doch endlich verhandeln.

 

Zu Kriegsbeginn sprach Lawrow die diabolische Einladung an den Westen aus, das Ganze doch bitte als Auseinandersetzung zwischen slawischen Verwandten zu verstehen – wie bequem wäre doch so viel emotionale Distanz zum Töten und Sterben.

 

Stellt sich die Frage, wie sich dieses Narrativ zur Realität verhält und wie es jene entzaubern können, die Politik in eben dieser Realität verantworten.

 

 

Narrativ mit inneren Widersprüchen

 

Ein zentraler Hebel zum Entzaubern: Der Gegensatz im „Reden statt Waffen“ ist logisch einfach nur unsinnig. Kriege wurden schon immer durch Verhandlungen beendet, so wird es auch hier sein und niemand bezweifelt das. Nur dass die Seite ohne wettbewerbsfähige Waffen dabei null Verhandlungsgewicht hat, solange die Gegenseite militärische Überlegenheit mit Macht einsetzt. Die Reden-statt-Waffen-Anhängerschaft verweigert konsequent die Antwort, was die Konsequenz wäre, nämlich blanke Unterwerfung.

 

Wer einem Angegriffenen das Recht zur Verteidigung abspricht, kollidiert nicht nur mit dem Völkerrecht, er bereitet den Zielen des Aggressors den Weg. Wer im Gewand der „Reden-statt-Waffen“-Logik für das Ausbluten der ukrainischen Gegenwehr eintritt, gibt der größten europäischen Militärmacht freie Hand auch für weitere Überfälle. Friendly Reminder: Putins Benchmark, das sowjetische Imperium, war ziemlich ausladend!

 

Widersprüchlich argumentieren die Wagenknechte bei der Einordnung der relativen Stärke Russlands: Einerseits singen sie das Lied von den Einkreisungsängsten des ach so bedrohten Riesenlandes. Gleichzeitig soll aber die Ukraine unverzüglich die Waffen strecken, da sie militärisch eh chancenlos sei. Russland ist für sie an seiner Außengrenze schutzbedürftig schwach und übermächtig stark zugleich, Hauptsache der Westen ist schuld.

 

Der dritte Denkfehler: Die Analogie zwischen Putins Russland und der UdSSR seit Chruschtschow. Die erinnerungspolitische Gleichsetzung der seit den 60ern saturierten Sowjetunion mit Putins revisionistischem Russland kollabiert in sich selbst, sobald man die Fakten wahrzunehmen bereit ist. Seit 20 Jahren beweist Putin mit Worten und Taten, in der Wiederherstellung imperialer Größe nach den brutalen Regeln des 19. und mit den Waffen des 21. Jahrhunderts den zentralen Sinn seiner Herrschaft zu sehen. Lenin vermochte es innerhalb weniger Jahre, das in WW1 verlorene zaristische Großreich weitgehend zurückzuerobern. In Putins Logik muss die Geschichte nun nach dem sowjetischen Kollaps mit militärischen Mitteln korrigiert werden.

 

Dass die Welt nach 1945 nach anderen Regeln funktioniert und sich im nuklearen Zeitalter aggressiver Imperialismus mehr denn je verbietet, steht in seinen Augen selbstverständlich hinter seiner nationalistischen Mission zurück. Er pfeift im Unterschied zur Sowjetunion auf Verträge und Verpflichtungen und hat spätestens seit 2014 allen Wunschträumen, er werde in das System vertraglicher internationaler Regeln zurückkehren, den imperialen Mittelfinger gezeigt. Stattdessen begeht er den maximalen Tabubruch in der europäischen Friedensordnung und will sich das zweitgrößte europäische Flächenland einverleiben, im Vertrauen auf Unverletzlichkeit durch seine Nuklearmacht.

 

Doch während das „heilige Russland“ die Wiedergewinnung alter Größe mit aller Brutalität betreibt, rutscht diese ernste Erkenntnis auf gleich zwei Teflonschichten aus vielen Köpfen: Auf der Erinnerung an das geordnete Nebeneinander mit der UdSSR vor 1990 und auf der epochalen Erfahrung des kooperativen Aufbruchs der 90er. Zwei Epochen und mehrere Jahrzehnte Lebenserfahrung stehen dem Wahrhaben des erschreckenden Hier und Jetzt entgegen: Krieg ist wieder gestaltende Realität in Europa.

 

Alle Fakten helfen nicht, wenn sie gegen ein verlockend sympathisches und einfaches Narrativ verpuffen. Die Kanzler-Botschaft von der Zeitenwende war vielleicht die verstörendste Botschaft der deutschen Nachkriegszeit. Denn sie offenbarte, dass militärische Handlungsfähigkeit zum existenziellen Faktor der Gegenwart geworden ist. Den Traum vom Friedenschaffen ohne Waffen haben Putins Panzer überrollt, aber kritisiert wurde jener, der die Tatsachen aussprach.

 

Bausteine eines Zeitenwende-Narrativs

 

30 Kriegsmonate später will ein Viertel der Westdeutschen und die Hälfte der Ostdeutschen Parteien wählen, die „Reden statt Waffen“ plakatieren und damit de facto die Ukraine vor den Bus werfen. Wie kann eine kommunikative Antwort darauf aussehen? Wie formuliert sich ein Zeitenwende-Narrativ, das in Sachen intuitiver Zustimmungsfähigkeit mithält? Das die Lebenserfahrung der Deutschen und ihre emotionalen Bedürfnisse spiegelt und die Realitäten anerkennt?

 

Ausgangspunkt eines erfolgversprechenden Konters ist die Tatsache, dass BSW und AfD den Deutschen das legitime Bedürfnis nach Sicherheit verwehren. Sicherheit ist in fast allen Politikbereichen eine Schlüsselanforderung an Politik. Gerade auch in der BSW- und AfD-Wählerschaft. Die Erschütterung von gelernten Sicherheiten ist übergreifendes Merkmal von Verunsicherung jener, die die Autoren der „Triggerpunkte“ als „Veränderungserschöpfte“ bezeichnen. Eine besonders Populismus-gefährdete Teilöffentlichkeit, die sich qua Ausbildung, Familienbild und Status aus der Mitte der Gesellschaft verdrängt fühlt. Zurück blieb ein unbedientes Sicherheitsbedürfnis.

 

Auch das Ende des Friedens in Europa repräsentiert die Zerstörung einer selbstverständlich wirkenden Sicherheit. Genau deshalb ist Verdrängung eine beliebte Reaktion. Die Lieblingsparteien vieler Veränderungserschöpften laden durch ihr „Reden-statt-Waffen“-Narrativ herzlich dazu ein, sich in der guten alten Zeit von Dialog und Abrüstungsverhandlungen zu wähnen – und damit außerhalb der gegenwärtigen Realität, in der sich Putin und Lawrow ein wiedererstandenes Großreich herbeibomben wollen.

 

Auf der anderen Seite sammelt Boris Pistorius seit Amtsantritt bemerkenswert viele Sympathiepunkte, weil er etwas für einen Verteidigungspolitiker Ungewöhnliches macht: Kriegsgefahr und prägnante Lücken deutscher Verteidigungsfähigkeit offen anzusprechen. Er behandelt Sicherheit nicht als gegeben, sondern als Ziel, bis zu dem noch eine Menge Meter gemacht werden müssen. Diese für einen Verteidigungsverantwortlichen erstaunliche Transparenz vermittelt neben den Fakten auch Haltung gegenüber dem Beschönigungsnarrativ: Lasst uns den Tatsachen ins Auge blicken und nüchtern handeln.

 

Das allein genügt aber nicht als Konter gegen das verlockende Weidel-Wagenknecht-Wunschdenken.  Es braucht auch für die Regierungsposition ein Erzählmuster aus narrativen Vertrauensankern, die intuitive Zustimmung auslösen, weil sie auf lange eingefrästen Erfahrungen und Glaubenssätzen beruhen. Dafür stehen die folgenden Schlüsselbegriffe.

 

1. Sicherheit

Das übergeordnete Ziel; ist uneingeschränkt positiv assoziiert; und aus vielen anderen Politikbereichen ist gelernt, dass Sicherheit eine permanente Aufgabe ist und andauernde Anstrengungen erfordert.

 

2. Friedensordnung

Verbindet den Friedensbegriff (der nicht der Gegenseite überlassen werden darf) mit dem Ergebnis gestaltender und regelbasierter Politik. Ordnung steht für Stabilität, klare Grenzen. Und jeder weiß, dass sie zur Not auch mit Macht durchgesetzt werden muss. Sie ruht auf zwei Säulen: diplomatische Verständigung aller Beteiligten und Durchsetzung gegen jene, die sie umstoßen.

 

3. Schutz

Das Aufreißen der Wunde namens Krieg in Europa vergrößert die politische Sehnsucht nach Schutz. Der von Europa abrückende Fokus der USA vergrößert die Dringlichkeit. Deshalb gehört ins Zentrum eines neuen Sicherheitsnarrativs ein Schutzversprechen, basierend auf Kriegsvermeidung durch glaubwürdige Abschreckung, ein in Ost wie West gelerntes und bewährtes Konzept. Schutz durch Abschreckung hilft aus ängstlicher Apathie heraus, indem er im Sinne der Selbstwirksamkeit eigene Fähigkeiten gegen Kriegsgefahr mobilisiert.

 

4. Stärken

Glaubwürdig ist ein Sicherheits- und Schutznarrativ dann, wenn man den eigenen Streitkräften Verteidigung und Abschreckung auch zutraut. Im aktuell apathisch-selbstzweifelnden Deutschland keine Selbstverständlichkeit. Als glaubwürdiger Vertrauensanker taugt das Vertrauen in die technologischen Stärken eigener Militärtechnik. Aber auch die überlegene Attraktivität des geschützten Lebens in einer rechtsstaatlichen Ordnung stärkt im Wettbewerb mit Autokratien.

 

5. Gemeinschaft

Statt der Delegierung von Verteidigungsfähigkeit nach außen an die USA braucht es einen neuen Konsens nach innen, dass Sicherheit und Schutz stets das Ergebnis einer gesellschaftlichen Großanstrengung sind. Deutschland kann nicht nur Sicherheit, sondern auch Zusammenhalt gewinnen, sobald es den Schutz des freien Lebens seiner Menschen als verbindende Aufgabe begreift und organisiert.

 

 

Kommunikation nach einer Zeitenwende braucht beides: die Dekonstruktion eines Narrativs, das genau diese Wende negiert. Und ein Erzählmuster, das, aufbauend auf gelernten Überzeugungen und Erfahrungen, ein neues Ziel und den Weg dorthin formuliert. Ein neues Sicherheitsnarrativ kann die Bereitschaft, unbequeme Tatsachen ernst zu nehmen, nicht ersetzen; aber es kann politische Führung erleichtern und zum erforderlichen Rückhalt beitragen.

Mittwoch, 14. Februar 2024

Peace! Gedanken zu den Perspektiven des Genderns ohne Polarisierungsabsicht

Den Kerngedanken des Gender Mainstreamings beschreibt das BMFSFJ auf seiner Website damit, dass es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gebe. Und deshalb die unterschiedlichen Auswirkungen politischer Entscheidungen auf die Geschlechter „grundsätzlich und systematisch“ zu berücksichtigen sind. Und dass die UN-Weltfrauenkonferenz 95 den Begriff etabliert habe. Konsequenz: ohne geschlechtsneutrale Wirklichkeit auch keine solche Sprache mehr.

Aus Sicht des ergrauten Sprachpraktikers fing die harte Zeit für das generische Maskulinum tatsächlich Ende der 90er an. Mit dem Argument, dass Frauen in männlichen Formulierungen nicht mehr nur „mitgemeint“ sein wollen, setzte sich eine self fulfilling Prophecy in Gang: Je mehr in der Praxis die Doppelnennung von männlichen und weiblichen Formulierungen zum Standard wurden, desto ausschließender wirkten Sätze in der rein männlichen Form.

Assoziierte man früher das Aufzählen beider Geschlechter mit dem weggenuschelten „Genossinnen und Genossen“ von Erich Honecker und verwendete es nur in sehr förmlicher Kommunikation (Sehr geehrte Damen und Herren“), wirken seitdem Begriffe wie Arzt oder Politiker immer mehr so, als seien nur die männlichen Exemplare gemeint.

Wer heute Mitte 30 ist oder jünger, ist mit der häufigen Doppelnennung beider Geschlechter aufgewachsen. Was gut erklärt, dass diese Generation heute viel Gender-freudiger spricht und schreibt als Ältere, die noch vom generischen Maskulinum geprägt sind und deshalb bei ihm weniger Störgefühle entwickeln.  

Schon diese Entwicklung führte die Sprachpraxis weg von der offiziellen Orthographie. Denn die hält es bis heute für ein unglückliches Missverständnis, das grammatische Geschlecht mit dem biologischen gleichzusetzen. Aber weder der Hinweis auf die offizielle Lehre noch viele Beispiele von eindeutig weiblichen Wesen, die in unserer Sprache mit einem grammatisch männlichen oder neutralen Begriff bezeichnet werden, hilft ihr bei der Rehabilitation des generischen Maskulinums.

Zwei Gründe führten in der Folge zum Einsatz von Gender-Sonderzeichen: Die Sprachökonomie, schlicht weil die Doppelbezeichnungen zur erheblichen Satzverlängerung beitrugen - in einer Welt mit immer kürzeren Kommunikationsformen wurden Einwort-Bezeichnungen etwa für Berufe oder Staatsangehörigkeiten dringend gesucht. Und ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass die Doppelnennung noch immer die nicht binären Geschlechtsidentitäten ausblendet. Also ein neues Problem der sprachlichen Nicht-Repräsentation schafft.

Damit entstanden mehrere neue Probleme: Stilistisch sind die Sternchen und ihre Verwandten für keine Textform ein Gewinn. Es lassen sich leicht Beispielsätze formulieren, in denen mehrere Berufsbezeichnungen oder Nationalitäten auftauchen und die grauenhaft bürokratisch entseelt wirken, obwohl sie doch von Menschen handeln und ihnen „inklusiv“ zugewandt sein wollen. Erst recht bei Komposita wie „Beamt*innenanwärter*innen“ - puh! Zudem erforderten sie eine neue Sprechweise. Und es funktioniert nicht immer, gendert man „Franzosen“ mit o oder ö?

Aber vielleicht wiegt schwerer, dass Gender-Sonderzeichen in verschiedenen Teilen der Gesellschaft heute völlig unterschiedliche Wirkung auslösen und zum Symbol der Trennung von „Woken“ und „Normalen“ wurden.

Das Ergebnis dieser Vorgeschichte ist heute Verwirrung. Der Autor dieser Zeilen räumt häufigere Ratlosigkeit ein, in welcher Situation er wie sprechen oder schreiben soll. Kommunikation hat doch sowohl im professionellen wie im privaten Raum meist den Zweck, Menschen durch Austausch von Information und Meinung zu verbinden. Solange aber Sprachwahrnehmung von der Schubladisierung „gegendert“ oder „nicht gegendert“ überschattet wird, lässt sich kaum ein Satz sprechen, der nicht Teilen der Zuhörerschaft auf die Füße tritt.

Dabei ist diese vertrackte Situation entstanden, obwohl niemand etwas falsch gemacht hätte oder Übles im Schilde führte. Das Bedürfnis nach sprachlicher Repräsentanz ist ebensowenig kritisierbar wie der Wille, gemäß verbindender Regeln und Konvention ein stilistisch ansprechendes, flüssiges Deutsch zu sprechen und zu schreiben.

Leicht haben es nur die Menschen an beiden Polen der Debatte in ihren Bubbles: Wer konsequent am generischen Maskulinum festhält, hat - entsprechendes Publikum vorausgesetzt - keine Probleme, ansprechende, kurze und regelkonforme Sätze zu produzieren. Wer die Gender-Sonderzeichen-Sprechweise in die alltägliche Selbstverständlichkeit übernommen hat, vermeidet  im eigenen Umfeld jeden Normverstoß und bekundet seine Zugehörigkeit zum inklusiv tickenden Teil der Welt einfach nur durch persönliche Sprachpraxis.

Das Problem haben aber alle anderen: alle mit dem Anspruch, in möglichst allen Teilen der Gesellschaft verstanden zu werden. Und das sind viele - in Politik, Wirtschaft und auch in der Werbung. Also alle, die professionelle Massenkommunikation betreiben. Aber auch all jene, deren private Lebenswelt sowohl Menschen mit ausgeprägter Gendersensibilität wie auch Praktizierende der überkommenen Sprachkonventionen umfasst. (Damit ist der Autor schon doppelt betroffen und somit doppelt ratlos).

Die deutschsprachigen Nachrichtenagenturen haben für unsereins bereits vor drei Jahren eine Arbeitshilfe für ihre Beschäftigten veröffentlicht, die auch anderen massenmedial Tätigen hilft. (Link) Grundgedanke: Solange sich keine Sonderzeichen-Lösung wirklich breit etabliert, bitte das generische Maskulinum durch Doppelnennung oder andere trickreiche Umwege vermeiden. (Wie in diesem Text).

Alle geschilderten Widersprüche auflösen kann und will das allerdings nicht. Semantisch wären  schnell Grenzen überschritten, sobald nicht nur von Studierenden und Mitarbeitenden, sondern auf von Richtenden und Staatsanwaltenden die Rede wäre. Auch die Verarztenden hat (im Gegensatz zu den unsäglichen Gästinnen) noch niemand erfunden. Aber der Bedarf nach Ein-Wort-Bezeichnungen wird groß bleiben und sich seinen Weg bahnen.

Schön ausgedacht sind Versuche, neue, aber kompakte Formen von geschlechtsübergreifenden Formulierungen wie Professx“ (gesprochen: Professiks). Aber mal ehrlich - hat das Erfolgsaussichten, und wäre es wirklich stilistisch ein Fortschritt?

Ebenso hypothetisch ist wohl ein anderer Traum: Eine gesellschaftliche Verständigung auf die gute, alte grammatikalische Tatsache, Geschlecht und Geschlecht nicht gleichzusetzen. Die  Praxis des generischen Maskulinums hatte nicht nur sprachökonomische und ästhetische Vorteile - sie hat, richtig aufgefasst, auch nicht binäre Identitäten eingeschlossen (vermutlich ohne sich dessen bewusst zu sein).

Dennoch mag die Hoffnung auf ein Wiederentdecken seiner Vorteile nicht recht gedeihen. Weil 25 Jahre intensiver Verwendung der Doppelnennung die Wahrnehmung verstärkt haben, dass es sich beim Chef wie beim Mitarbeiter, beim Franzosen wie beim Kunden vermutlich um männliche Lebensformen handelt. Und weil gesellschaftliche Großkonflikte wie die um das Gendern selten mit dem umfassenden Sieg einer Seite enden.

Aus der täglichen Schreibpraxis noch eine Selbstbeobachtung: Das permanente Vermeiden von „Gender-pflichtigen“ Formulierungen, wie es die Nachrichtenagenturen empfehlen, ist eine durchaus schwierige Lösung - kostet viel Aufmerksamkeit und vor allem stilistischen Freiraum, weil viele Formulierungsoptionen wegfallen. Zudem lässt sich bezweifeln, ob Studierende wirklich das gleiche sind wie Studenten oder -innen; die auf eine Tätigkeit verengende Verlaufsform tut fast so, als wenn man diese bunte und wertvolle Lebensphase ausschließlich beflissen in der Unibibliothek absitzt. Am Ende bleiben wieder viele Doppelnennungen, wider das Bedürfnis nach prägnanter Knappheit.

Deshalb bringt vielleicht auch hier der Mittelweg den Tod. Wieder eine ehrenhafte Idee ohne gutes Ergebnis. Aber es ist ja auch als eine Art Brückentechnologie gedacht.

Deshalb bleibt nur pragmatische Deeskalation:

  1. Gegenseitige Vorwürfe sind völlig fehl am Platz. Weder haben diejenigen, die das Gendern (mit und ohne Sonderzeichen) aufgebracht haben, finstere Motive verfolgt. Noch tun es diejenigen, die sich nach Abwägung von Pro und Contra anders entscheiden. Beide treiben respektable Motive.
  2. Politische Initiativen für „Genderverbote“ sind hingegen sichtlich anbiedernd motiviert. Ebenso unlegitimiert wie Punktabzüge für Nichtgendernde an Hochschulen, die ebenfalls Freiheit beschneiden.
  3. Es ist noch keine Lösung absehbar, die sich vollständig durchsetzt. Sagt sich leicht, aber eigentlich ist es mehr als bemerkenswert, da sich unsere Sprache auf längere Zeit faktisch einer klaren Normierung entziehen wird.
  4. Deshalb sollten wir das Nebeneinander lieben lernen. Ist besser für den Blutdruck und für das Miteinander. Den Promotern des Genderns liegt sicher nicht an noch mehr gesellschaftlicher Spaltung. Und die Fans der offiziellen Orthographie wollen damit nicht Geringschätzung gegenüber weiblichen oder diversen Personen bekunden.
  5. Soweit sich Genderneigung altersbedingt unterscheidet, entspannt zudem die Erinnerung, wie normal schon immer unterschiedliche Sprachgewohnheiten zwischen den Generationen waren.
  6. Erfolgsvoraussetzung: Wir nehmen es nicht zu wichtig. Wir denken beim Sprechen und Schreiben vor allem an Inhalt und Verständlichkeit. Und interpretieren Gendern oder Nichtgendern nicht als Differenzierungsmarken von Gruppenzugehörigkeit oder von ethisch-normativen Gut-Böse-Clustern.



Freitag, 12. Januar 2024

Ratlos gegen rechts ins Superwahljährchen?

Das konservative Dreierlei und drei Vorschläge nach vorn

Verkehrte Welt. Wer seine politische Biographie im rot-grün-rebellischen Geist gegen Aufrüstung, US-Imperialismus und ererbte Russlandfeindlichkeit gestartet hat, muss sich permanent schütteln. Denn seitdem Russland militärische Aggression als einen blutig-manifesten Faktor europäischer Machtpolitik wiederbelebt hat, bleibt einem keine andere Wahl, als alte Affekte zu bändigen.

Es sei denn, man bleibt ihnen „treu“ und ignoriert die Konsequenzen, die der Verzicht auf militärische Gegenwehr hätte - noch mehr Gewalt durch einen in seiner Strategie bestärkten Gewaltstaat.  

Wenn es früher einen Begriff gab, dem sich alle Linken trotz ihrer Differenzen verbunden fühlten, dann den des Fortschritts. Also den grundsätzlichen Zug der Geschichte, menschliche Gesellschaften in Richtung Gleichberechtigung und Gerechtigkeit, Wohlstand und friedliche Konfliktlösung fließen zu lassen, in den meisten Epochen verbunden mit einem optimistischen Verständnis von wissenschaftlich-technischen Entwicklungen.

Und nun: Extremisten erfreuen sich demoskopischer Zustimmung in bisher unbekannten Dimensionen, verdrängen in wichtigen Demokratien bürgerliche Parteien und drohen nun mit der Zerstörung der ältesten und mächtigsten Demokratie des Planeten. Auch hierzulande wirkt Mitte-Links ebenso ratlos gegen rechts wie die Union. In ostdeutschen Ländern scheint die Bildung parlamentarischer Mehrheiten gegen die Apologeten Putins und Propagandisten niederster menschlicher Instinkte immer schwerer.

Dazu kommt eine Talkshowkönigin mit einem Angebot für jene, die linke Umverteilungsträume mit antiwestlichem Revisionismus verknüpfen wollen. Wer bis in die Mitte des politischen Spektrums hinein johlende Zustimmung provozieren will, muss nur in den Wettbewerb um die hässlichste Attacke auf grüne Spitzenpolitiker eintreten.

Das alles zwingt die demokratische Linke in eine ungewohnte Position: Statt, wie über mehr als 150 Jahre gelernt, für gesellschaftlichen Fortschritt, also Veränderung in Richtung einer besseren  Zukunft einzustehen, ist sie heute eine konservativ-bewahrende Kraft. Rot und Grün werden in die Rolle gedrängt, gegen starken Widerstand die repräsentative Demokratie und Westbindung zu verteidigen.

Auch der gute alte Konservatismus hat es nicht leicht. Sichtbar am Niedergang der zentristischen Parteien in großen Teilen Europas und den USA. Aber auch an der mühsamen Suche der hiesigen Union, klar und abgrenzend zu beschreiben, welche Werte denn ihre Gemeinschaft verbinden und welche Positionen nicht hineinpassen.

Dass sie noch nie Programmparteien waren, hat CDU und CSU in der Vergangenheit nicht geschadet. Seitdem aber die Treue zum klassischen Familienbild mit überkommenen Geschlechterrollen, kirchliche Wurzeln und im Zweifel der Vorrang von Wachstums- gegenüber Umweltzielen nicht mehr als Kit taugen, leidet auch die Union unter der Zersplitterung der gesellschaftlichen Mitte. Also an der Not, zugleich ihre alte, kleinstädtisch-kulturkonservative Kernklientel und das moderne, eher urbane, liberal-weltoffene Bürgertum zu erreichen. Sichtbar am Bemühen des Partei- und Fraktionsvorsitzenden, den Sauerlandismus als CDU-Leitmeldodie auch in Berlin, Schleswig-Holstein und den anderen Teilen NRWs durchzusetzen.

Eine Wurzel dieses Problems: Auch der aufstrebende Rechtspopulismus spricht konservative Bedürfnisse an, die aber mit dem staatstragendem Konservatismus der Union kollidieren. Die Überforderung vieler durch permanenten Innovationsdruck, nagende Krisen und den Verlust von Gewissheiten hat antimoderne Abwehrreflexe zu einem gewichtigen politischen Faktor wachsen lassen. Im schnell gewachsenen Reservoir von AfD-Wahlwilligen geht die Abneigung gegen Wärmepumpen, Schwulenpartys, Migranten und globalisierten Kapitalismus so weit, dass die Hemmschwellen zum umstürzlerischen Rechtsextremismus flugs verdampft sind.

So zeigt die politische Landschaft aktuell schwere Schlagseite: Einen breiten Wettbewerb um den besten Konservatismus.

Alle wollen bewahren und schützen. Alle suchen als Reaktion auf Verunsicherung und Segmentierung der Wählerschaft ihr Heil im Versprechen, den Status quo so gut wie möglich zu bewahren. Nur dass die rechtspopulistische Öffentlichkeit darunter die „gute“ alte Zeit von reinrassiger Recht-und-Ordnung-Welt plus Ewigkeitsgarantie für Verbrenner versteht, die rot-grüne Szene einen defensiv-trotzigen Verfassungspatriotismus („Wir standen schon immer auf der richtigen Seite der Geschichte“) und die demokratisch-konservative Welt solide Staatstreue mit einer Portion wehmütiger Erinnerung an Ludwig Erhard und Dalli Dalli.

Nun könnte man dieses konservierende Dreierlei als eine blöde Verirrung der politischen Ideengeschichte abhaken. Aber die Lücke, die sie hinterlässt, hat Folgen: Es fehlt ein Politikangebot „nach vorne“. Und damit eine Idee von der Zukunft, die mit mehr lockt als möglichst wenig Verlust. Verlust an Wohlstand, Status und Rente, belebter Umwelt, Werten, Hausärzten und Busverkehrstakt.

Während die Soziologie beschreibt, wie persönliche Verunsicherung und Verlust an gefühlter Selbstwirksamkeit die Kohäsion in der Mitte der Gesellschaft zerstört, ist das Versprechen der demokratischen Politikanbieter, die Verluste an Lebenschancen zu begrenzen? Klingt nicht nach einem entschlossenen Konter. Und führt, etwa am Beispiel der SPD, dazu, dass man sich selbst bei der Bedeutungserosion zuschaut, dies aber in wohliger Selbstversicherung, dem Kernversprechen von „abfedernder“ Sozialpolitik auch im großen Wandel treu geblieben zu sein. Schließlich durfte man doch den Kanzler stellen nach einem Wahlkampf, dessen sichtbare Versprechen sich in mehr Mindestlohn und stabiler Rente erschöpften.

Dabei blickt der treueste Teil ihrer Wählerschaft den letzten drei oder vier Bundestagswahlen seines Lebens entgegen, während die Jungwähler sich immer offener für harten Rechtsextremismus zeigen. Es ist nicht mehr Opa, der stolz vom großen Krieg erzählt, es sind viele Junge, die sich von Autokraten Heil versprechen.

Die FES erhebt im Zweijahresrhythmus die Verbreitung rechtsextremer Positionen in Deutschland (Link). Der Anteil der Menschen mit klarer Abgrenzung gegen Rechtsaußen ist zuletzt, nach vielen Jahren großer Stabilität, von 86,2 auf 71,6% geschrumpft. Jüngere bis 34 Jahre  pflegen nun fast dreimal häufiger ein geschlossen rechtsextremes Weltbild als Ältere über 65. Nicht nur harter Rechtsextremismus hat stark zugelegt; auch das, was die FES Graubereich nennt, also Offenheit für mehrere Aspekte von Rechtsextremismus, hat sich fast verdoppelt.

Die programmatisch-defensive Erstarrung der ehemals “progressiven“ Mitte-Links-Parteien fällt zusammen mit dem Verlust des Generalkonsenses für Demokratie und ihre Institutionen. Während die Rechten die Grenzen des Sagbaren immer weiter verschieben und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit aus den Schmuddelecken des Parteienspektrums in den Alltagsdiskurs eindringt, kontert der traditionell stärkste Kern der Antifaschisten mit nichts mehr als Schadensbegrenzung gegenüber den Veränderungen, die über uns schicksalhaft hinweg rollen. Repräsentiert durch eine Bundeskanzlerkommunikation, die von Gestaltungsfreude und Zukunftsideen so weit weg ist wie Arminia Bielefeld von der Champions League.

Lag Ralf Dahrendorf mit seiner Analyse vielleicht doch richtig, dass sich die Sozialdemokratie zu Tode gesiegt hat und nach Bildungsaufstieg sowie breiter Emanzipation von Arbeiterschaft und Frauen keine neuen Visionen zu erobern sind? Hat sie vielleicht wie die Union massive Probleme, eine zeitgemäße Rolle für sich selbst zu definieren, die über die nostalgisch warme Erinnerung an ehemals klare Fronten nach außen und Schulterschluss im Inneren hinaus gehen?

Es wäre eher ein Wunder, wenn es anders wäre. Die SPD entstand in einer Zeit, in der nationalistischer Kolonialismus, wie ihn heute Putin wiederbelebt, zum selbstverständlichen politischen Kanon aller europäischen Nationen zählte. Als Frauen wenig galten, Arbeiter systematisch ausgebeutet wurden und Adel und Kirchen den autoritären Ton angaben. Und wie in allen Parteien (und anderen Vereinen) erhalten intern stets jene den meisten Applaus, die an die Vorbilder der Altvorderen erinnern. Parteien verfügen über einen Automatismus, stets die Treue zu den Wurzeln zu feiern, statt das unentdeckte Land der Veränderung zu suchen. Vor diesem Hintergrund ist die SPD noch recht erfolgreich gealtert.

Aber nicht nur historisierende Beharrung steht einer positiven linken Vision für das 21. Jahrhundert im Weg. Auch der Ampel-Alltag erdrückt. Wenn die Dauerkrise das beherrschende Merkmal der Gegenwart ist, reduziert sich Politik auf ihre Eindämmung. Und hier blockiert die Mechanik der Ampel den sozialdemokratischen Lösungsweg. Seit Mario Draghi der Weltfinanzkrise mit seinem „whatever it takes“ die schärfsten Zähne zog, indem er mit massiven öffentlichen Mitteln drohte, um den Finanzmärkten die Lust an Weltuntergangsspekulation auf den Euro zu nehmen, stand dieser selbstbewusste Umgang mit öffentlichen Riesensummen auch bei Pandemie und Krieg im Zentrum des Scholz’schen Krisenmanagements..

Dieser Mechanismus kollidiert mit dem festgetackerten Mantra der Bundesfinanzministerpartei. Das Ergebnis, massiv verschärft durch Karlsruhe, ist eine Bundesregierung, die ihre schulterzuckende Ratlosigkeit auch öffentlich nicht verbergen kann. Damit steigen die Sorgen vieler, den Verschlechterungen schutzlos ausgeliefert zu sein. So trägt die Koalitionsverkantung zum größten Problem bei - zur Verunsicherung der den Krisen ausgesetzten Öffentlichkeit und zur Bestätigung des „es wird alles immer schlimmer“-Schnacks.

Nun wäre das ein überschaubares Problem, wenn die demokratische Opposition auf Grundlage wachsender Zustimmung für  ihre Alternativkonzepte die Regierungsübernahme vorbereiten könnte, um dann zu beweisen, dass „sie es besser kann“. Doch weder verfügt die Union über ein Gegenkonzept noch über Köpfe, die bei der Mehrheit optimistische Wechselstimmung auslösen. Im demoskopischen Persönlichkeitsranking ist die Anzahl der Spitzenpolitiker, die im Durchschnitt positiv bewertet werden, auf 1 oder 2 von 10 geschrumpft. Keineswegs schneidet die Opposition grundsätzlich besser ab als die Koalition. Die Bevölkerungsmehrheit zeigt sich zutiefst unzufrieden mit der Regierungsmehrheit, setzt zugleich aber kaum Hoffnungen auf einen demokratischen Machtwechsel.

Damit hat die repräsentative Demokratie ein echtes Legitimationsproblem. Und das zu Beginn eines „Superwahljährchens“ mit der Europawahl als traditioneller Bühne für Proteststimmen und drei Landtagswahlen mit der Poleposition für Rechtsextreme.

Höchste Zeit für neue Kommunikation der Demokraten. Nur wenn dem Wahlvolk politische Angebote vermittelt werden, die eine Neubewertung ihrer Macher anstoßen, kann Deutschland die Kurve kriegen und repräsentative Demokratie wieder greifen. Also der Wettbewerb jener Köpfe, denen man die Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten am ehesten zutraut - statt der Verzwergung von Parlamentswahlen zur Volksabstimmung über das gerade hotteste Aufregerthema.

Dazu drei Vorschläge:

1. Den Rechten den Nimbus des Erhaltenden streitig machen

Wer die EU attackiert, vernichtet die wichtigste wirtschaftliche Basis Deutschlands. Und die einzige Chance, als Mittelmacht weiter weltweit Einfluss zu nehmen. Wer Menschen nach Hautfarbe, Herkunft oder anderen willkürlich gewählten Merkmalen in ihrer Wertigkeit sortiert, vernichtet mit dem Menschenbild des Grundgesetzes die Grundlage unseres Zusammenlebens. Wer sich weigert, Klimawandel zu bekämpfen, schafft unvorstellbare Fluchtbewegungen und zerstört auch hierzulande Lebensgrundlagen. Wer Putins Russland mit dem Westen gleichsetzt und Deutschland außen- wie sicherheitspolitisch genau dazwischen positionieren will, entzieht unser Land der Wertegemeinschaft von Nationen, denen Demokratie, Gewaltenteilung, Rechtsstaat und individuelle Freiheitsrechte heilig sind. Und wer rhetorisch immer wieder die Lust am Umsturz kitzelt und völkische Staatsfeinde hofiert, bedroht inneren Frieden, zivilisiertes Zusammenleben und persönliche Sicherheit.

Die Folgen einer AfD-Mehrheit wären das Gegenteil von bewahrend. Nicht der Erhalt von als schützenswert erachteten Lebensmodellen in Abgrenzung zu „woken“ Besserwissern wäre das Ergebnis. Sondern das Ende all dessen, was unser Land in seiner Vielfalt zusammenhält, wirtschaftlich stark macht und gute Lebenschancen für jede und jeden Einzelnen bietet.

Wir sollten endlich aufhören, uns auf die diskreditierende Wirkung des Attributs „rechtsextrem“ zu verlassen, wo es um die AfD geht. Und stattdessen klar und deutlich aussprechen, was ganz real die zerstörerische Wirkung von AfD-Politik wäre.

Und wir sollten aufhören, die Themen der Debatte von der AfD diktieren zu lassen. Den Wettbewerb um die strikteste Zuwanderungskontrolle werden immer die anderen gewinnen. Stattdessen ist es unsere Pflicht, eigene Themen zu setzen und unsere Stärken auszuspielen.


2. Eine neue Fortschrittserzählung etablieren

So wertvoll für Parteien gemeinsame Wurzeln im Inneren sind - gewählt werden sie für glaubwürdige und attraktive Zukunftspläne. Deshalb gehört die Leidensform ersetzt, mit der Rote und Grüne bisher die Geschichte von Transformation und Dekarbonisierung erzählen. Nämlich als Schicksal, das über die Welt kommt und dessen Folgen so gut wie möglich zu mindern sind.

In der Loslösung von fossilen Energiequellen liegt eine große Befreiungsgeschichte verborgen. Warum nur erzählt sie keiner?

Sobald wir uns freischwimmen von Kohle, Öl und Gas und unsere Energie nicht mehr „verbraucht“, sondern schadlos jeden Tag aufs Neue erzeugt wird, macht das eine neues Level von Wohlstand möglich. Eine Gesellschaft auf Grundlage erneuerbarer Energiequellen und nachwachsender Ressourcen kann sich freimachen von den „Grenzen des Wachstums“, die am Beginn des technologiekritischen Zukunftspessimismus Anfang der 70 angemahnt wurden. Sie kann reisen und heizen, bauen und produzieren, ohne die Abhängigkeit von Rohstoffdiktatoren zu vergrößern oder Lebensräume verdorren zu lassen.

Und sie befreit sich vom Automatismus begrenzt vorhandener Güter (wie Öl), auf Sicht zwangsläufig teurer zu werden. Stattdessen wird der Preis erneuerbar erzeugter Energie mit dem Ausbau ihrer Kapazitäten weiter sinken. Dekarbonisierung ermöglicht erstmals in der Wirtschaftsgeschichte dauerhaft sinkende variable Energiekosten. Was für eine Chance für Deutschland, vorn dabei zu sein!

Die Transformation lässt sich als große Chancengeschichte erzählen. Damit verschwinden nicht die Hürden auf dem Weg dahin. Aber sie wird zur politisch attraktiven Vision statt, wie heute, zum miesmuffeligen Abwehrkampf rund um Verzichtsappelle. Zu einer Vision, die wirtschaftliche Chancen wie persönliche Freiheiten vergrößert.


3. Repräsentationsbedürfnisse ernst nehmen

Zum Kontern der Rechten gehört auch, die legitimen unter den Anforderungen ihrer Wählerschaft zu identifizieren und ein Angebot für sie zu formulieren. Kern dieses Angebots muss es sein, echten Respekt und Rückendeckung für ihre Vorstellungen von Zusammenleben und Gemeinschaft zu vermitteln, ohne sie gegen andere Vorstellungen auszuspielen.

Basis der gefühlten Ausgrenzung ist die Wahrnehmung vieler, vergessen oder geringgeschätzt zu sein, obwohl sie sich als Mittelpunkt von Normalität erleben. Wer vom Eindruck geprägt ist, von der neuen gesellschaftlichen Elite für eine aussterbende Gattung gehalten zu werden, aber eigentlich mit seiner Leistung den Laden am Laufen zu halten, verliert den Glauben an „das System“ und „die da oben“.

Diese Repräsentationslücke ist allein programmatisch nicht zu füllen, sie beruht im Kern auf kulturellen Bruchlinien. Nur so konnte Gendern zu einem Leuchtturm der erlebten  gesellschaftlichen Spaltung werden: Obwohl faktisch die große Mehrheit ihre Sprachgewohnheiten nicht verändert hat und sie somit die Sprachwirklichkeit unverändert dominiert, fühlt sich ein Teil dieser Mehrheit in seiner verbalen Souveränität bedrängt oder zurückgesetzt.

Niemand könnte glaubwürdig das große Revival der homogenen unteren Mittelschicht versprechen, wie sie in den 70er-Jahren kulturell dominiert hat. Aber die politische Welt, inklusive der Roten und Grünen, könnte doch anerkennen, dass dieser Teil der Mitte weiter zahlreich ist und einen Anspruch auf demokratische Vertretung hat. Was zu einer geradezu banalen Antwort führt: Typen ins Rennen schicken, die zumindest die Möglichkeit in sich tragen, als „eine oder einer von uns“ durchzugehen.

Der demoskopische Senkrechtstarter des letzten Jahres kann hier Mut machen: Der Verteidigungsminister war allein wegen seiner kommunikativen Selbstverständlichkeit der Shooting Star (hö) in den Beliebtheitscharts. In einfachen Worten zu sagen, was ist, und dann konkrete Lösungen anzugehen, wird auch dann noch belohnt, wenn es ein Sozialdemokrat tut. Einer, dem man zutraut, früher auch mal selbst bei seinem Käfer oder Wartburg die Zündung eingestellt zu haben und sich als Ortsvorsteher mit natürlicher Autorität zwischen Schweinemästern und Windbauern durchzusetzen, wird von vielen deutlich eher für voll genommen als Kandidierende, die spürbar über Jahrzehnte geschliffen wurden zwischen den Empfindlichkeiten aller innerparteilichen Anspruchsgruppen und den lebensfernen Codes der Ministerialbürokratie.

Mehr Bühne für Leute wie Laumann und Reul, Pistorius, Rehlinger, Ramelow oder auch Hofreiter - und die repräsentative Demokratie würde auf das Repräsentationsdefizit eines wichtigen Teils der Gesellschaft mit ihrer Kernkompetenz antworten: Köpfe anbieten, die nicht nur für eine fachpolitische Einzelfrage stehen, sondern denen man zutraut, „einer von hier“ zu sein und das schon vernünftig zu machen in diesem verrückten Politikbetrieb.