Die Anbieter politischer Macht bleiben hinter den Bedürfnissen ihrer Kundschaft zurück. Das Problem liegt im Zentrum der Parteien.
Vorbemerkung 1: In diesem Blog herrschte in den letzten Monaten Funkstille. Grund ist, dass ein Team in meiner Agentur im Wahlkampf engagiert war. Jede Kommentierung von Bundespolitik hätte daher entweder als willfährige Unterstützung dieses Kunden oder als Illoyalität ihm gegenüber gewertet werden können.
Vorbemerkung 2: Wir Kommunikationsmenschen begleiten unser Berufsleben lang Kunden dabei, ihre Produkte und ihr Auftreten möglichst an nichts anderem auszurichten als an den Bedürfnissen ihrer Kunden. Die Bundestagswahl zeigt, wie weit entfernt Parteien von diesem Denken entfernt sind. Aus guten und nachvollziehbaren Gründen, aber auch mit der Konsequenz bemerkenswerten Misserfolgs.
Die gefühlte Staatspartei der Bundesrepublik hat heftig verloren. Und das, ohne dass irgendein aktuelles Thema eine Protestpartei nach oben gespült hätte. Und ohne dass ihr traditioneller Antagonist, die SPD, besonders stark geworden wäre.
Natürlich hat die Union einen Kandidaten ins Rennen geschickt, dessen Typ schlicht grade nicht gefragt ist. Laschets Stärken - Zugänglichkeit, Kompromiss- und Moderationsfähigkeit - würden ihn in vielen Aufgaben sympathisch machen. Aber nach der erlebten Verletzlichkeit von Währung, Klima und Gesundheit steht der starke, beschützende, entschlussfreudige Staat oben auf der Bedürfnispyramide.
Deshalb hat der Selbstschutzreflex der CDU-Granden, sich nicht von einem CSU-Kopf vorführen zu lassen, letztlich zum Rezo-Triumph, zur Selbstzerstörung geführt. Der vielleicht letzte große Strippenzug der Schäuble-Bouffier-Ära war ein Versuch, die Machtmechanismen der grand old party gegen den wendigen und kalt strategisch handelnden Kurz-Macron-Söder-Politikertypus zu verteidigen. Ein Typus, der sich nicht auf eine lebendige, wabernde, eigenwillige Partei mit ihren Zentrifugalkräften und Geltungsbedürfnissen stützen möchte. Sondern mit einem auf strukturelle Mehrheitsfähigkeit hin konstruiertes, personifiziertes Führungsangebot seinen Erfolg sucht.
Die SPD hat aus der Startposition der Aussichtslosigkeit zu überraschender Selbstdisziplin gefunden und genau das Schutzangebot personalisiert, das angesichts der Veränderungsängste der 20er Jahre so attraktiv ist: sichere Rente, gedeckelte Miete, stabile Außenbeziehungen und Klimaschutz ohne Autoverbot. Vorgetragen von einem Kopf, dem man die Sturheit abnimmt, das Versprochene beharrlich durchzuziehen.
Doch die Verdichtung der Wahlanalysen zu einem Durchmarsch der Sozialdemokratie und ihres Vorzeigegesichts griffe zu kurz. 25 Prozent wären früher ein Desaster gewesen, zumal bei einem Totalausfall der Union.
Die Auflösung der nivellierten Mittelstandsgesellschaft hat in allen westlichen Demokratien das überkommene Parteiengefüge durchgeschüttelt, in Italien und Frankreich sogar weitgehend zerstört. Insbesondere der Führungsanspruch der ehemaligen Volksparteien ist herausgefordert.
Nicht nur die Union ist geschrumpft. Geschrumpft ist generell die Begeisterung eines erheblichen Anteils der Wählerschaft für die Angebote der Parteien. Laut Allensbach war in den Augen einer 53-Prozent-Mehrheit die Wahl eine Entscheidung für ein kleineres Übel.
Bleibt die Frage, ob das klassische Modell von Parteien, die „bei der Willensbildung des Volkes mitwirken“, angesichts so geringer Volksbegeisterung eine Zukunft hat. Wenn die Loyalität zu politischen Lagern und Parteien in der Postmoderne immer weiter erodiert - ist dann die immer weitere Personifizierung von Wahlkämpfen die einzige Konsequenz? Wie sonst können Parteien reagieren?
Ein Teil der Antwort beruht auf einem Paradoxon: Während die Wählerschaft mobil und untreu, quasi blockfrei und bestenfalls situativ begeisterungsfähig geworden ist, hat innerhalb der Parteien ihr überkommener Klebstoff der ererbten verbindenden Glaubenssätze, der historischen Heroen und der immer gleichen Schlüsselbegriffe nichts an ihrer Bedeutung verloren.
Es gibt keinen SPD-Parteitag ohne Hinweis auf das Rekordalter der Partei, den Kampf gegen Unfreiheit in allen vordemokratischen Epochen, ohne die „Genossinnen und Genossen“ und ohne einen musikalischen Vortrag aus proletarischer Vorzeit. Es gibt keine programmatische CDU-Rede ohne mehr als ein halbes Jahrhundert alte Vokabeln von Ludwig Erhard, ohne romantisierte Beleuchtung der deutschen und der europäischen Einheit und das Kruzifix im Hinterkopf. Auch FDP, Linke und Grüne lassen sich gefangen nehmen von geerbten Prinzipien, die auch mit viel Phantasie kaum für jede Gegenwart als einzig wahre Richtschnur taugen können, seien es die liberalen Regel- und Steuern-Phobie, der links beheimatete Typus des naiven Internationalismus oder die melancholisch-kämpferische Kombination aus Weltrettungs-Pathos und Weltuntergangs-Depression bei den Grünen. Und all das stets völlig unabhängig von der aktuellen öffentlichen Bedürfnislage.
Offensichtlich hängen die Anbieter politischer Führung der Nachfrage Jahrzehnte hinterher. Während die Wählerschaft - spätestens mit dem Beginn der Merkel-Ära - sich längst von der Kopplung an politische Lager emanzipiert hat und pragmatische Politikangebote belohnt, hängen die Parteien kulturell und oft auch programmatisch in ihrer Vergangenheit fest. Dabei sind in den Augen der Nachfrager politischer Führung die traditionellen Fixierungen der meisten Anbieter von bestenfalls fragwürdigem Wert. Die größten Risiken für Wahlerfolg verbergen sich in den Zentren der Parteien!
Dessen sind sich die Parteien sogar bewusst, wie der Wahlkampf gezeigt hat, sobald sie den Wettbewerb attackieren: Die SPD muss sich immer wieder für Vertreter ihrer sozialistischen Traditionen kritisieren lassen, die Grünen für ihre Neigung zur Verbotskultur, die Union für ihren alte-weiße-Männer-Flügel. Die Antworten tragen stets die durchsichtigen Züge von Verkleisterungsversuchen. Man weiß offensichtlich um die Imagerisiken, die aus dem Herzen der eigenen Organisation erwachsen.
Das Problem: Die Parteien sind nicht einfach dumm. Es gibt gute Gründe, intern so zu agieren, wie sie es tun: Für den Zusammenhalt jeder Gruppe sind verbindende Traditionen, Leitsätze, Überzeugungen, Symbole und Rituale unglaublich wertvoll und kaum ersetzbar.
Damit ist für jede persönliche Karriere innerhalb einer solchen Organisation das immer neue Bekenntnis zum alten Verbindenden unerlässlich. Das prägt im Ergebnis nicht nur Parteitage. Auch Politikersprache und Parteiprogramme werden dadurch schematisch, überraschungsfrei, gestanzt. Und wohl wichtiger: Überkommene inhaltliche Positionen anzugreifen, ist für Menschen in Parteien stets ein potenzieller Karrierekiller.
Im Ergebnis liebt das mehrheitlich pragmatische, nicht in Parteitraditionen eingebundene Wahlvolk gerade jene Köpfe, die in ihren Parteien alte Zöpfe abschneiden. Ihre Karriere er- und überleben aber nur jene Revoluzzer, die von außen mit so viel Gewicht belohnt werden, dass es innerparteilich nicht ignoriert werden kann. Siehe Frau Merkel mit Atom- und Wehrpflichtausstieg.
Wer seine Partei an die Bedürfnisse heutiger Mehrheiten anpassen will, geht intern in ein großes persönliches Risiko. Und er braucht eine Antwort, was den Zusammenhalt der Partei in Zukunft gewährleistet - und das auch mal in Oppositionszeiten. Aber der Lohn ist Gewicht im Land, nicht nur in der Partei.
Rudolf Augstein hat für guten Journalismus sein wunderbares Credo formuliert: „Sagen, was ist“. Wenn guter Journalismus daran sichtbar wird, dass er nichts anderes als die Realität und ihre Zusammenhänge spiegelt, wäre die richtige Ableitung für eine vom historischen Parteiballast befreite Politik: „Tun, was hilft.“
Der breiten Mehrheit unserer Gegenwartsgesellschaft hilft nicht, wie vor mehr als 50 Jahren politische Angebote den damaligen Schichten zusortiert wurden, weil es die Schichten so nicht mehr gibt, weil sich vor allem die umkämpfte Mitte gespalten und umgebaut hat. So locken insbesondere die ehemaligen Volksparteien der Mitte mit überkommener Positionierung und zugehörigen Signalbegriffen und wundern sich über den ausbleibenden Erfolge.
Das ist kein Plädoyer für verwechselbare Pragmatismusparteien oder unpolitische Expertenregierungen. Menschen haben auch heute unterschiedliche Bedürfnisse und Anforderungen an die Politik, etwa auf der zentralen Achse zwischen Sicherheit und Freiheit. Deshalb braucht es auch differenzierte Angebote. Und selbst wo sich Ziele wenig unterscheiden, gibt es viel Raum für den Streit um die Prioritäten von Zielen und die besten Lösungswege.
Was aber von Wahl zu Wahl schlechter funktioniert, ist die alte Masche von Parteien, im Kern geschlossene Werte- und Ideengebäude zur Abstimmung zu stellen statt greifbarer Lösungen. Jede geschlossene Ideologie, jeder Club von Gleichgesinnten, jede homogene Organisation auf der Grundlage von verbindender Heritage ist immer auch eines: nach außen ausschließend. Und je differenzierter die gesellschaftlichen Formationen in westlichen Gesellschaften werden, umso größer der Anteil derer, die sich von geschlossenen Weltbildern ausgeschlossen fühlen.
Wenn sich Parteien nicht von ihrem eigenen harten Kern emanzipieren und zu Anbietern von mehrheitsfähigen Lösungen werden, droht tatsächlich die Dominanz des Kurz-Macron-Söder-Typus. Dann wird die Mitwirkung an der Willensbildung des Volkes zur ziemlich traurigen Angelegenheit.
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