Dienstag, 8. September 2020

Max Weber ist nun 100 Jahre tot. Und dann wird Nawalny vergiftet.

Die Nord Stream-Debatte nach den Maßstäben von Verantwortungsethik

Der legendäre Ruf, den Helmut Schmidt bis heute genießt, steht exemplarisch für die Chancen, die ein Verantwortungsethiker an politischer Zustimmung mobilisieren kann. Nein, Gesinnungsethik liefert nicht automatisch die populärere Position.

Und doch folgen die Reflexe in der politisch-kommunikativen Realität immer wieder den Regeln der Gesinnungsethik. Die folgenden Zeilen wollen zeigen: Das war nie dümmer als heute in einer Welt voller regionaler Konflikte, populistischer Autokraten, asymmetrischer Kriege und entwerteter Vertragssysteme.

Was deutsche Medien zu Nawalny diskutieren, spielt sich – bis hinein in die Leitmedien – auf dem Niveau von Sandkastenstreitigkeiten ab: Wenn Putin auf unsere Ermahnungen nicht reagiert, muss er halt spüren, wie schmerzhaft der Verlust eines Schäufelchens ist. Voller Ernsthaftigkeit pflegen Journalisten und Politiker einen Wettbewerb, wie maximaler Schmerz im Kreml erzeugt werden könnte. Wer nicht hören will, …

Unruhe im globalen Sandkasten und deutsche Sanktionsreflexe

Also schauen wir uns mal unseren globalen Sandkasten an: In Russland regiert ein Gewaltherrscher mit einer eindimensionalen Vorstellung von Erfolg, nämlich der Restaurierung von nationaler Größe in dem Sinne, dass jedermann innerhalb und außerhalb der Staatsgrenzen diese Größe fürchten muss. Analog wagt der türkische Autokrat als Herrscher einer regionalen Mittelmacht gleich dreifach, im Mittelmeer, in Syrien und in Libyen, Kriege zu führen oder zu riskieren. Die chinesische Diktatur agiert ähnlich destabilisierend an mehreren Fronten, aber mit weit größeren Möglichkeiten: Sie ignoriert den international garantierten Status von Hongkong, droht Taiwan militärisch, annektiert internationale Seegebiete und baut an einer dominanten Position im Indischen Ozean und in Afrika.

Zugleich verabschieden sich die großen atlantischen Mächte UK und USA von ihrer mindestens 200 Jahre alten Überzeugung, dass Handelshemmnisse beiden Seite schaden, buddeln Wassergräben in ihre Sandkästen und erzählen ihren Wählern die Geschichte von den ehrverletzenden und jobvernichtenden Folgen internationaler Kooperation. Schließlich treten in unserem unmittelbaren Umfeld starke politische Kräfte etwa in Polen und Ungarn westliche Werte in den Dreck und verhöhnen die unabhängige Gerichtsbarkeit und freie Medien, belohnt von parlamentarischen Mehrheiten.

So, und in dieser Welt voller Diktaturen und Diktatoren wird in Russland ein Oppositioneller vergiftet. Während in Syrien und in der Ukraine tausende Menschenleben von Putin bedroht oder vernichtet werden, während sich China immer unverblümter als aggressive militärische und technologische Großmacht geriert und deutsche Unternehmenschefs zu Demutsgesten zwingt, falls sie tabuisierte Begriffe rund um Tibet, Taiwan oder Hongkong in den Mund zu nehmen gewagt haben, während der US-Präsident offen Putschpläne rund um die bevorstehende Wahl anmoderiert und Sassnitzer Kommunalpolitiker persönlich bedrohen lässt, wird eine Gewalttat in Russland zum Proofpoint für deutsche Außenpolitik herbeikommentiert.

Dabei zeichnen sich zwei Fronten ab: Die eine verbindet konservative CDUler mit grünen Partei- und Fraktionsspitzen und plädiert für persönliche Schmerzmaximierung bei Putin. Die andere Front verbindet Wirtschaftsvertreter und ostdeutsche Politiker in der Überzeugung, dass verletze Menschenrechte und blühende Wirtschaftsbeziehungen gerade am Beispiel Russland schon immer bestens nebeneinander her existiert haben und das doch prima so bleiben könnte.

Ethik, Ziele und Nord Stream

Fragen wir mal Max Weber: Was wäre eine verantwortungsethische Politik in Deutschland? Und weil Weber nicht leicht zu lesen ist, hilft Wikipedia:

„Der Begriff Verantwortungsethik bezeichnet ethische Systeme, die bei Entscheidungen zwischen Handlungsalternativen oder bei der normativen Beurteilung von Handlungen die tatsächlichen Ergebnisse und deren Verantwortbarkeit in den Vordergrund stellen.“

Was also ist denn das erwünschte Ergebnis deutscher Politik? Was ist das Ziel?

Unser Wunschergebnis scheint zu sein, dass in Russland Menschenrechte geachtet werden. Und da sie offensichtlich von Putins Machtapparat verletzt werden, braucht es ein anderes Machtzentrum in Russland. Und da wir Demokratie fördern wollen, soll dieses Machtzentrum aber bitte freiwillig abtreten, falls es beim nächsten Mal eine – selbstverständlich ungefälschte – Wahl verliert. Und eines noch, bitte ein neues Machtzentrum, das die Unabhängigkeit von Nachbarländern achtet.

Gute Ziele, menschliche Ziele, mit Sicherheit ethische Ziele. Ziele durchzusetzen, erfordert aber immer beides: Klarheit in der Zielsetzung und die Mittel, sie zu erreichen. Deutscher politischer Erfolg wäre ernsthaft daran geknüpft, einen Systemwechsel in einer 145-Milllionen-Menschen-Atommacht in der europäischen Nachbarschaft durchzusetzen.

Haben wir wirklich die nötigen Mittel? Da militärischer Druck weder beeindruckend wäre noch der eigenen Ethik entspräche, landen wir schnell bei wirtschaftlichen Sanktionen. Und weil die Medienwelt unter einer unglaublichen Anziehungskraft des Naheliegenden leidet, schauen nun alle auf Nord Stream II, das deutsch-russische Wirtschaftsprojekt, das aus völlig anderen Gründen sowieso im Scheinwerferlicht stand. 

Warum gibt es Nord Stream – mit ein oder zwei Röhren? Weil es Deutschland und Europa einen zusätzlichen Zugang zu einem wichtigen Übergangs-Energieträger verschafft. Und Russland eine weitere Verbindung zu einem attraktiven Kunden. Mehr Handelswege sind sicherer als wenige, für beide Seiten. So sehen rationale Grundlagen zwischen Handelspartnern mit rationalen Motiven aus. Und rationale Gründe für die Flüssiggasexporteure in den USA, das Projekt im Sinne der eigenen Ziele zu torpedieren. Was wäre schlimmer als ein Abnehmer, der günstige Alternativen hat.

Mit dunklen Mächten kooperieren?

Da fragt die Gesinnung: Darf ich Geschäfte mit Menschenverächtern machen, mit Diktatoren und vermuteten Auftragsmördern? Die Antwort der Verantwortung ist: Wenn ein Boykott Morde verhindert, nicht. Oder im Sinne von Wikipedia: Wenn das Ergebnis von Nicht-Handel ein Nicht-Mord ist, dann nicht.

Deutsche Politik kann zwei Zieldimensionen folgen: Materiellen deutschen Interessen und Werten unseres Verfassungsstaats. Es ist unvermeidlich, dass zwischen zwei so unterschiedlichen Zielen Konflikte auftreten. Und es ist unvermeidlich, dass die Mittel zur Zielerreichung immer begrenzt sind. Die größte europäische Volkswirtschaft und die (vom Laien geschätzt) viertgrößte Militärmacht verfügt nicht über die Mittel, jeden Konflikt für Eigeninteressen oder für humanitäre Ziele in anderen Ländern zu entscheiden. Und dennoch tun wir so, als sei genau dies der Erfolgsmaßstab für deutsche Außen-, Sicherheits- und Handelspolitik.

Im 19. Jahrhundert bestand der Kern des Selbstverständnisses im britischen Imperium darin, den Rest der Welt zu zivilisieren und mit den Wohltaten des Freihandels im Sinne von David Ricardo zu beglücken. Im 20. Jahrhundert, nach den Zivilisationserschütterungen von zwei Weltkriegen, bestand der Kern des westlichen Selbstverständnisses darin, den Rest der Welt zu demokratisieren und mit den Wohltaten eines gebändigten Kapitalismus zu beglücken. Diese Tradition von „der Westen ist gut für alle“ kollidiert heute mit dem wirtschaftlichen, technologischen und militärischen Erfolg der größten Diktatur der Welt, mit ihren opportunistischen Apologeten in Afrika und Mittelosteuropa, mit isolationistischen Populisten in UK und den USA sowie mit kaltblütigen Gewaltherrschern wie jenen in Moskau und Ankara, die ihre schwierige Mittelmachtposition durch das skrupellose Ausnutzen aller „weichen“ Grenzen kompensieren.

Ethische wie realistische Ziele

Was ist unter solchen Umständen ein sinnvolles Politikergebnis für Deutschland und seine echten europäischen Verbündeten? Mal ehrlich – wie wäre ein bisschen Bescheidenheit? Ein gutes Ergebnis wäre doch wohl schon mal, Freiheit, Wohlstand und politische Gestaltungsmacht zu bewahren. Und im Zentrum Europas ein politisches Zentrum für westliche, also freiheitliche, humanitäre und emanzipatorische Werte zu erhalten. Ein Zentrum, das die Welt nicht dominieren wird, aber immerhin standhält und für alle außerhalb als eine Option unter anderen sichtbar bleibt.

Der materielle Wohlstand, der nebenbei unser Sozial- und Gesundheitssystem ernährt, lebt auch von Handel mit Unternehmen in Diktaturen wie Russland und China. Unser militärischer Schutz lebt auch von den Truppen von Johnson und Trump. Bei alledem lebt die Attraktivität von demokratischen 

Alternativen in aller Welt davon, dass wir vormachen, wie sie funktionieren können, und Gemeinschaft in Vielfalt zu organisieren vermögen.

Nüchtern betrachtet, sind westliche Werte nicht wirklich auf dem Vormarsch in der Welt. Nüchtern betrachtet haben wir sehr begrenzte Mittel, die Weltverwestlichungsselbstverständlichkeit der frühen 90er ist gründlich geplatzt.

Es wäre großartig, wenn Nawalnys Leben in Berlin gerettet und seine Gesundheit wiederhergestellt werden könnte. Und wenn die öffentliche Weltmeinung vielleicht helfen konnte, dass Russland sein Ausfliegen zugelassen hat. Aber wir werden auch in Zukunft mit Gewaltherrschern und ihren Taten zu tun haben. Wir werden mit ihnen über globale Klimapolitik feilschen, über Regeln im Handel, in der Pandemiebekämpfung, im Weltraum, in der Genmanipulation oder IT-Sicherheit. Weil wichtige Politikergebnisse anders nicht erzielbar sind. Und wir werden bei Ihnen Rohstoffe kaufen und dort Autos, Chemie und Maschinen verkaufen.

Politische Leistung misst sich vor allem am Ergebnis. Menschenrechte und Demokratie lassen sich niemandem schlechter aufdrängen als Diktatoren. Diktatoren mit militärischer Macht reagieren auf Druck mit dem, was sie haben. Und Demokratie entsteht nicht dort, wo Bevölkerungen nach Sanktionen in Not geraten, sondern wo wachsender Wohlstand das Freiheitsbewusstsein nährt.

Substanz statt Tapete

Verantwortungsethik verlangt, jene persönlich und entschlossen zu sanktionieren, die Mord und Folter verantworten. Ihnen Zugang zum Westen und zu hiesigem Vermögen zu verwehren. Denn Rechtsstaaten dulden keine Mörder in Freiheit und keinen Zugang zu Vermögen aus Machtmissbrauch. In Moskau, Minsk, Riad, Peking oder Ankara haben wir keinen Durchgriff, hier sehr wohl.

Verantwortungsethik verlangt, durch koordiniertes Vorgehen unter europäischen Partnern die Stärke zu organisieren, die eine machtvolle Reaktion auf den Bruch internationaler Regeln erst ermöglicht. Handelssanktionen gegen Diktaturen und Autokraten sind aber dann lächerlich, wenn sie vor allem eigenen Zielen schaden und innenpolitisch nur als Gesinnungstapete dienen.

Ethisch und verantwortlich handelt in der Politik, wer standhaft ethische Ziele verfolgt und dabei seinen Einfluss realistisch bemisst. Denn das führt zu guten Ergebnissen.

Montag, 11. Mai 2020

Corona Communications – sechs Vorschläge für die Ermüdungsphase

Da ist es wieder: Das verlässlichste Gesetz der Kommunikation bleibt die Ermüdung. Themen verlieren an öffentlichem Gewicht im Zeitablauf. Das Problem: Das passiert immer. Auch mit Themen, deren faktische Relevanz keineswegs verblasst.

Früher war ein Schiff in Seenot ein Medienthema, heute schaffen es Hunderte Tote kaum in die vorderen Zeitungsseiten. Als ein aus der Zeit gefallener Nationalist das letzte Tabu brach und mit militärischer Gewalt Grenzen verschob, mobilisierte das noch alle europäischen Nackenhaare. Heute wären viele dankbar, würde man diese Aggression noch weiter ins Reich des Vergessens schieben. Europäische Währungsrettungsprogramme, britische Exitmanöver, klerikale Missbrauchskriminalität – all das passiert weiter vor sich hin. Aber die Aufmerksamkeitsspanne der Medienwelt steht im umgekehrten Verhältnis zur anfänglichen Empörungsexplosion.

Leicht und verlockend wäre es, vor allem den Medienmachern einen Vorwurf daraus zu spinnen. Aber die sind nur Spiegel des Problems. Denn sie können schlecht auf Dauer ignorieren, was ihr Publikum antreibt. Und dessen Natur ist und bleibt es, als soziale Wesen ihren Zusammenhalt im Erzählen von Geschichten auszuleben. Die Lagerfeuer der Menschheit versammeln Geschichten jeder Art, reale wie fiktive, traurige, romantische und lustige. Nur eines geht gar nicht: Langeweile. Wer das Privileg erobern will, dass andere zuhören, tut gut daran, etwas anderes zu erzählen als Altbekanntes.

Unabhängig davon, ob es noch gilt. Passiert. Tötet. Oder auch Gesundheit und Leben schützt.

Das Sars2-Virus bedroht dunkelziffergeschätzte 97% der Menschheit, weil ihre Biochemie gegenüber dem Erreger unerfahren ist. Aber völlig abgekoppelt von realen Gefahren nervt es mehr und mehr mit etwas für unsere soziale Existenz Schlimmerem: mit Langeweile.

Professor Drosten fährt seine Podcast-Frequenz zurück. Das RKI hat seine regelmäßigen Updates sogar beendet. In den Nachrichtensendungen schaffen es immer öfter andere Themen an die erste Stelle. All das, während das Sterben an Covid richtig Fahrt aufnimmt, in den bevölkerungsreichen Ländern der Welt wie in unseren Pflegeheimen.

Wenn die Ermüdung gegenüber Themen unabhängig von ihrem faktischen Gewicht erfolgt, wachsen daraus Herausforderungen für das Kommunikationshandwerk:
  •  Die Regierungskommunikation kann ihren Beitrag zur Bekämpfung der Pandemie nur erbringen, wenn man ihr weiterhin zuhört.
  •  Redaktionen können weder die Bedürfnisse der Kundschaft ignorieren noch die unveränderte reale Relevanz von Nachrichten.

 

Regierungskommunikation

Es hat im März etwas gedauert, Deutschland in den Alarmmodus zu versetzen, aber dann gab es eine enorme Zustimmung zu politisch verordneten Freiheitsbeschränkungen. Auch wenn alle ahnten, was für Jobs und Familien an Belastungen zu erwarten waren – Wissen über und Akzeptanz von Distanzregeln und Shutdown waren enorm.

Inzwischen fächert sich die Öffentlichkeit ebenso auf wie die Politik. Die Architektur der dezentralisierten Verantwortung für die tolerierte Kontaktintensität wird machtpolitisch interpretiert: Journalisten sprechen über machtpolitische Gewinner und Verlierer statt über den Sinn von Subsidiarität, also von Verantwortung in größtmöglicher Nähe zum Problem. Und die Öffentlichkeit fühlt sich in Maskenproduktion und R-Wert-Interpretation derart Kompetenz-gestählt, dass politische Ansagen keineswegs mehr auf selbstverständliche „Das wird schon gut sein für uns“-Zustimmung hoffen können.

Politische Führung ist nicht mehr per se legitimiert, menschliches Verhalten zu reglementieren. Nach der akuten Schock-Phase, in der sich alle hinter ihren Anführern versammeln, rütteln viele umso stärker an ihren Ketten. Vor allem eines nimmt zu: Kontroverse. Die Gesellschaft verliert an verbindender Orientierung, damit wächst die Vielstimmigkeit zwischen Rebellen, Verunsicherten, Verunsicherern, Mahnern, Verschwörern, Disziplinierten und Gedankenlosen.

Was in dieser Situation garantiert nicht hilft: Der Weg zurück. Es zur einzig angemessenen Lösung zu erklären, dass alle wieder in den Schockzustand zurückfallen und artig den Oberen gehorchen. Nicht Aufmerksamkeit ermüdet, auch die Folgsamkeit in der Not.

 

Medien

Die Nachrichtensender haben ihren Boom genossen, sogar Zeitschriftenverlage meldeten Topauflagen. Zeiten großer Unsicherheit sind Treiber des Informationsbedürfnisses, Zeiten von Homeoffice und Kurzarbeit vergrößern die Nachfrage nach jenen Unterhaltungsangeboten, die gerade zulässig und verfügbar sind.

Mit der Auffächerung der politischen Debatte und der Ermüdung des Sensationseffekts wird die Aufgabe der Berichterstattung anspruchsvoller. Manches Corona-Ritual hat sich verbraucht, manches Talkshow-Gesicht auch. Medienkonsumenten wollen neue Themen und neue Formate zur Vermittlung des „alten“ Themas.

Dabei fehlen ganze Sektoren von Themen, die sonst regelmäßig die Berichterstattung prägen: Sportereignisse aller Art, Konzerte und Aufführungen, schlicht alles, was ein Live-Publikum adressiert und meist parallel elektronisch vermittelt und redaktionell kommentiert wird. Manches lässt sich kreativ umbauen, etwa in kabarettistische Home-Office-Sendeformate. Anderes fehlt wohl auch in den kommenden Monaten. Und irgendwann werden wir merken, dass die Produktion von Filmen und Serien weltweit stockt und Schneisen voller Wiederholungen in die seriellen Fernsehprogramme geschlagen werden.

 

Kommunikation in der zweiten Pandemiephase – sechs ungefragte Ratschläge

1.       In menschlichen Dimensionen sprechen

Zugegeben, Statistik war nicht mein Lieblingsfach im Studium. Aber ein bisschen Gefühl für die Interpretation großer Zahlen und für den Verlauf von Wachstumsprozessen hat geholfen, mögliche Entwicklungen einzuordnen. Für Politikerkommunikation, die Menschen tatsächlich erreichen und bewegen soll, sind und bleiben große Zahlen aber ungeeignet. Denn sie haben schlicht kein Herz, spiegeln nicht das Erleben der Zuhörer.

Konkrete Geschichten von vorbildlichem oder schädlichem Verhalten Einzelner, von möglichen Infektionswegen und Forschungsfeldern, von unternehmerischen Reaktionen auf Existenzbedrohung und praktischer Phantasie im Schulbetrieb haben deutlich größere Chancen, Gehör zu finden und handlungsleitend zu wirken. Im Journalismus wie im Marketing ist Storytelling seit jeher das erfolgreichste Kommunikationsmuster. Liebe Politiker, liebe Journalisten, erklärt das Große aus Perspektive des Kleinen, andersrum versteht man euch nicht.

 

2.       Für Grundsätze werben statt Grenzwerte verteidigen

Klar, Menschen suchen Orientierung in Grenzwerten. Sie wollen wissen, wo Sicherheit für sie selbst beginnt und Fehlverhalten anderer. Dumm nur, dass jede Abstandsgrenze, jede Mundschutznorm, jede Quadratmeterzahl im Laden und jedes Lockerungsdatum letztlich willkürlich wirkt, jede Regel und jede Ausnahme anfechtbar bleibt. Die wichtigste Botschaft in der Erklärbärenrolle von Politikern und Medien ist das Grundsätzliche: Viel Abstand hilft, wenige persönliche Kontakte helfen, viel Hygiene hilft.

Polizei und Ordnungsämter brauchen Grenzwerte, okay. Aber Menschen brauchen Sinn für das Wesentliche, verbunden mit der Überzeugung, dass ihr eigenes Verstehen und Verhalten die Gefahr für sich und die eigene Familie stark beeinflusst. Ausdifferenzierte Grenzwertdebatten nehmen die Regelmacher in Verantwortung, einfache Verhaltensgrundsätze hingegen die Adressaten. Was die Sozialpsychologie Selbstwirksamkeitserwartung nennt, war nie wichtiger für Menschen als in einer globalen Gesundheitskrise.

 

3.       Dezentralität rockt

Die leichtfüßigste Behauptung der letzten Zeit: Uneinheitliche Regeln akzeptiert niemand. Dummerweise sind genau sie die einzige Lösung, um so viel Freiheit wie möglich und – in gefährdeten Regionen – so viel Eindämmung wie nötig zu vereinbaren. Die Politik täte gut daran, föderale Gesundheitspolitik (bis herunter auf die Kreisebene) eindeutig positiv zu framen statt als Notlösungskompromiss zwischen Bund und Ländern.

Andere Situationen auch anders zu regeln, kann man deutlich überzeugender finden als das unreflektierte Herbeibeten von Einheitsbrei. Und dann sollte man es auch aufrecht verkaufen. Übrigens eine tolle Chance für Lokalmedien wie für Kommunalpolitiker, sie machen jetzt den Unterschied.

 

4.       Globalität matters

Wer ein Thema stricken wollte, um die Notwendigkeit internationaler Kooperation zu belegen, hätte die Pandemie erfinden können. Ein Virus, das alle auf dem Planeten bedroht und nur durch global arbeitsteilige Wissenschaft und Pharmazie zu bekämpfen ist. Ein gemeinsamer Feind, nur durch abgestimmtes Handeln zu besiegen. Die Zahlen aus USA, GB, Russland und Brasilien zeigen dramatisch, was das Ergebnis von ignoranten Vereinfachern in Regierungsverantwortung ist. Für Multilateralisten gute Zeiten, in die Offensive zu gehen. Aggressive Kleingeister haben lange genug die Agenda bestimmt. Auch Produkt- und Unternehmensmarken müssen jetzt beweisen, ob ihre „Purpose“-Positionierungen einer realen Krise standhalten. Wahrnehmung ist ihnen sicher, von guten wie von schlechten Stories.

 

5.       Phantasielosigkeit nervt

Könnte bitte jemand ein anderes Symbolbild erfinden als das lächerliche Comic-Virus?

 

6.       Vision Normalität – echt jetzt?

Und über allem schwebt die große Frage, wo das große Ziel liegt. Der Schlüsselbegriff für die große Vision, auf die angeblich alle hinarbeiten, heißt angeblich: Normalität, gern auch eine angeblich neue. Jetzt stellen wir uns mal ganz dumm: War unser aller Leben bis in den Februar 2020 wirklich das beste, das wir erträumen konnten?  Wie arm, nach dem größten globalen Schock unseres Lebens nichts höher zu schätzen als den Schritt zurück zum Status quo ante.

Die vielen von uns, die die Pandemie überleben, werden eine Menge Erfahrungen mitnehmen. Sie werden beobachten, wie sich ihr Arbeitgeber verhalten hat, wie die Familie zusammenhält. Sie werden unter den Freunden erleben, wer besonnen und wer gedankenlos agiert hat. Sie werden verfolgen, welche Medien und welche Politiker hilfreich und welche opportunistisch wirken.

Wir werden uns fragen, wie wertvoll die gewonnene Lebenszeit durch entfallene Pendelei ins Büro ist. Wie sehr uns Fernreisen wirklich fehlen oder Kinofilmpremieren oder die Fußball-EM.

Die Pandemie trifft den globalen Norden in einer Zeit von infrage gestellten Wirtschafts- und Lebensweisen. Wer es nicht schon vorher ahnte, erlebt nun, dass es keine verlässliche Stabilität für Wohlstand, Freiheit und Gesundheit gibt.

Die Pandemie beweist der Weltgesellschaft ihre Verletzlichkeit. Sie zeigt jenen, die selbstgerechte Egomanen gewählt haben, die Folgen. Sie zeigt den Menschen aber auch die Veränderbarkeit von vermeintlichen Selbstverständlichkeiten. Von einem Tag auf den anderen nicht zur Arbeit, nicht zur Schule, nicht zum Friseur, nicht in die Kirche und nicht nach Malle.

Die Corona-Erfahrungen können persönliche Prioritäten, Überzeugungen, Lebenspläne verändern. Eine Chance, die den kollektiven Schock in ein persönliches Freiheitserlebnis zu drehen vermag.

Ein Thema, das viele persönliche Geschichten verändern wird. Das dann nicht ermüdet, wenn wir es als eine Zeit großer Erkenntnisse, großen Leids. großer Verantwortung, letztlich aber auch großer Freiheit erzählen.

Und nicht als Statistikschlacht, als Grenzwertestreit oder als temporäre Panne im Paradies des Normalen.

 

Mittwoch, 1. April 2020

Das Primat der nationalen Gesundheit


Ein Virus, der eine lebensbedrohliche Lungenkrankheit auslösen kann, verbreitet sich in einer Weltbevölkerung, deren Immunsystem darauf null vorbereitet ist. Faktisch gleichzeitig und überall.
Als Science-Fiction-Katastrophen-Plot vermutlich schlicht zu krawallig, um eine Chance auf Verfilmung zu bekommen.
Die Pandemie ist ein globaler Schock, der in einigen Facetten über Weltkriege hinausgeht: Sie betrifft wirklich alle Länder, bedroht wirklich alle Menschen und sie ist nicht durch einen Akt von Rationalität wie Friedensschluss oder Kapitulation zu beenden.
Neben allen faktischen Bedrohungen und Schäden versetzt sie die Weltgesellschaft in einen Zustand, den Menschen ganz besonders schlecht ertragen: anhaltende Ungewissheit. Niemand kann auf ein Zieldatum hinarbeiten, an dem Normalität eintritt. Niemand kann abschätzen, wie viele Opfer die Krankheit fordern wird. Niemand kann die Stabilität von Gesundheits-, Sozial-, Wirtschafts- und Finanzsystem sowie der öffentlichen Ordnung in den Weltregionen ernsthaft prognostizieren.

Reflexe vs. Reflexion
Die Gesellschaften reagieren ähnlich wie einzelne Menschen in Not: Plötzlicher existenzieller Stress löst den Ausstoß von Adrenalin aus, um alle Energie in verbesserte Handlungsfähigkeit zu leiten. Handeln allerdings im Sinne von Weglaufen und Flüchten, Hinlaufen und Verjagen, Eingraben und Schutz suchen. Also immer Reflexe statt Reflexion.
In Schock und Unsicherheit suchen auch europäische Gesellschaften Orientierung im Vertrauten. Das zeigte sich sehr schnell an der nationalstaatlichen Fokussierung der ersten Reaktionen: Reisetätigkeit wurde entlang nationaler Grenzen blockiert (statt durch Einkreisen der lokalisierten Infektionsherde im Land). Auch die tägliche Infektions- und Todesfallbilanzierung erfolgt in einer nationalen Logik, die im 19. Jahrhundert nicht anders ausgesehen hätte. Wirtschaftliche und soziale Folgen werden an den Nationalstaat adressiert - und er verspricht Heilung, als würde er dauerhaft über materielle Mittel verfügen, die aus anderen Quellen stammten als der Wirtschafts- und Arbeitswelt, die er zu schützen verspricht. Nationale Gesundheitssysteme liefern sich einen globalen Wettstreit um Schutzkleidung, Beatmungsgeräte und Pharmaforschung.
Es wäre naiv gewesen, etwas anderes zu erwarten. Aber es zeigt, wie wenig die Weltgesellschaft in den Köpfen verankert ist und wie wenig handlungsfähig transnationale Institutionen im Vergleich zu nationalen sind, selbst innerhalb der EU. Wenn eine Krise eine globale Antwort bräuchte, dann diese. Selbst in den Katastrophenfilmen, die von der Abwehr einer Weltbedrohung aus dem All handeln, organisiert der weltrettende US-Präsident mehr planetare Kooperation als im gegenwärtigen Ernstfall irgendjemand von Gewicht.
Der synchron-globale Schock deckt auf unterschiedlichste Weise Widersprüche und Brüche auf, die die nächsten Wochen und Monate bestimmen werden.

Beispiel 1: Die deutsche Arbeitswelt
Nie wurden die Unterschiede in persönlicher wirtschaftlicher Sicherheit so deutlich wie jetzt:  Rentenbezieher, Staatsbedienstete und sogar Hartz IV-Empfänger erhalten ihr Geld unverändert und verlässlich. Abhängig Beschäftigte fallen teilweise in Kurzarbeit null, andere hingegen können im Mobile Office kaum eingeschränkt weiter rackern, noch andere, wie im Lebensmittel-Einzelhandel, repräsentieren auf einmal Mangelberufe. Betriebsbedingte Kündigungen werden folgen. Kleine wie große Unternehmer sehen ihre Existenz in unterschiedlichen Zeitperspektiven gefährdet. Und völlig schutzlos sind Freiberufler, sie bilden die erste Einsparoption für ihre bisherigen Auftraggeber und leiden oft additiv unter den Einschränkungen des Social Distancing und dem Konjunktureinbruch.
Was bisher ein eingespieltes Nebeneinander unterschiedlicher Erwerbsformen mit unterschiedlichen Vor- und Nachteilen war, ist nun zu einem abgründigen Gefälle an Existenzsicherheit und Chancengleichheit zwischen ihnen geworden.
Das birgt Sprengstoff, der durch Kurzarbeitergeld nur teilweise entschärft werden kann. Denn wie bei jeder staatlichen Hilfe gibt es auch hier nicht das objektiv gerechte Verteilungskriterium.
·       Wer Unternehmen nach Bedürftigkeit (rote Zahlen oder Existenzbedrohung) stützt, versenkt Milliarden in Branchen, die eigentlich eh nicht zukunftsfähig waren und nimmt viele solide geführte Unternehmen von Hilfe aus.
·       Wer alle gleich unterstützt (Stichwort Helikoptergeld), kann viele Existenzverluste dennoch nicht verhindern, alimentiert aber andere, die keiner Hilfe bedürfen.
·       Und wer nach dem Äquivalenzprinzip unterstützt, etwa durch gezielte Hilfe für systemrelevante Branchen und Unternehmen, deren Verlust der Allgemeinheit schwer schaden würde, setzt sich bei den vielen anderen Bedürftigen dem Vorwurf der Willkür aus. Wer einen Großteil der Erwerbsmöglichkeiten oder der Altersvorsorge verloren hat ohne eigenes Verschulden und ohne eigene Abwehrmöglichkeiten, wird die Rettung einer Bank oder eines großen Tourismusunternehmens kaum mit Beifall bedenken, wenn er selbst leer ausgeht.
All dies blendet noch die Generationengerechtigkeit aus: Die Politik beweist ihre akute Handlungsfähigkeit zulasten künftiger Möglichkeiten bei öffentlichen Investitionen, ökologischen und sozialen Initiativen sowie aller steuerlichen Entlastungsmöglichkeiten. Die sympathisch wie alternativlos wirkende dreistellige Milliardenhilfe wird nicht ohne Folgeschäden bleiben.

Beispiel 2: Ungleiche Gesundheitssysteme
Die Medien beschreiben in fast allen Weltgegenden die gleichen Geschichten: Knappe Tests, knappe Schutzkleidung und Intensivbetten, drastische Mobilitätsbeschränkungen und wachsende Infektions- und Todeszahlen. Was erst in einiger Zeit deutlich werden wird, sind die enormen quantitativen Unterschiede der Probleme. Heute grübeln manche Ökonomen über die Schockwellen, die ein weiter exponentieller Verlauf in den Vereinigten Staaten für den Rest der Welt auslösen kann. Morgen werden wir sehen, dass ein exponentieller Verlauf etwa in Afrika und in einigen BRICS-Staaten die EU auch dann noch massiv fordern wird, wenn hier das Immunitätsniveau steigt und die Überlast in den Krankenhäusern abklingt; Fordern in humanitärer wie wirtschaftlicher Hinsicht.
Eine globale Gesundheitskrise wird auf einschneidende Art deutlich machen, was Angela Merkel schon mit Blick auf europäische Integration und koordinierte Migrationspolitik in Erinnerung gebracht hat: Wenn es einem Nachbarn existenziell schlecht geht, kann man nicht wegsehen und weitermachen wie bisher. Die Gegenwartswelt hält an nationalen Grenzen nur in Maßen ein Wohlstandsgefälle aus – das wird bei einem existenziellen Gesundheitsgefälle nicht anders sein.
Die Folgen des Virus werden also in einer deutschen wie in einer globalen Perspektive auf längere Sicht wirksam bleiben. Dabei wird uns die Krise zwingen, axiomatische Wertefragen zu diskutieren.

Ökonomische Prinzipien im Gesundheitssystem?
Richtig ist: Eine Gesellschaft braucht einen Wertekonsens für ihren Zusammenhalt. Damit das funktioniert, sind vereinfachende Zuspitzungen vermutlich nötig. So ist es in unserer Welt eine Selbstverständlichkeit, Gesundheit für das höchste Gut zu halten. Niemand wird öffentlich verkünden, dass es für die Rettung eines Menschenlebens eine finanzielle Obergrenze gibt. Dabei zeigt schon ein schneller Blick in die Welt, wie selbstverständlich in der Praxis solche Grenzen sind, auch wenn sie unausgesprochen bleiben.
Auch das deutsche Gesundheitssystem ist nach ökonomischen Maßstäben geordnet. Wir versuchen es so zu optimieren, dass es mit hohen, aber nicht unbegrenzten Ressourcen ein Maximum an – möglichst gesund verbrachter – Lebenszeit herausholt. Natürlich würden noch größere Ressourcen noch mehr bringen, und immer wieder wird an dieser Grenze gestritten– aber sie existiert. Auch jenseits der Gesundheitspolitik wägen wir andere Werte gegen Menschenleben ab: Wir tolerieren gefährliche Sportarten, Verkehrsmittel, Nahrungs- und Genussmittel. Damit gewichten wir manche Freiheiten als so wertvoll, dass sie verlorene Lebensjahre rechtfertigen.

Globale Empathie?
Noch offensichtlicher wird das, wenn wir auch hier über Grenzen hinausdenken: Kaum jemand käme auf die Idee, den Erhalt von Menschenleben auf einem anderen Kontinent mit deutschen Ressourcen so stark zu schützen, wie wir das im eigenen Gesundheitssystem tun. Ein Sterbender in einem fernen Land bewegt uns deutlich weniger als einer in der eigenen Nachbarschaft. Unsere Zahlungsbereitschaft orientiert sich an unserem Empathiehorizont, und der entsteht aus dem Zusammenspiel von familiärer, empfundener und regionaler Nähe sowie nationalem Zugehörigkeitsgefühl.
Ja, kommunikativ ist akut nicht zu kritisieren, dass die Politik wirklich alles dafür tut, durch kollektive, verhaltensändernde Appelle das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben einzubremsen, durch Finanzhilfen Existenzängste zu kontern und dabei in dem Horizont denkt, in dem auch die Öffentlichkeit Sicherheit und Orientierung sucht: im nationalen Rahmen. Die Rahmengeschichte ist: In Deutschland haben wir eine sehr ernste Situation. Aber wir haben bessere Möglichkeiten, sie zu bewältigen, als viele andere, also lasst uns deutsche Tugenden ausspielen, dann wird das schon.

Kein deutsches Genesungs-Cocooning
Aber es liegen politische Weichenstellungen vor uns, die allein in diesem nationalen Sicherheitsnarrativ nicht zu bewältigen sind. Die Expansion des Virus wird anderswo größere Opfer fordern als hier, in einem der leistungsfähigsten Gesundheitssysteme der Welt. Das wird uns aber nicht erlauben, inselartig unser Wirtschaftswunder 2.0 zu organisieren und fleißig wie sozialpartnerschaftlich einen nationalen Restart zu organisieren. Vielmehr werden wir erheblichen Anforderungen aus anderen Teilen der Welt ausgesetzt sein, die humanitär wie wirtschaftlich nicht ausgeblendet werden können. Keine große europäische Volkswirtschaft ist enger mit der Welt verflochten. In einer Weltgesundheits- und -wirtschaftskrise kann es kein deutsches Genesungs-Cocooning geben.
Letztlich unhaltbar wird es aber auch sein, immer wieder das bedingungslose Primat der Gesundheit vor der Wirtschaft zu besingen. Weder gibt es ein solches Prinzip im gesellschaftlichen Normalmodus, noch wäre es jetzt durchhaltbar. Auch wenn das Absenken der Bewegungsbeschränkungen und das schrittweise Wiedereinführen von Gewerbefreiheit Einfluss auf Infektionswahrscheinlichkeiten nehmen kann, darf nicht jede Erleichterung tabuisiert werden.
Die in historischem Rahmen jedes Vorbild sprengenden Soforthilfen sind allein dadurch legitimiert, dass sie den dauerhaften strukturellen Schaden an Wohlstand, sozialer Sicherheit und auch an der Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems selbst begrenzen - und die Ausgangsbasis für einen Restart schützen. Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit bildet eine notwendige Voraussetzung für den Erhalt der Stärken unseres Gemeinwesens.

Fazit: Lasst uns reden
Es wird und es muss eine Abwägung erfolgen zwischen virologischen und ökonomischen Prioritäten. Und zwischen nationalen und globalen Zielen. Nicht die Abwägung selbst wäre neu. Wohl aber das offene Sprechen darüber.

Mittwoch, 12. Februar 2020

Wie den Laden zusammenhalten? Ein Orientierungsansatz für Volksparteien nach dem Thüringen-Fail



Die aktuelle Krise der CDU hat die gleichen Ursachen wie die schon länger gärende der SPD. Und die liegt nicht darin, dass sie auf einmal Vollversager wurden oder ein unglückliches Schicksal nur ungeeignete Köpfe in Spitzenposten gebracht hat. Es ist vielmehr die gesellschaftliche Realität, die sich in einem Prozess von Jahrzehnten gründlich geändert hat. Der zentrale Orientierungspunkt jedes Versuchs, eine politische Mehrheit hinter sich zu bringen, war stets die Mitte. Nun gibt auf einmal zwei davon, und die vertragen sich gar nicht gut.

Die SPD fühlt sich seit dem Thüringen-Fail so wohl in ihrer Haut wie lange nicht mehr. Wenn es ein Politikfeld gibt, das Zusammenhalt und Identifikation unter Sozialdemokraten nährt, dann die entschlossene Abwehr von Rechtsradikalismus und Demokratiefeinden. Die Partei von Otto Wels und Willy Brandt war die letzte im parlamentarischen Kampf gegen die Nazis, eine der ersten im Widerstand, und anschließend war sie im Osten Deutschlands unter den ersten Opfern der kommunistischen Diktatur (und nach dem Mauerfall die Partei mit der striktesten Ausgrenzung von Blockparteimitgliedern). Die Sozialdemokratie stand historisch stets auf der richtigen Seite der Geschichte. 

Die Geschichte ist der stärkste Identifikationsklebstoff der SPD. Sie ist ihr Stolz, auch ihr Auftrag für Gegenwart und Zukunft. Aber eines ist sie nicht: die Lösung ihrer Probleme. Die Geschichte der SPD ist enorm wertvoll für ihre interne Selbstvergewisserung. Aber Stimmen und damit einen neuen Auftrag für politische Führung wird sie ihr kaum bringen. 

Auch die Union versucht in der Krise die Rückbesinnung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner und beschwört „Die Mitte“. Genauso nachvollziehbar, denn das war ihr Erfolgsrezept, um zur natürlichen Regierungspartei der Bundesrepublik zu werden (was nur dann nicht gelang, wenn es der SPD mal besser gelang). Auch sie wird mit dem Naheliegenden, der Rückbesinnung auf alte Erfolge, scheitern. Denn die Welt hat sich weiter gedreht, als viele wahrhaben wollen.


Alte und neue Mitte

Meine Generation der Babyboomer wurde in eine Republik hineingeboren, die die Wissenschaft als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ beschreibt. Die große Mehrheit lebte, sofern mit einer anständigen Berufsausbildung und einer halbwegs stabilen Familie beglückt, in sicheren Umständen, einer klaren Vorstellung von Geschlechterrollen und Benimmregeln, einer intuitiven Abneigung gegenüber politische Extremen - und in der Gewissheit, dass der Großteil der Mitmenschen einen Lohn, ein Gehalt oder eine Besoldung in vergleichbarem Maßstab bezog. 

Diese Mittelschicht genoss die Aufmerksamkeit der politischen Parteien. Denn die die wussten, dass ohne sie keine Mehrheit zustande kam. 

Soweit, so gut. Dumm nur, dass die Parteien – und viele Redaktionen - diese Vorstellung von Normalität bis heute nicht aus den Kleidern zu schütteln vermögen. 

In der postindustriellen Gesellschaft, die seit Anfang der Siebziger bis in die 90er die Realität eroberte, gewann eine andere Mittelschicht die Oberhand. Nachdem sich der Anteil der Industrie an der Wertschöpfung mal eben halbiert hatte, schrumpfte auch das Gewicht des gewerkschaftlich organisierten Tarif-Arbeitnehmers und seines (oft konservativeren) kaufmännischen Angestellten-Kollegen. In den kreativen und technologischen Berufsfeldern der Wissensgesellschaft wurden akademische Werdegänge auf einmal ziemlich normal. Wer sich früher mit einer Banklehre einen lebenslang beachtlichen Status sicherte, muss heute nicht nur BWL studieren, sondern sich auch noch alle paar Jahre beruflich neu definieren und räumlich verändern.


Synthetisierte Identitäten

Heute dominiert die neue Mittelschicht in den urbanen Leitmilieus. Die Kinder des alten Mittelstands waren oft die ersten in ihren Familien mit Hochschulabschluss. Auch sie müssen sich keine Sorgen ums Geld machen, wenn sie von ihren Bildungschancen Gebrauch gemacht haben. Aber eines fehlt ihnen fundamental: Zusammenhalt, Zugehörigkeit. Wer die Freiheit hat und nutzt, seine religiöse und sexuelle Identität bestimmt, seinen Wohnort (gern auf Zeit) wählt, seinen ganz persönlichen Cocktail von kultureller Identität mixt, TCM und Vinyl-Sammlung pflegt und bei Gravis oder Manufactum materielle Leidenschaften auslebt, der wird niemanden finden mit identischer Verortung. Die neue Mitte hat aus Ablehnung des Konformismus der alten Mitte das Gegenteil, eine Gesellschaft der Singularitäten geschaffen, so bezeichnet vom Viadrina-Soziologen Andreas Reckwitz, heißen Herzens zur Lektüre* empfohlen. 

Meine Branche, die Werbung, profitiert davon: Denn Charakter ist nun käuflich. Konsum dient hier kaum mehr der materiellen Bedürfnisbefriedigung, sondern der Selbstdefinition durch ein Bekenntnis zur wohlüberlegt gewählten Marke. Wie mächtig dieses Bedürfnis ist, zeigen die überquellenden Altkleidersammelstellen in Berlin.

Reckwitz (und andere) beschreiben auch das Wachstum der neuen Unterschicht, die beim Umschwung von der Industrie- zur Wissensgesellschaft entweder zum perspektivlosen Bezieher von Transferleistungen oder zum deklassierten Dienstleisterdasein im Mindestlohn-Universum verdammt wurde. Und über allem thront eine kleine, absurd reiche Oberschicht. Politisch bestimmt nicht machtlos, als Wählergruppe aber vernachlässigbar.

Wer sich das Nebeneinander dieser vier sozialen Aggregate live und in Farbe vor das innere Auge führt, kann das Leiden der meisten Parteien in Deutschland verstehen. Es ist eine grundlegende, keine situative Krise. Das alte Mantra der Volksparteien, ein möglichst großes Stück vom Mitte-Kuchen zu gewinnen, fällt in sich zusammen angesichts der beiden Mitten, die unterschiedlicher kaum sein könnten. 


Sprachlosigkeit der Mitten

Die alte Mitte fürchtet die urbanen Spinner wegen ihrer wachsenden kulturellen und ökonomischen Dominanz, verachtet zugleich ihre Schrankenlosigkeit und Vereinzelung. Die neue Mittelschicht wiederum langweilt sich schon beim Gedanken an ein kleinstädtisches Reihenhausleben zwischen Sportverein, Autowaschen und Rasenmähen. Die beiden Gruppen, von vielen Redaktionen und Politikern noch immer in einen Sack namens Mitte gesteckt, würden vermutlich an gemeinsamen Grillabenden  nebeneinander wortlos und genervt vor sich hin stieren.
In der kleinstädtischen Welt, die Zuwanderer ablehnt, leben kaum welche. Und in der großstädtischen Welt voller Tierschützer leben nur Streicheltiere. Die alte und die neue Mitte haben sich in den zurückliegenden Jahrzehnten zu handfesten Antagonisten entwickelt. Man redet über- und nicht miteinander, und zwar schlecht. Die neue Unterschicht, als einzige Beteiligte auch materiell bedrängt, hat nebenbei unbeachtet alle Hoffnung auf Aufstieg fahren lassen.  
Man versteht die Nöte der Parteistrategen. 


Bekenntnis- vs. Repräsentativ-Demokratie

Früher wurden Regierungen abgewählt, wenn sie schlecht regiert haben. Heute haben wir die niedrigste Arbeitslosigkeit seit dem Epochenwechsel 1990, stabile Preise, wachsende Löhne und Lebenserwartung, sinkende Arbeitszeit, äußeren Frieden und hunderte TV-Kanäle. Und eine über allem wabernde politische Weltuntergangsstimmung. Spitzenpolitiker und -innen fliehen vor ihrer Überforderung. 

Offenbar wird Politik nicht an ihrem Ergebnis gemessen. Wählen ist nicht Belohnung für erbrachte politische Leistung, war es auch früher selten. Schlimmer: Wählen ist nicht mehr Auswahl der Repräsentanten, denen man die Beherrschung der wichtigsten Zukunftsfragen zutraut. Wählen ist heute vor allem eines: Bekenntnis zu dem einen Thema, das aktuell die größten emotionalen Wellen schlägt. 

Für die neue Mitte naheliegend, trifft sie ihre Wahl- wie ihre Konsumentscheidungen: Mit welchem Kreuz fühlt sich meine tendenziell singularisierte Seele am wohlsten? Wie schön, dass die Grünen dafür ein wunderbares Angebot haben. Ein „Hier-kann-man-nichts-falsch-machen-und-sich-überall-sehen-lassen“-Kreuzchen. Klimapolitik hat sich zum Gut-Böse-Unterscheidungsthema aufgeschwungen, da ist ein Bekenntnis-Kreuz immer gut untergebracht.

Für den Teil der alten Mitte, der durch „Fremde“ Konformität und Normalität seiner persönlichen Lebensumgebung bedroht sieht, erfüllt ein AfD-Kreuz eine ähnliche Funktion: Ihr da oben macht mir meine gewohnte Ordnung nicht kaputt. Völlig egal, ob Umwelt- oder Haushaltspolitik, Rente oder Gesundheit gut geregelt werden, Hauptsache die aktuell stärkste Emotion findet ihren Ausdruck in der Wahlkabine.

Soviel zu den Gewinnern der zwei Mitten. Wer aber nicht nur die eine oder die andere Mitte bedienen will oder kann, tut sich sehr schwer mit einer glaubwürdigen Verortung in der postindustriellen Gesellschaft. Andreas Reckwitz sieht Szenarien für die Weiterentwicklung, überwiegend nicht ermutigend:  das weitere Wachsen des deklassierten Prekariats in Folge der digitalisierten Ökonomie oder ein lange währender Verdrängungskampf zwischen den beiden Mitten mit dem perspektivischen Vorteil der besser ausgebildeten neuen Mitte, dafür einer scharfen Gegenwehr des verbleibenden Rests.

Seine positive Perspektive lässt der prekären Klasse und der alten Mitte Raum neben der expandierenden neuen Mitte. Vor dem Hintergrund des demographisch getriebenen Arbeitskräftemangels in Europa könnten Chancen entstehen, die Unterklasse zu entprekarisieren und eine neue, materielle wie immaterielle Wertschätzung für nicht akademische Arbeit zu entwickeln. 


Euer Job, Volksparteien! Und unserer.

Union und SPD ist es unmöglich, sich für die eine oder andere Mitte zu entscheiden. Es muss ihre Perspektive sein, trotz aller Sprachlosigkeit ein Minimum an Gemeinsamkeit zu schaffen, das das Land zusammenhält und in beiden Mitten relevanten Wählerrückhalt produziert. Deshalb können sie gar nicht anders, als den Dominanzversuchen beider Mitten ein glaubwürdiges Angebot des sinnvollen Miteinanders entgegenzustellen. 

Das klingt viel leichter als es ist. Denn schon kommunikativ haben beide Mitten kaum mehr Gemeinsamkeiten, schon die neue Mitte allein zerfällt ja in diverse Mediennutzungswelten. Es ist auch alles andere als banal, Spitzenpersonal zu identifizieren, mit dem beide Mitten etwas anfangen können. Die Spielregeln einer Bekenntnis-Demokratie drängen zur symbolisierenden Simplifizierung und Herabwürdigung des Gegners, wer wagt es, sich dem einseitig zum entziehen?

Aber es nicht zu versuchen, wäre sträflich. Die Unterschiedlichkeit der Mitten weiter zu ignorieren, wäre dumm. Die banalisierende Reduktion von Politik auf symbolbeladene Kulturkämpfe verdient Widerspruch, die repräsentative plurale Demokratie hingegen laute Fürsprache. 

Ein großer Sprung über meinen Schatten: Es scheint aktuell einen Spitzenpolitiker zu geben, der das Problem ernst nimmt und immerhin daran arbeitet: Markus Söder hat seine Persönlichkeitsmarke seit dem Amtsantritt als MP so modelliert, dass er auch in der sonst CSU-fernen urbanen neuen Mitte zumindest mal angehört wird. Erst mal nur ein Versuch, aber immerhin schlauer als die vielen tumben Echos der Adenauer-Mitten-Denke.

Diese Herausforderung ist existenziell für die Volksparteien. Und andersrum ist der Erfolg der Volksparteien in diesem großen Spiel existenziell für unsere Gesellschaft. 

Und wer kann helfen? Wir. Meine Generation mit Wurzeln in der alten und einem Leben in der neuen Mitte. Die – demographisch bestens besetzten – gut ausgebildeten Babyboomer verfügen über das Können und den Einfluss, Brücken zwischen den Antagonisten zu bauen. Wir kennen noch die Wohligkeit eines Samstagabends mit Enterprise und Sportschau in Vierkopf-Familie, dann Sonntagsbraten und dann Diskussion von Enterprise und Sportschau auf dem montäglichen Schulhof, weil alle das Gleiche gesehen haben. Wir kennen aber auch den Genuss der Freiheit, Konventionen abzustreifen und möglichst alles auszuprobieren, was erreichbar ist. Und wenn wir ehrlich sind, springen unsere Bewusstseinszustände manchmal noch von den Maßstäben der alten Normalität und der neuen Singularität hin und her.

Der Gegensatz der beiden Mitten kann unsere Gesellschaft sprengen. Verhindern können das Volksparteien, die sich den Respekt beider Mitten verdienen. Dafür müssen sie erst ihren Antagonismus begreifen. Helfen kann auch die einzige Generation, die beiden Mitten verbunden ist. Kapitulieren wie Nahles und AKK kommt nicht in Frage.

*Lesetipp:
Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen: Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, edition suhrkamp, 2019