Der Berliner Politologe Herfried Münkler hat im Jahr 2005 seinen Klassiker „Imperien“ veröffentlicht. Was eine Hilfe sein kann, die zeitengewendete Welt von heute einzuordnen. Und die deutsche Position klarer zu formulieren.
Das knackig geschriebene Buch erschien im Schatten des dritten Golfkriegs und mit Blick auf die These, das amerikanische Imperium habe seinen Höhepunkt hinter sich. Dabei sind die Muster, die er in der Geschichte des internationalen Machtgefüges immer wieder gefunden hat, für das Verständnis der ach so unordentlichen Gegenwart faszinierend nützlich. Sein Blick reicht von den großen „klassischen“, lange wirkmächtigen Imperien China und Rom über die kurzlebigen Riesenreiche der Reitervölker, die Handelsimperien der Portugiesen und Niederländer, die eher wirtschaftsschwachen Großreiche der Spanier und Russen bis zum britischen Weltreich und seinem US-amerikanischen Erben.
Beim Lesen muss man im Kopf erst mal umschalten: Er nutzt den Begriff Imperien rein deskriptiv-analytisch und nicht, wie wir alle es gelernt haben, normativ voller Abscheu und Empörung. Da Imperien die Zivilisationsgeschichte maßgeblich geprägt haben, beschreibt er ihre Eigenschaften, Funktionen und Unterschiede nüchtern und sachlich. Dabei ist seine Leitidee, Imperien nicht nur mit Blick auf das strahlende Machtzentrum zu verfolgen, sondern das Zusammenspiel von Zentrum und Peripherie zu verfolgen. Und hier wird der Bezug zum heutigen Krieg in Europa interessant.
In seiner Grundordnung existieren drei Typen von Staaten:
- Normale Staaten wie aus dem Bilderbuch der UN, die einander auf Augenhöhe begegnen und mal mehr und mal weniger friedlich mit- und nebeneinander her leben
- Hegemonialmächte, die andere Staaten von sich abhängig machen
- und Imperien.
Natürlich selten so klar abgrenzbar, mit Misch- und Übergangsformen. Aber konzeptionell unterscheidbar.
Imperien sind für Münkler viel mehr als Großmächte. Oft entstanden aus einer weltpolitischen Randlage ohne starke konkurrierende Nachbarn, haben sie sich dann nach einer rasanten Expansion als stabiles Großgebilde reorganisiert (Vorbild Kaiser Augustus) und sind dann dauerhaft kraftvoll geblieben, wenn sie militärische, ökonomische, politische und kulturelle Führungsmacht zugleich wurden - oder die Schwäche in einem dieser Felder durch eine andere Stärke kompensieren können. Münkler fällt auf, dass Imperien oft keine harte Grenze haben, sondern am Rand durch Übergangszonen geprägt sind, in denen sich verschiedene Einflüsse überlagern.
Kommunikativ pflegen Imperien zwei Typen von Narrativen: Für die Gegenden hinter der Übergangszone eine Barbaren-Erzählung, für das Selbstverständnis hingegen eine imperiale Mission. In China etwa das Mantra der Einheit in Harmonie, in Spanien wie Russland eine religiöse Mission und im US-Imperium Demokratie, Freihandel und Menschenrechte.
Zentrale Faktoren für die Stabilität von Imperien: Gegenüber der Peripherie müssen sie ihr Versprechen halten, Frieden durchzusetzen. Und im Zentrum müssen sie permanent begründen, dass die Beherrschungskosten lohnende Investitionen sind. Denn die sind erheblich. Münkler verdeutlicht das anhand der USA: Sie haben nicht nur absolut die höchsten Militärausgaben weltweit, auch relativ zur Wirtschaftsleistung investieren sie ein Mehrfaches gegenüber etwa Deutschland, Japan oder Kanada in Waffen und Soldaten. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts streiten die USA darüber, ob sich ihr „Engagement“ außerhalb des eigenen Dunstkreises lohnt. Aber bis heute finanzieren sie die weltweit einzige Armee, die überall auf der Welt kurzfristig und machtvoll einsatzfähig ist. Auch in der Kombination der anderen drei imperialen Machtfaktoren - politische Durchsetzungsfähigkeit, kulturelle Dominanz und Wirtschaftskraft - macht ihnen niemand etwas vor.
Dennoch erörtert Münkler bereits die Risiken einer Überdehnung von Imperien auch am amerikanischen Beispiel. Dabei konnte er 2005 das Scheitern der US-Intervention im Mittleren Osten in seiner ganzen Dramatik noch gar nicht kennen. Die Nutzenbilanz einer militärisch abgesicherten Ordnung bis an den imperialen Rand kann schnell negativ werden, der Aufwand größer als der Ertrag und die Gefahr einer prestigegefährdenden Niederlage wächst. Münkler beschreibt, wie asymmetrische Formen von Kriegsführung, Partisanenkrieg und Terrorismus, den imperialen Herrschaftsanspruch aufzuweichen vermögen, weil die Beherrschungskosten im Zentrum irgendwann nicht mehr akzeptiert werden. Er zeigt: imperiale Ausdehnung kann, an rationalen Kriterien gemessen, für das Zentrum schädlich werden. Mit anderen Worten: Ein rational agierendes Imperium wird niemals Größe um jeden Preis anstreben.
Und: Münkler mahnt, was zusammenbrechende Imperien gern mal hinterlassen: lang anhaltende Unruhe, mündend in gewaltsam ausgefochtene Konflikte um neu geschnittene Staaten und alte Hegemonialansprüche. Womit wir spätestens in der Gegenwart angekommen wären.
Die UdSSR war der imperiale Counterpart zum Westen: Sie verfügte über eine imperiale Mission (Weltrevolution), auch wenn sie die faktisch nur bis zur Mitte der 1960er ernsthaft verfolgt hat. Sie hat neben gewaltiger Militärmacht auch für Imperien wichtige Prestigeerfolge erzielt, von der Raumfahrt bis zu massenhaft olympischen Medaillen. Sie hat dabei an vorrevolutionäre Traditionen angeknüpft, das russische Großreich, eine beachtliche Kulturnation und panslawistische Ambitionen. Von den Zaren geerbt hat sie aber auch ökonomische Schwäche, die in Verbindung mit den Fesseln der Planwirtschaft in den 1980ern den Zusammenbruch aus dem Zentrum des Imperiums heraus auslöste.
Der Zusammenbruch eines solchen Imperiums hinterlässt zweierlei: die Peripherie, die sich - zunächst in einem machtpolitischen Übergangsvakuum - sicherheitspolitisch neu einordnen muss. Und ein Zentrum, das gedemütigt den Gang in eine Zukunft als regionale Mittelmacht antreten muss. Die Beispiele der Briten, der Franzosen, der Türkei und der Weimarer Deutschen zeigen, dass die mit dem Abschied von Großmachtträumen verbundenen Schmerzen wahrlich kein russisches Sonderphänomen sind und teilweise über Jahrzehnte nachwirken.
In den Jahren nach dem Erscheinen von „Imperien“ hat Putin-Russland systematisch an einer militärisch und kulturell fundierten Hegemonialrolle in seiner westlichen Nachbarschaft gearbeitet, Krieg in Syrien geführt und militärische Beziehungen in Afrika ausgebaut. Auch wenn es, ökonomisch und demografisch bedingt, die Rolle des globalen Counterparts der USA nun China überlassen muss, hat es seine begrenzten Möglichkeiten aggressiv eingesetzt, ist weltpolitisch eine unruhestiftende „Spoiler-Macht“ und destabilisiert westliche Demokratien mit ihren verachteten, verweichlichten post-heroischen Gesellschaften und ihren Schwulen-Partys (Putins Barbaren-Narrativ).
Mit den Überfällen auf Georgien 2008 und die Ukraine 2014 hat Putin signalisiert, dass die territoriale Integrität von Nachbarstaaten vor ihm nicht sicher ist. Viel wird darüber diskutiert, warum erst der russische Angriff im Februar 2022 in Deutschland und anderswo zu einer fundamentalen Neubewertung der russischen Strategie geführt hat. Mit Blick auf die Bedeutung von Kommunikation in dieser weltpolitischen Situation ist vielleicht interessanter, wie sich Münklers Methodik zur Analyse dieser Krise anwenden lässt.
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Präsident Selenskyj ist vom ersten Kriegstag an für seine aktive und mobilisierende Kommunikation gelobt worden. Sie hat, in Verbindung mit der überraschend erfolgreichen militärischen Leistung der Ukraine, den Blick vieler auf das Land, seine Erfolgsaussichten und den Unterstützungsbedarf des Westens verändert. Dabei fällt auf, dass manche seiner Forderungen in den Augen westlicher Regierungen geradezu absurd erscheinen mussten, etwa sein Appell an die Nato, eine Flugverbotszone über der Ukraine einzurichten, was schlicht einer frontalen militärische Konfrontation mit Russland gleichkäme. Taktisch kann man dahinter das Motiv vermuten, viel zu fordern, um wenigstens etwas, zum Beispiel Waffen, zu bekommen.
In Münklers Mechanik spielt er aber ein größeres Spiel: Er übt aus der Peripherie Druck auf das Zentrum des „westlichen Imperiums“ aus, um unter den Schirm dessen Friedensversprechens zu schlüpfen. Er hat eine beachtliche Soft Power entwickelt, um in den westlichen Öffentlichkeiten für die Integration in das politische und militärische Sicherheitsbündnis zu werben.
Dafür bedient er die Klaviatur, die Münkler identifiziert hat: Er appelliert an die imperiale Mission des Westens, Demokratie, Menschenrechte und freier Handel, und positioniert die Ukraine als engagierten europäischen Vorposten dieser Werte. Und er ordnet die Berichte über russische Kriegführung und Kriegsverbrechen in das westliche Barbaren-Narrativ über Russland ein. Zum regelmäßigen Bestandteil seiner Videoansprachen zählt zudem die Bilanzierung der vom westlichen Zentrum geforderten Investitionen: Jetzt müsst ihr (im imperialen Zentrum) nur in Waffen für uns in der Peripherie investieren, aber wenn ihr das unterlasst, kostet es euch selbst Frieden, Freiheit und Wohlstand, also viel mehr als viel Geld.
Es lässt sich viel darüber philosophieren, welches Gewicht die EU im amerikanischen Imperialverbund hat. Die Schaffung einer europäischen Gemeinschaftswährung und des gemeinsamen Binnenmarktes war sicher auch Auswuchs des europäischen Bedürfnisses, das eigene Gewicht im transatlantischen Verhältnis zu stärken. Aber klar ist, militärisch und damit machtpolitisch wirkt die EU ohne Schulterschluss mit den USA wenig kraftvoll. Auch in diesem westlichen Verbund zweier durchaus unterschiedlicher Pole war es ein zählbarer Erfolg für die Ukraine, mit der beschriebenen kommunikativen Soft Power den Kandidatenstatus zur EU zu erringen (und damit auf dem Balkan die Frage aufzuwerfen, warum dort der EU-Integrationsprozess deutlich zäher verläuft).
Die Selenskyj-Administration hat es vermocht, die zunächst mehr als zögerlichen zentralen europäischen Führungsmächte aus der Peripherie heraus zu bewegen, in die Mitverantwortung für die Verteidigung der Ukraine zu gehen. Deutschland hat sich durchgerungen, das absolute Gegenteil ihrer alten Waffenexport-Doktrin zu vollziehen und Waffen dorthin zu liefern, wo sie akut eingesetzt werden. Deutschland und Frankreich haben enorme Summen und großes politisches Entgegenkommen für die zuletzt noch immer eher mit spitzen Fingern behandelte Ukraine mobilisiert. Gemeinsam mit der konsequenten Militärhilfe durch die USA ist eine Situation entstanden, in der die Ukraine auf einen scheinbar unerschöpflichen Rüstungs- und Finanznachschub hoffen kann, während Putin immer ältere Panzer und schlechter ausgebildete Soldaten mobilisiert.
Es ließe sich einwenden, dass das Verhalten des Westens schlicht rational ist und wenig mit der diplomatischen Soft Power aus Kiew zu tun hat. Es gibt aber durchaus rationale Gründe für den Westen, eine neutrale Ukraine zu bevorzugen: Eine in den Folgen schwer kalkulierbare militärische Beistandsverpflichtung wäre vermieden, der unsichere russische Kantonist an der weichsten Stelle seiner Westgrenze zugleich befriedet und eingehegt, und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der Ukraine stünde nichts im Weg.
Es zählt zu den Merkmalen kluger Imperien, nicht auf Teufel komm raus zu expandieren, sondern stets Kosten und Nutzen für das Zentrum abzuwägen. Die Weigerung Frankreichs und Deutschlands im Jahr 2008, dem Druck auf eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine nachzugeben, mag man als starkes Indiz für solch ein zurückhaltendes Kalkül verstehen.
Eine solche Interpretation westeuropäischer Motive könnte ein großes kommunikatives Rätsel lösen: Was bitte treibt Bundeskanzler Scholz zu seiner unentschlossen bis schwankend wirkenden öffentlichen Positionierung? Warum agiert er verbal wie faktisch - etwa in Sachen Waffenexporte - wundersam unentschlossen, nachdem er mit der Zeitenwende-Rede im Bundestag in wenigen Minuten jahrzehntealte Glaubenssätze weggespült hatte (keine deutschen Waffen in Krisengebiete und erst recht nicht gegen Russland).
Scholz vermeidet den Anschein eines entschlossen-verlässlichen Unterstützers der Ukraine so sorgfältig und zäh, dass ein Glaubwürdigkeitsverlust Deutschlands kaum mehr zu leugnen ist. Parallel zeigt die Demoskopie in Deutschland Ungewöhnliches: Während Krisen sonst dazu führen, dass sich die Mehrheit hinter dem Kapitän in schwerer See versammelt, erodieren die SPD-Werte in Richtung 15 Prozent. Anzunehmen, dahinter stecke schlicht ein eklatanter Mangel an politisch-handwerklichem Können, würde dem mehrfach erfolgreichen Wahlkämpfer nicht gerecht werden.
Sein Verhalten erhält im Licht von Münklers Erklärungsmuster eine andere innere Logik: Scholz agiert wie jemand, dem man die Freiheit genommen hat, seiner eigenen Agenda zu folgen, und dies in Inhalt wie in Geschwindigkeit. Münkler beschreibt eines der Privilegien erfolgreicher Imperien damit, dass sie über Zeitsouveränität verfügen, wann sie welchen machtpolitischen Zug vornehmen und wann sie eine Konsolidierungsphase folgen lassen. Deutschland wie Frankreich wirken hingegen wie Akteure, denen ein großer Teil ihrer Souveränität geraubt wurde: Russland hat die Friedensordnung Europas atomisiert, und zudem das deutsche Modell einer Industriepolitik mit vergleichsweise günstiger Energie. Die Ukraine hat den Westen mit den kommunikativ-diplomatischen Mitteln der machtpolitischen Peripherie zu weitreichender Unterstützung und zur geöffneten Tür Richtung EU-Mitgliedschaft gedrängt. Die letzte verbliebene Gestaltungsmacht für die Bundesregierung besteht im kleinteiligen, getrieben wirkenden Krisenmanagement, in der niemand glänzen, aber jeder Fehler machen kann. Deutsche Handlungsfähigkeit scheint verengt auf die Abwägung zwischen den Kategorien Gepard, Marder und Leopard.
Münklers Methode taugt gleichzeitig, Putins Fehlspekulation einzuordnen. Er agiert offen aus der revanchistischen Motivation, den vermeintlichen „Glanz“ des Sowjetimperiums wiederherzustellen, diesmal nicht mit einer marxistischen, sondern wie zu Zarenzeiten mit einer rückwärtsgewandten und nationalistisch-klerikalen imperialen Mission. Dabei setzt er auf das alte militärische Zentrum russischer Großmachtträume, nur unzureichend flankiert von anderen Komponenten imperialer Macht. Auch die rechtsautoritären Politiker im Westen, die er sorgsam gepflegt hat, leiden nun Erklärungsnot für Putins militärische Aggression. Er hat Russland zu einem Gewaltstaat ausgebaut, der bei seinen Nachbarn null Anziehungskraft, aber viel Verteidigungsbereitschaft auslöst.
Russland sieht sein Heil allein in einer aggressiven imperialen Expansion und ignoriert damit Münklers Kriterium, in großen hierarchischen Machtgebilden sowohl im Zentrum wie in der Peripherie überzeugende Gründe für eine Zugehörigkeit zum Imperium zu aktivieren, und für das Tragen der damit verbundenen Lasten. Münkler benennt die historisch, in der Fläche gemessen, größten Weltreiche, die der asiatischen Reitervölker, als Beispiel für kurzlebige Imperien. Ihr System konnte in rasanter Geschwindigkeit expandieren, aber die Peripherie wurde durch nichts als die Androhung vernichtender Überfälle zur Loyalität gezwungen. Mit der Folge, dass sie die Verbindung so schnell wie möglich kappten und das Imperium kollabierte.
Wenn keine Gefahr besteht, dass der machtpolitische Gegner Sympathiepreise gewinnt, ist das nicht die schlechteste Voraussetzung für einen kommunikativen roten Faden für die Bundesregierung. Es droht aber die Falle der Eindimensionalität: Deutschland kann auch kommunikativ kaum mit der Absolutheit einer Kriegspartei auftreten. Und es sollte vermeiden, sich daran messen zu lassen. Deutschland kann nicht vollends auf das Verschwinden der aggressiven russischen Bedrohung setzen, selbst bei einem für Putin ungünstigen Kriegsverlauf.
Was fehlt, ist, wie schon in Afghanistan, die Formulierung eines klaren und zugleich realistischen Ziels. Und das kann nur ein abgestuftes sein: Das klare und unkonditionierte Beistandsversprechen etwa für die baltischen Staaten muss sich erkennbar unterscheiden von der wirtschaftlichen und militärischen Unterstützung der Ukraine zur Wiedererlangung ihrer Souveränität auf ihrem gesamten Territorium. Also eine Unterstützung auf Grundlage der Prinzipien des Völkerrechts und nicht von Bündniszugehörigkeit.
Ja, es ist absolut im deutschen Interesse, dass Russland beim Annexionsversuch der Ukraine scheitert. Und dass es an Drohpotenzial gegenüber anderen Nachbarn verliert. Und dass sich andere nicht ermutigt sehen, Staatsgrenzen ebenfalls als unverbindliche Garniervorschläge zu verstehen. Aber eine klare Einordnung der deutschen Motive und der deutschen Maßnahmen in einen völkerrechtlich fundierten Beistand, unabhängig von Nato-Bündnislogik, würde mehr Klarheit und Nachvollziehbarkeit nach innen und außen bringen. Und zugleich zur vermutlich größten Scholz-Priorität passen, eine militärische Eskalation zwischen Russland und dem Westen zu vermeiden.
Nebenbei: Die Nato ist aktuell sicher eine wertvolle Plattform zur Koordinierung von Waffenlieferungen und der damit verbindenden Logistik und Ausbildung. Aber auch sie sollte kommunikativ nicht als militärischer Akteur auftreten. Weder ist sie es faktisch, noch hilft es ihren Mitgliedern, eine klare und durchhaltbare Rolle im aktuellen Krieg in Europa einzunehmen.
Die Einordnung des russischen Einmarschs in die Ukraine als Element des Ost-West-Konflikts hilft nur Putin: Sie fingiert Normalität, wo keine ist. Niemand hat Russland in die Rolle der Gegnerschaft zum Westen gezwungen. Niemand hat die Staaten des ehemaligen Warschauer Vertrags zum Nato-Beitritt gezwungen, außer die wachsende Bedrohung durch Russland. Der russische Angriffskrieg gehört drei Jahrzehnte nach der Implosion des Warschauer Vertrags und der russischen Unterschrift unter die Sicherheitsgarantien für die Ukraine nicht mehr in das Raster des Konflikts zwischen zwei Imperien. Er stellt schlicht einen seit langem singulären Bruch völkerrechtlicher Verträge und Prinzipien dar.
Die Kommunikation der EU-Führungsmächte Deutschland und Frankreich sollte daher ihre Unterstützung für die überfallene Ukraine nicht ständig auf Absprachen im Bündnis beziehen. Nicht das westliche Bündnis unterstützt die Ukraine, denn es ist ein Verteidigungsbündnis, und zwar exklusiv für seine Mitglieder. Die Unterstützung kommt von Staaten, die das Völkerrecht ernst nehmen. Weder stehen alle Nato-Staaten aktiv an der Seite der Ukraine, noch beschränkt sich die Unterstützung auf Nato-Staaten.
Eine klar völkerrechtliche und nicht bündnisbezogene Begründung der deutschen Unterstützung würde sich Putins Legende vom historisch unvermeidbaren Ost-West-Krieg am Dnepr entziehen. Sie bleibt auch legitim, wenn nicht alle politischen Verhältnisse in der Ukraine westlichen Maßstäben unterliegen. Vor allem spiegelt sie keine Ausweitung der Grenzen des „Imperiums Atlantica“, sondern Überlebenshilfe gegen Gewalt und Unrecht.
Wie gut täte ein aufrecht und unverdruckst auftretender Bundeskanzler mit ungefähr den Worten: Wir Deutschen helfen einem großen europäischen Land bei der Verteidigung von Einheit, Recht und Freiheit. Gegen einen Gewaltstaat, der die Rechtsprinzipien der Weltgemeinschaft bricht. Mit dem Ziel, dieses Recht wieder herzustellen. Wie viele andere Staaten auch.
Fazit
- Imperial konstruierte Großmächte bestehen aus mehr als ihrem Zentrum. Auch die Peripherie braucht gute Gründe, dem Zentrum die Treue zu halten. Und sie verfügt über Einfluss.
- Eine periphere Rolle kann für Staaten durchaus attraktiv sein (s. Bundesrepublik seit 1949).
- Deshalb ist es nicht per se „antiamerikanisch“, die USA nach imperialen Maßstäben zu verstehen. Ihre globale Macht ist zugleich real und in vielerlei Hinsicht für ihre Peripherie nützlich.
- Die Ukraine zeigt, wie sich mit kommunikativer Soft Power die Anerkennung als Peripherie erzwingen lässt, um „imperialen“ Beistand zu erhalten: Bezug auf die imperiale Mission, auf das Barbaren-Narrativ und auf die Nutzenbilanz des imperialen Zentrums.
- Das deutsche Subzentrum im westlichen Machtbereich leidet zwischen der ukrainischen Soft- und der amerikanischen Hard Power unter akut eingeschränktem Handlungsspielraum.
- Offensichtlich misstraut der Bundeskanzler wie seine Vorgängerin einem direkten Weg der Ukraine in die Nato, es gäbe Gründe. Auch wenn Putin-Russland seine Vertrauenswürdigkeit als völkerrechtlicher Vertragspartner selbst zerstört hat, und Neutralität bräuchte geregelte Nachbarschaft.
- Aber Zwischentöne passen nicht in eine polarisierte Großwetterlage. Sie befeuern das Risiko, schwer berechenbar zu wirken, das steht einer EU-Führungsmacht nicht gut.
- Kommunikativ würde helfen, die Unterstützung Deutschlands für die Ukraine eindeutig völkerrechtlich und nicht bündnispolitisch einzuordnen.
- Eine derart klare Grundlinie würde Scholz helfen, sich nicht von Selenskyjs Bündnisansprüchen treiben zu lassen. Und, viel wichtiger, Putins historisierendes Geschwurbel von der Zweiteilung der Welt in Anspruchszonen und einer imperialen Mission des ewigen Russlands ins Leere laufen zu lassen.
- Denn der Krieg ist kein Krieg zwischen zwei Imperien und damit keine Fortsetzung des Ost-West-Konflikts. Sondern der Überfall eines europäischen Gewaltstaates auf einen Nachbarn.
Lesetipp: https://www.rowohlt.de/buch/herfried-muenkler-imperien-9783644118218