Die aktuelle Krise
der CDU hat die gleichen Ursachen wie die schon länger gärende der SPD. Und die
liegt nicht darin, dass sie auf einmal Vollversager wurden oder ein
unglückliches Schicksal nur ungeeignete Köpfe in Spitzenposten gebracht hat. Es
ist vielmehr die gesellschaftliche Realität, die sich in einem Prozess von
Jahrzehnten gründlich geändert hat. Der zentrale Orientierungspunkt jedes
Versuchs, eine politische Mehrheit hinter sich zu bringen, war stets die Mitte.
Nun gibt auf einmal zwei davon, und die vertragen sich gar nicht gut.
Die SPD fühlt sich seit dem Thüringen-Fail so wohl in ihrer
Haut wie lange nicht mehr. Wenn es ein Politikfeld gibt, das Zusammenhalt und
Identifikation unter Sozialdemokraten nährt, dann die entschlossene Abwehr von
Rechtsradikalismus und Demokratiefeinden. Die Partei von Otto Wels und Willy
Brandt war die letzte im parlamentarischen Kampf gegen die Nazis, eine der
ersten im Widerstand, und anschließend war sie im Osten Deutschlands unter den
ersten Opfern der kommunistischen Diktatur (und nach dem Mauerfall die Partei
mit der striktesten Ausgrenzung von Blockparteimitgliedern). Die
Sozialdemokratie stand historisch stets auf der richtigen Seite der Geschichte.
Die Geschichte ist der stärkste Identifikationsklebstoff der
SPD. Sie ist ihr Stolz, auch ihr Auftrag für Gegenwart und Zukunft. Aber eines
ist sie nicht: die Lösung ihrer Probleme. Die Geschichte der SPD ist enorm
wertvoll für ihre interne Selbstvergewisserung. Aber Stimmen und damit einen
neuen Auftrag für politische Führung wird sie ihr kaum bringen.
Auch die Union versucht in der Krise die Rückbesinnung auf
den kleinsten gemeinsamen Nenner und beschwört „Die Mitte“. Genauso
nachvollziehbar, denn das war ihr Erfolgsrezept, um zur natürlichen Regierungspartei
der Bundesrepublik zu werden (was nur dann nicht gelang, wenn es der SPD mal besser
gelang). Auch sie wird mit dem Naheliegenden, der Rückbesinnung auf alte
Erfolge, scheitern. Denn die Welt hat sich weiter gedreht, als viele wahrhaben
wollen.
Alte und neue Mitte
Meine Generation der Babyboomer wurde in eine Republik
hineingeboren, die die Wissenschaft als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“
beschreibt. Die große Mehrheit lebte, sofern mit einer anständigen
Berufsausbildung und einer halbwegs stabilen Familie beglückt, in sicheren Umständen,
einer klaren Vorstellung von Geschlechterrollen und Benimmregeln, einer
intuitiven Abneigung gegenüber politische Extremen - und in der Gewissheit,
dass der Großteil der Mitmenschen einen Lohn, ein Gehalt oder eine Besoldung in
vergleichbarem Maßstab bezog.
Diese Mittelschicht genoss die Aufmerksamkeit der
politischen Parteien. Denn die die wussten, dass ohne sie keine Mehrheit
zustande kam.
Soweit, so gut. Dumm nur, dass die Parteien – und viele Redaktionen
- diese Vorstellung von Normalität bis heute nicht aus den Kleidern zu
schütteln vermögen.
In der postindustriellen Gesellschaft, die seit Anfang der
Siebziger bis in die 90er die Realität eroberte, gewann eine andere Mittelschicht
die Oberhand. Nachdem sich der Anteil der Industrie an der Wertschöpfung mal
eben halbiert hatte, schrumpfte auch das Gewicht des gewerkschaftlich
organisierten Tarif-Arbeitnehmers und seines (oft konservativeren)
kaufmännischen Angestellten-Kollegen. In den kreativen und technologischen Berufsfeldern
der Wissensgesellschaft wurden akademische Werdegänge auf einmal ziemlich
normal. Wer sich früher mit einer Banklehre einen lebenslang beachtlichen
Status sicherte, muss heute nicht nur BWL studieren, sondern sich auch noch alle
paar Jahre beruflich neu definieren und räumlich verändern.
Synthetisierte Identitäten
Heute dominiert die neue Mittelschicht in den urbanen Leitmilieus.
Die Kinder des alten Mittelstands waren oft die ersten in ihren Familien mit Hochschulabschluss.
Auch sie müssen sich keine Sorgen ums Geld machen, wenn sie von ihren
Bildungschancen Gebrauch gemacht haben. Aber eines fehlt ihnen fundamental:
Zusammenhalt, Zugehörigkeit. Wer die Freiheit hat und nutzt, seine religiöse
und sexuelle Identität bestimmt, seinen Wohnort (gern auf Zeit) wählt, seinen
ganz persönlichen Cocktail von kultureller Identität mixt, TCM und Vinyl-Sammlung
pflegt und bei Gravis oder Manufactum materielle Leidenschaften auslebt, der
wird niemanden finden mit identischer Verortung. Die neue Mitte hat aus
Ablehnung des Konformismus der alten Mitte das Gegenteil, eine Gesellschaft der
Singularitäten geschaffen, so bezeichnet vom Viadrina-Soziologen Andreas
Reckwitz, heißen Herzens zur Lektüre* empfohlen.
Meine Branche, die Werbung, profitiert davon: Denn Charakter
ist nun käuflich. Konsum dient hier kaum mehr der materiellen
Bedürfnisbefriedigung, sondern der Selbstdefinition durch ein Bekenntnis zur
wohlüberlegt gewählten Marke. Wie mächtig dieses Bedürfnis ist, zeigen die überquellenden
Altkleidersammelstellen in Berlin.
Reckwitz (und andere) beschreiben auch das Wachstum der
neuen Unterschicht, die beim Umschwung von der Industrie- zur
Wissensgesellschaft entweder zum perspektivlosen Bezieher von
Transferleistungen oder zum deklassierten Dienstleisterdasein im
Mindestlohn-Universum verdammt wurde. Und über allem thront eine kleine, absurd
reiche Oberschicht. Politisch bestimmt nicht machtlos, als Wählergruppe aber vernachlässigbar.
Wer sich das Nebeneinander dieser vier sozialen Aggregate live
und in Farbe vor das innere Auge führt, kann das Leiden der meisten Parteien in
Deutschland verstehen. Es ist eine grundlegende, keine situative Krise. Das
alte Mantra der Volksparteien, ein möglichst großes Stück vom Mitte-Kuchen zu
gewinnen, fällt in sich zusammen angesichts der beiden Mitten, die
unterschiedlicher kaum sein könnten.
Sprachlosigkeit der Mitten
Die alte Mitte fürchtet die urbanen Spinner wegen ihrer
wachsenden kulturellen und ökonomischen Dominanz, verachtet zugleich ihre Schrankenlosigkeit
und Vereinzelung. Die neue Mittelschicht wiederum langweilt sich schon beim
Gedanken an ein kleinstädtisches Reihenhausleben zwischen Sportverein,
Autowaschen und Rasenmähen. Die beiden Gruppen, von vielen Redaktionen und
Politikern noch immer in einen Sack namens Mitte gesteckt, würden vermutlich an
gemeinsamen Grillabenden nebeneinander wortlos
und genervt vor sich hin stieren.
In der kleinstädtischen Welt, die Zuwanderer ablehnt, leben
kaum welche. Und in der großstädtischen Welt voller Tierschützer leben nur
Streicheltiere. Die alte und die neue Mitte haben sich in den zurückliegenden
Jahrzehnten zu handfesten Antagonisten entwickelt. Man redet über- und nicht
miteinander, und zwar schlecht. Die neue Unterschicht, als einzige Beteiligte
auch materiell bedrängt, hat nebenbei unbeachtet alle Hoffnung auf Aufstieg fahren
lassen.
Man versteht die Nöte der Parteistrategen.
Bekenntnis- vs. Repräsentativ-Demokratie
Früher wurden Regierungen abgewählt, wenn sie schlecht
regiert haben. Heute haben wir die niedrigste Arbeitslosigkeit seit dem
Epochenwechsel 1990, stabile Preise, wachsende Löhne und Lebenserwartung,
sinkende Arbeitszeit, äußeren Frieden und hunderte TV-Kanäle. Und eine über
allem wabernde politische Weltuntergangsstimmung. Spitzenpolitiker und -innen
fliehen vor ihrer Überforderung.
Offenbar wird Politik nicht an ihrem Ergebnis gemessen.
Wählen ist nicht Belohnung für erbrachte politische Leistung, war es auch
früher selten. Schlimmer: Wählen ist nicht mehr Auswahl der Repräsentanten,
denen man die Beherrschung der wichtigsten Zukunftsfragen zutraut. Wählen ist
heute vor allem eines: Bekenntnis zu dem einen Thema, das aktuell die größten emotionalen
Wellen schlägt.
Für die neue Mitte naheliegend, trifft sie ihre Wahl- wie ihre
Konsumentscheidungen: Mit welchem Kreuz fühlt sich meine tendenziell
singularisierte Seele am wohlsten? Wie schön, dass die Grünen dafür ein
wunderbares Angebot haben. Ein „Hier-kann-man-nichts-falsch-machen-und-sich-überall-sehen-lassen“-Kreuzchen.
Klimapolitik hat sich zum Gut-Böse-Unterscheidungsthema aufgeschwungen, da ist
ein Bekenntnis-Kreuz immer gut untergebracht.
Für den Teil der alten Mitte, der durch „Fremde“ Konformität
und Normalität seiner persönlichen Lebensumgebung bedroht sieht, erfüllt ein
AfD-Kreuz eine ähnliche Funktion: Ihr da oben macht mir meine gewohnte Ordnung
nicht kaputt. Völlig egal, ob Umwelt- oder Haushaltspolitik, Rente oder
Gesundheit gut geregelt werden, Hauptsache die aktuell stärkste Emotion findet
ihren Ausdruck in der Wahlkabine.
Soviel zu den Gewinnern der zwei Mitten. Wer aber nicht nur
die eine oder die andere Mitte
bedienen will oder kann, tut sich sehr schwer mit einer glaubwürdigen Verortung
in der postindustriellen Gesellschaft. Andreas Reckwitz sieht Szenarien für die
Weiterentwicklung, überwiegend nicht ermutigend: das weitere Wachsen des deklassierten
Prekariats in Folge der digitalisierten Ökonomie oder ein lange währender
Verdrängungskampf zwischen den beiden Mitten mit dem perspektivischen Vorteil
der besser ausgebildeten neuen Mitte, dafür einer scharfen Gegenwehr des
verbleibenden Rests.
Seine positive Perspektive lässt der prekären Klasse und der
alten Mitte Raum neben der expandierenden neuen Mitte. Vor dem Hintergrund des
demographisch getriebenen Arbeitskräftemangels in Europa könnten Chancen
entstehen, die Unterklasse zu entprekarisieren und eine neue, materielle wie
immaterielle Wertschätzung für nicht akademische Arbeit zu entwickeln.
Euer Job, Volksparteien! Und unserer.
Union und SPD ist es unmöglich, sich für die eine oder
andere Mitte zu entscheiden. Es muss ihre Perspektive sein, trotz aller Sprachlosigkeit
ein Minimum an Gemeinsamkeit zu schaffen, das das Land zusammenhält und in
beiden Mitten relevanten Wählerrückhalt produziert. Deshalb können sie gar
nicht anders, als den Dominanzversuchen beider Mitten ein glaubwürdiges Angebot
des sinnvollen Miteinanders entgegenzustellen.
Das klingt viel leichter als es ist. Denn schon kommunikativ
haben beide Mitten kaum mehr Gemeinsamkeiten, schon die neue Mitte allein
zerfällt ja in diverse Mediennutzungswelten. Es ist auch alles andere als
banal, Spitzenpersonal zu identifizieren, mit dem beide Mitten etwas anfangen
können. Die Spielregeln einer Bekenntnis-Demokratie drängen zur symbolisierenden
Simplifizierung und Herabwürdigung des Gegners, wer wagt es, sich dem einseitig
zum entziehen?
Aber es nicht zu versuchen, wäre sträflich. Die
Unterschiedlichkeit der Mitten weiter zu ignorieren, wäre dumm. Die banalisierende
Reduktion von Politik auf symbolbeladene Kulturkämpfe verdient Widerspruch, die
repräsentative plurale Demokratie hingegen laute Fürsprache.
Ein großer Sprung über meinen Schatten: Es scheint aktuell einen
Spitzenpolitiker zu geben, der das Problem ernst nimmt und immerhin daran
arbeitet: Markus Söder hat seine Persönlichkeitsmarke seit dem Amtsantritt als
MP so modelliert, dass er auch in der sonst CSU-fernen urbanen neuen Mitte
zumindest mal angehört wird. Erst mal nur ein Versuch, aber immerhin schlauer
als die vielen tumben Echos der Adenauer-Mitten-Denke.
Diese Herausforderung ist existenziell für die
Volksparteien. Und andersrum ist der Erfolg der Volksparteien in diesem großen
Spiel existenziell für unsere Gesellschaft.
Und wer kann helfen? Wir. Meine Generation mit Wurzeln in
der alten und einem Leben in der neuen Mitte. Die – demographisch bestens
besetzten – gut ausgebildeten Babyboomer verfügen über das Können und den
Einfluss, Brücken zwischen den Antagonisten zu bauen. Wir kennen noch die
Wohligkeit eines Samstagabends mit Enterprise und Sportschau in
Vierkopf-Familie, dann Sonntagsbraten und dann Diskussion von Enterprise und
Sportschau auf dem montäglichen Schulhof, weil alle das Gleiche gesehen haben.
Wir kennen aber auch den Genuss der Freiheit, Konventionen abzustreifen und
möglichst alles auszuprobieren, was erreichbar ist. Und wenn wir ehrlich sind,
springen unsere Bewusstseinszustände manchmal noch von den Maßstäben der alten
Normalität und der neuen Singularität hin und her.
Der Gegensatz der beiden Mitten kann unsere Gesellschaft sprengen.
Verhindern können das Volksparteien, die sich den Respekt beider Mitten verdienen.
Dafür müssen sie erst ihren Antagonismus begreifen. Helfen kann auch die einzige
Generation, die beiden Mitten verbunden ist. Kapitulieren wie Nahles und AKK kommt
nicht in Frage.
*Lesetipp:
Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen: Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, edition suhrkamp, 2019
Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen: Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, edition suhrkamp, 2019
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