Sonntag, 14. August 2022

Drei Typen von Staaten und die Kommunikation von Olaf Scholz

Der Berliner Politologe Herfried Münkler hat im Jahr 2005 seinen Klassiker „Imperien“ veröffentlicht. Was eine Hilfe sein kann, die zeitengewendete Welt von heute einzuordnen. Und die deutsche Position klarer zu formulieren.

Das knackig geschriebene Buch erschien im Schatten des dritten Golfkriegs und mit Blick auf die These, das amerikanische Imperium habe seinen Höhepunkt hinter sich. Dabei sind die Muster, die er in der Geschichte des internationalen Machtgefüges immer wieder gefunden hat, für das Verständnis der ach so unordentlichen Gegenwart faszinierend nützlich. Sein Blick reicht von den großen „klassischen“, lange wirkmächtigen Imperien China und Rom über die kurzlebigen Riesenreiche der Reitervölker, die Handelsimperien der Portugiesen und Niederländer, die eher wirtschaftsschwachen Großreiche der Spanier und Russen bis zum britischen Weltreich und seinem US-amerikanischen Erben.

Beim Lesen muss man im Kopf erst mal umschalten: Er nutzt den Begriff Imperien rein deskriptiv-analytisch und nicht, wie wir alle es gelernt haben, normativ voller Abscheu und Empörung. Da  Imperien die Zivilisationsgeschichte maßgeblich geprägt haben, beschreibt er ihre Eigenschaften, Funktionen und Unterschiede nüchtern und sachlich. Dabei ist seine Leitidee, Imperien nicht nur mit Blick auf das strahlende Machtzentrum zu verfolgen, sondern das Zusammenspiel von Zentrum und Peripherie zu verfolgen. Und hier wird der Bezug zum heutigen Krieg in Europa interessant.

In seiner Grundordnung existieren drei Typen von Staaten:

  • Normale Staaten wie aus dem Bilderbuch der UN, die einander auf Augenhöhe begegnen und mal mehr und mal weniger friedlich mit- und nebeneinander her leben
  • Hegemonialmächte, die andere Staaten von sich abhängig machen
  • und Imperien.


Natürlich selten so klar abgrenzbar, mit Misch- und Übergangsformen. Aber konzeptionell unterscheidbar.

Imperien sind für Münkler viel mehr als Großmächte. Oft entstanden aus einer weltpolitischen Randlage ohne starke konkurrierende Nachbarn, haben sie sich dann nach einer rasanten Expansion als stabiles Großgebilde reorganisiert (Vorbild Kaiser Augustus) und sind dann dauerhaft kraftvoll geblieben, wenn sie militärische, ökonomische, politische und kulturelle Führungsmacht zugleich wurden - oder die Schwäche in einem dieser Felder durch eine andere Stärke kompensieren können. Münkler fällt auf, dass Imperien oft keine harte Grenze haben, sondern am Rand durch Übergangszonen geprägt sind, in denen sich verschiedene Einflüsse überlagern.

Kommunikativ pflegen Imperien zwei Typen von Narrativen: Für die Gegenden hinter der Übergangszone eine Barbaren-Erzählung, für das Selbstverständnis hingegen eine imperiale Mission. In China etwa das Mantra der Einheit in Harmonie, in Spanien wie Russland eine religiöse Mission und im US-Imperium Demokratie, Freihandel und Menschenrechte.

Zentrale Faktoren für die Stabilität von Imperien: Gegenüber der Peripherie müssen sie ihr Versprechen halten, Frieden durchzusetzen. Und im Zentrum müssen sie permanent begründen, dass die Beherrschungskosten lohnende Investitionen sind. Denn die sind erheblich. Münkler verdeutlicht das anhand der USA: Sie haben nicht nur absolut die höchsten Militärausgaben weltweit, auch relativ zur Wirtschaftsleistung investieren sie ein Mehrfaches gegenüber etwa Deutschland, Japan oder Kanada in Waffen und Soldaten. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts streiten die USA darüber, ob sich ihr „Engagement“ außerhalb des eigenen Dunstkreises lohnt. Aber bis heute finanzieren sie die weltweit einzige Armee, die überall auf der Welt kurzfristig und machtvoll einsatzfähig ist. Auch in der Kombination der anderen drei imperialen Machtfaktoren - politische Durchsetzungsfähigkeit, kulturelle Dominanz und Wirtschaftskraft - macht ihnen niemand etwas vor.

Dennoch erörtert Münkler bereits die Risiken einer Überdehnung von Imperien auch am amerikanischen Beispiel. Dabei konnte er 2005 das Scheitern der US-Intervention im Mittleren Osten in seiner ganzen Dramatik noch gar nicht kennen. Die Nutzenbilanz einer militärisch abgesicherten Ordnung bis an den imperialen Rand kann schnell negativ werden, der Aufwand größer als der Ertrag und die Gefahr einer prestigegefährdenden Niederlage wächst. Münkler beschreibt, wie  asymmetrische Formen von Kriegsführung, Partisanenkrieg und Terrorismus, den imperialen Herrschaftsanspruch aufzuweichen vermögen, weil die Beherrschungskosten im Zentrum irgendwann nicht mehr akzeptiert werden. Er zeigt: imperiale Ausdehnung kann, an rationalen Kriterien gemessen, für das Zentrum schädlich werden. Mit anderen Worten: Ein rational agierendes Imperium wird niemals Größe um jeden Preis anstreben.

Und: Münkler mahnt, was zusammenbrechende Imperien gern mal hinterlassen: lang anhaltende Unruhe, mündend in gewaltsam ausgefochtene Konflikte um neu geschnittene Staaten und alte Hegemonialansprüche. Womit wir spätestens in der Gegenwart angekommen wären.

Die UdSSR war der imperiale Counterpart zum Westen: Sie verfügte über eine imperiale Mission (Weltrevolution), auch wenn sie die faktisch nur bis zur Mitte der 1960er ernsthaft verfolgt hat. Sie hat neben gewaltiger Militärmacht auch für Imperien wichtige Prestigeerfolge erzielt, von der Raumfahrt bis zu massenhaft olympischen Medaillen. Sie hat dabei an vorrevolutionäre Traditionen angeknüpft, das russische Großreich, eine beachtliche Kulturnation und panslawistische Ambitionen. Von den Zaren geerbt hat sie aber auch ökonomische Schwäche, die in Verbindung mit den Fesseln der Planwirtschaft in den 1980ern den Zusammenbruch aus dem Zentrum des Imperiums heraus auslöste.

Der Zusammenbruch eines solchen Imperiums hinterlässt zweierlei: die Peripherie, die sich - zunächst in einem machtpolitischen Übergangsvakuum -  sicherheitspolitisch neu einordnen muss. Und ein Zentrum, das gedemütigt den Gang in eine Zukunft als regionale Mittelmacht antreten muss. Die Beispiele der Briten, der Franzosen, der Türkei und der Weimarer Deutschen zeigen, dass die mit dem Abschied von Großmachtträumen verbundenen Schmerzen wahrlich kein russisches Sonderphänomen sind und teilweise über Jahrzehnte nachwirken.

In den Jahren nach dem Erscheinen von „Imperien“ hat Putin-Russland systematisch an einer militärisch und kulturell fundierten Hegemonialrolle in seiner westlichen Nachbarschaft gearbeitet, Krieg in Syrien geführt und militärische Beziehungen in Afrika ausgebaut. Auch wenn es, ökonomisch und demografisch bedingt, die Rolle des globalen Counterparts der USA nun China überlassen muss, hat es seine begrenzten Möglichkeiten aggressiv eingesetzt, ist weltpolitisch eine unruhestiftende „Spoiler-Macht“ und destabilisiert westliche Demokratien mit ihren verachteten, verweichlichten post-heroischen Gesellschaften und ihren Schwulen-Partys (Putins Barbaren-Narrativ).

Mit den Überfällen auf Georgien 2008 und die Ukraine 2014 hat Putin signalisiert, dass die territoriale Integrität von Nachbarstaaten vor ihm nicht sicher ist. Viel wird darüber diskutiert, warum erst der russische Angriff im Februar 2022 in Deutschland und anderswo zu einer fundamentalen Neubewertung der russischen Strategie geführt hat. Mit Blick auf die Bedeutung von Kommunikation in dieser weltpolitischen Situation ist vielleicht interessanter, wie sich Münklers Methodik zur Analyse dieser Krise anwenden lässt.

Quelle: AP

Präsident Selenskyj ist vom ersten Kriegstag an für seine aktive und mobilisierende Kommunikation gelobt worden. Sie hat, in Verbindung mit der überraschend erfolgreichen militärischen Leistung der Ukraine, den Blick vieler auf das Land, seine Erfolgsaussichten und den Unterstützungsbedarf des Westens verändert. Dabei fällt auf, dass manche seiner Forderungen in den Augen westlicher Regierungen geradezu absurd erscheinen mussten, etwa sein Appell an die Nato, eine Flugverbotszone über der Ukraine einzurichten, was schlicht einer frontalen militärische Konfrontation mit Russland gleichkäme. Taktisch kann man dahinter das Motiv vermuten, viel zu fordern, um wenigstens etwas, zum Beispiel Waffen, zu bekommen.

In Münklers Mechanik spielt er aber ein größeres Spiel: Er übt aus der Peripherie Druck auf das Zentrum des „westlichen Imperiums“ aus, um unter den Schirm  dessen Friedensversprechens zu schlüpfen. Er hat eine beachtliche Soft Power entwickelt, um in den westlichen Öffentlichkeiten für die Integration in das politische und militärische Sicherheitsbündnis zu werben.

Dafür bedient er die Klaviatur, die Münkler identifiziert hat: Er appelliert an die imperiale Mission des Westens, Demokratie, Menschenrechte und freier Handel, und positioniert die Ukraine als engagierten europäischen Vorposten dieser Werte. Und er ordnet die Berichte über russische Kriegführung und Kriegsverbrechen in das westliche Barbaren-Narrativ über Russland ein. Zum regelmäßigen Bestandteil seiner Videoansprachen zählt zudem die Bilanzierung der vom westlichen Zentrum geforderten Investitionen: Jetzt müsst ihr (im imperialen Zentrum) nur in Waffen für uns in der Peripherie investieren, aber wenn ihr das unterlasst, kostet es euch selbst Frieden, Freiheit und Wohlstand, also viel mehr als viel Geld.

Es lässt sich viel darüber philosophieren, welches Gewicht die EU im amerikanischen Imperialverbund hat. Die Schaffung einer europäischen Gemeinschaftswährung und des gemeinsamen Binnenmarktes war sicher auch Auswuchs des europäischen Bedürfnisses, das eigene Gewicht im transatlantischen Verhältnis zu stärken. Aber klar ist, militärisch und damit machtpolitisch wirkt die EU ohne Schulterschluss mit den USA wenig kraftvoll. Auch in diesem westlichen Verbund zweier durchaus unterschiedlicher Pole war es ein zählbarer Erfolg für die Ukraine, mit der beschriebenen kommunikativen Soft Power den Kandidatenstatus zur EU zu erringen (und damit auf dem Balkan die Frage aufzuwerfen, warum dort der EU-Integrationsprozess deutlich zäher verläuft).

Die Selenskyj-Administration hat es vermocht, die zunächst mehr als zögerlichen zentralen europäischen Führungsmächte aus der Peripherie heraus zu bewegen, in die Mitverantwortung für die Verteidigung der Ukraine zu gehen. Deutschland hat sich durchgerungen, das absolute  Gegenteil ihrer alten Waffenexport-Doktrin zu vollziehen und Waffen dorthin zu liefern, wo sie akut eingesetzt werden. Deutschland und Frankreich haben enorme Summen und großes politisches Entgegenkommen für die zuletzt noch immer eher mit spitzen Fingern behandelte Ukraine mobilisiert. Gemeinsam mit der konsequenten Militärhilfe durch die USA ist eine Situation entstanden, in der die Ukraine auf einen scheinbar unerschöpflichen Rüstungs- und Finanznachschub hoffen kann, während Putin immer ältere Panzer und schlechter ausgebildete Soldaten mobilisiert.

Es ließe sich einwenden, dass das Verhalten des Westens schlicht rational ist und wenig mit der diplomatischen Soft Power aus Kiew zu tun hat. Es gibt aber durchaus rationale Gründe für den Westen, eine neutrale Ukraine zu bevorzugen: Eine in den Folgen schwer kalkulierbare militärische  Beistandsverpflichtung wäre vermieden, der unsichere russische Kantonist an der weichsten Stelle seiner Westgrenze zugleich befriedet und eingehegt, und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der Ukraine stünde nichts im Weg.

Es zählt zu den Merkmalen kluger Imperien, nicht auf Teufel komm raus zu expandieren, sondern stets Kosten und Nutzen für das Zentrum abzuwägen. Die Weigerung Frankreichs und Deutschlands im Jahr 2008, dem Druck auf eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine nachzugeben, mag man als starkes Indiz für solch ein zurückhaltendes Kalkül verstehen.

Eine solche Interpretation westeuropäischer Motive könnte ein großes kommunikatives Rätsel lösen: Was bitte treibt Bundeskanzler Scholz zu seiner unentschlossen bis schwankend wirkenden öffentlichen Positionierung? Warum agiert er verbal wie faktisch - etwa in Sachen Waffenexporte - wundersam unentschlossen, nachdem er mit der Zeitenwende-Rede im Bundestag in wenigen Minuten jahrzehntealte Glaubenssätze weggespült hatte (keine deutschen Waffen in Krisengebiete und erst recht nicht gegen Russland).

Scholz vermeidet den Anschein eines entschlossen-verlässlichen Unterstützers der Ukraine so sorgfältig und zäh, dass ein Glaubwürdigkeitsverlust Deutschlands kaum mehr zu leugnen ist. Parallel zeigt die Demoskopie in Deutschland Ungewöhnliches: Während Krisen sonst dazu führen, dass sich die Mehrheit hinter dem Kapitän in schwerer See versammelt, erodieren die SPD-Werte in Richtung 15 Prozent. Anzunehmen, dahinter stecke schlicht ein eklatanter Mangel an politisch-handwerklichem Können, würde dem mehrfach erfolgreichen Wahlkämpfer nicht gerecht werden.

Sein Verhalten erhält im Licht von Münklers Erklärungsmuster eine andere innere Logik: Scholz agiert wie jemand, dem man die Freiheit genommen hat, seiner eigenen Agenda zu folgen, und dies in Inhalt wie in Geschwindigkeit. Münkler beschreibt eines der Privilegien erfolgreicher Imperien damit, dass sie über Zeitsouveränität verfügen, wann sie welchen machtpolitischen Zug vornehmen und wann sie eine Konsolidierungsphase folgen lassen. Deutschland wie Frankreich wirken hingegen wie Akteure, denen ein großer Teil ihrer Souveränität geraubt wurde: Russland hat die Friedensordnung Europas atomisiert, und zudem das deutsche Modell einer Industriepolitik mit vergleichsweise günstiger Energie. Die Ukraine hat den Westen mit den kommunikativ-diplomatischen Mitteln der machtpolitischen Peripherie zu weitreichender Unterstützung und zur geöffneten Tür Richtung EU-Mitgliedschaft gedrängt. Die letzte verbliebene Gestaltungsmacht für die Bundesregierung besteht im kleinteiligen, getrieben wirkenden Krisenmanagement, in der niemand glänzen, aber jeder Fehler machen kann. Deutsche Handlungsfähigkeit scheint verengt auf die Abwägung zwischen den Kategorien Gepard, Marder und Leopard.

Münklers Methode taugt gleichzeitig, Putins Fehlspekulation einzuordnen. Er agiert offen aus der revanchistischen Motivation, den vermeintlichen „Glanz“ des Sowjetimperiums wiederherzustellen, diesmal nicht mit einer marxistischen, sondern wie zu Zarenzeiten mit einer rückwärtsgewandten und nationalistisch-klerikalen imperialen Mission. Dabei setzt er auf das alte militärische Zentrum russischer Großmachtträume, nur unzureichend flankiert von anderen Komponenten imperialer Macht. Auch die rechtsautoritären Politiker im Westen, die er sorgsam gepflegt hat, leiden nun Erklärungsnot für Putins militärische Aggression. Er hat Russland zu einem Gewaltstaat ausgebaut, der bei seinen Nachbarn null Anziehungskraft, aber viel Verteidigungsbereitschaft auslöst.

Russland sieht sein Heil allein in einer aggressiven imperialen Expansion und ignoriert damit Münklers Kriterium, in großen hierarchischen Machtgebilden sowohl im Zentrum wie in der Peripherie überzeugende Gründe für eine Zugehörigkeit zum Imperium zu aktivieren, und für das Tragen der damit verbundenen Lasten. Münkler benennt die historisch, in der Fläche gemessen, größten Weltreiche, die der asiatischen Reitervölker, als Beispiel für kurzlebige Imperien. Ihr System konnte in rasanter Geschwindigkeit expandieren, aber die Peripherie wurde durch nichts als die Androhung vernichtender Überfälle zur Loyalität gezwungen. Mit der Folge, dass sie die Verbindung so schnell wie möglich kappten und das Imperium kollabierte.

Wenn keine Gefahr besteht, dass der machtpolitische Gegner Sympathiepreise gewinnt, ist das nicht die schlechteste Voraussetzung für einen kommunikativen roten Faden für die Bundesregierung. Es droht aber die Falle der Eindimensionalität: Deutschland kann auch kommunikativ kaum mit der Absolutheit einer Kriegspartei auftreten. Und es sollte vermeiden, sich daran messen zu lassen. Deutschland kann nicht vollends auf das Verschwinden der aggressiven russischen Bedrohung setzen, selbst bei einem für Putin ungünstigen Kriegsverlauf.

Was fehlt, ist, wie schon in Afghanistan, die Formulierung eines klaren und zugleich realistischen Ziels. Und das kann nur ein abgestuftes sein: Das klare und unkonditionierte Beistandsversprechen etwa für die baltischen Staaten muss sich erkennbar unterscheiden von der wirtschaftlichen und militärischen Unterstützung der Ukraine zur Wiedererlangung ihrer Souveränität auf ihrem gesamten Territorium. Also eine Unterstützung auf Grundlage der Prinzipien des Völkerrechts und nicht von Bündniszugehörigkeit.

Ja, es ist absolut im deutschen Interesse, dass Russland beim Annexionsversuch der Ukraine scheitert. Und dass es an Drohpotenzial gegenüber anderen Nachbarn verliert. Und dass sich andere nicht ermutigt sehen, Staatsgrenzen ebenfalls als unverbindliche Garniervorschläge zu verstehen. Aber eine klare Einordnung der deutschen Motive und der deutschen Maßnahmen in einen völkerrechtlich fundierten Beistand, unabhängig von Nato-Bündnislogik, würde mehr Klarheit und Nachvollziehbarkeit nach innen und außen bringen. Und zugleich zur vermutlich größten Scholz-Priorität passen, eine militärische Eskalation zwischen Russland und dem Westen zu vermeiden.

Nebenbei: Die Nato ist aktuell sicher eine wertvolle Plattform zur Koordinierung von Waffenlieferungen und der damit verbindenden Logistik und Ausbildung. Aber auch sie sollte kommunikativ nicht als militärischer Akteur auftreten. Weder ist sie es faktisch, noch hilft es ihren Mitgliedern, eine klare und durchhaltbare Rolle im aktuellen Krieg in Europa einzunehmen.

Die Einordnung des russischen Einmarschs in die Ukraine als Element des Ost-West-Konflikts hilft nur Putin: Sie fingiert Normalität, wo keine ist. Niemand hat Russland in die Rolle der Gegnerschaft zum Westen gezwungen. Niemand hat die Staaten des ehemaligen Warschauer Vertrags zum Nato-Beitritt gezwungen, außer die wachsende Bedrohung durch Russland. Der russische Angriffskrieg gehört drei Jahrzehnte nach der Implosion des Warschauer Vertrags und  der russischen Unterschrift unter die Sicherheitsgarantien für die Ukraine nicht mehr in das Raster des Konflikts zwischen zwei Imperien. Er stellt schlicht einen seit langem singulären Bruch völkerrechtlicher Verträge und Prinzipien dar.

Die Kommunikation der EU-Führungsmächte Deutschland und Frankreich sollte daher ihre Unterstützung für die überfallene Ukraine nicht ständig auf Absprachen im Bündnis beziehen. Nicht das westliche Bündnis unterstützt die Ukraine, denn es ist ein Verteidigungsbündnis, und zwar exklusiv für seine Mitglieder. Die Unterstützung kommt von Staaten, die das Völkerrecht ernst nehmen. Weder stehen alle Nato-Staaten aktiv an der Seite der Ukraine, noch beschränkt sich die Unterstützung auf Nato-Staaten.

Eine klar völkerrechtliche und nicht bündnisbezogene Begründung der deutschen Unterstützung würde sich Putins Legende vom historisch unvermeidbaren Ost-West-Krieg am Dnepr entziehen. Sie bleibt auch legitim, wenn nicht alle politischen Verhältnisse in der Ukraine westlichen Maßstäben unterliegen. Vor allem spiegelt sie keine Ausweitung der Grenzen des „Imperiums Atlantica“, sondern Überlebenshilfe gegen Gewalt und Unrecht.

Wie gut täte ein aufrecht und unverdruckst auftretender Bundeskanzler mit ungefähr den Worten: Wir Deutschen helfen einem großen europäischen Land bei der Verteidigung von Einheit, Recht und Freiheit. Gegen einen Gewaltstaat, der die Rechtsprinzipien der Weltgemeinschaft bricht. Mit dem Ziel, dieses Recht wieder herzustellen. Wie viele andere Staaten auch.


Fazit

  1. Imperial konstruierte Großmächte bestehen aus mehr als ihrem Zentrum. Auch die Peripherie braucht gute Gründe, dem Zentrum die Treue zu halten. Und sie verfügt über Einfluss.
  2. Eine periphere Rolle kann für Staaten durchaus attraktiv sein (s. Bundesrepublik seit 1949).
  3. Deshalb ist es nicht per se „antiamerikanisch“, die USA nach imperialen Maßstäben zu verstehen. Ihre globale Macht ist zugleich real und in vielerlei Hinsicht für ihre Peripherie nützlich.
  4. Die Ukraine zeigt, wie sich mit kommunikativer Soft Power die Anerkennung als Peripherie erzwingen lässt, um „imperialen“ Beistand zu erhalten: Bezug auf die imperiale Mission, auf das Barbaren-Narrativ und auf die Nutzenbilanz des imperialen Zentrums. 
  5. Das deutsche Subzentrum im westlichen Machtbereich leidet zwischen der ukrainischen Soft- und der amerikanischen Hard Power unter akut eingeschränktem Handlungsspielraum.
  6. Offensichtlich misstraut der Bundeskanzler wie seine Vorgängerin einem direkten Weg der Ukraine in die Nato, es gäbe Gründe. Auch wenn Putin-Russland seine Vertrauenswürdigkeit als völkerrechtlicher Vertragspartner selbst zerstört hat, und Neutralität bräuchte geregelte Nachbarschaft.
  7. Aber Zwischentöne passen nicht in eine polarisierte Großwetterlage. Sie befeuern das Risiko, schwer berechenbar zu wirken, das steht einer EU-Führungsmacht nicht gut.
  8. Kommunikativ würde helfen, die Unterstützung Deutschlands für die Ukraine eindeutig  völkerrechtlich und nicht bündnispolitisch einzuordnen. 
  9. Eine derart klare Grundlinie würde Scholz helfen, sich nicht von Selenskyjs Bündnisansprüchen  treiben zu lassen. Und, viel wichtiger, Putins historisierendes Geschwurbel von der Zweiteilung der Welt in Anspruchszonen und einer imperialen Mission des ewigen Russlands ins Leere laufen zu lassen.
  10. Denn der Krieg ist kein Krieg zwischen zwei Imperien und damit keine Fortsetzung des Ost-West-Konflikts. Sondern der Überfall eines europäischen Gewaltstaates auf einen Nachbarn.  


Lesetipp: https://www.rowohlt.de/buch/herfried-muenkler-imperien-9783644118218


Montag, 31. Januar 2022

Irrationalität als politischer Faktor

Impfverweigerer schaden sich selbst. Und sie schaden der Allgemeinheit. Sie handeln irrational. Unsere Gesellschaft ist geübt darin, tolerant mit Irrationalität umzugehen. Es sei denn, Irrationalität hat massive Auswirkungen im Diesseits.

Bei Wahlprognosen gelten Stichproben von rd. 2.000 Meinungen als ausreichend, um eine statistisch gute Voraussage über das Wahlverhalten von zig Millionen abzugeben. Bei der Covid19-Impfung sind inzwischen Milliarden Menschen geimpft, mit einem riesigen Anteil an nachweisbarer Wirkung und einem winzigen Anteil an ernsthaften Nebenwirkungen. Die wundersame zivilisatorische Erfindung des Messens und Zählens zum Vergleich erwünschter und unerwünschter Wirkung hat für mehrere Impfstoffe phantastische Relationen offenbart. Und doch finden sich Tausende, teils gut ausgebildeter, abwägende, oft sympathische Menschen, um den ersichtlichen Fakten zu widersprechen und zuwider zu handeln.

Wir Kommunikationsmenschen fragen uns, welches Mittel dagegen helfen könnte. Und wir politisch denkende Menschen fragen uns, wie eine Demokratie mit Irrationalität klarkommen kann. Schließlich wäre es verwegen, darauf zu setzen, dass, wie heute in der Impffrage, die Vernunft stets klare Mehrheiten hinter sich hat. Und auch eine realitätsleugnende Minderheit kann bei einer Infektionskrankheit das Gemeinwesen vor große Probleme stellen.

Gedachtes zu Beobachtetem addieren

Offenkundige Irrationalität ist unserer ach so aufgeklärten westlichen Fortschrittsgesellschaft alles andere als neu. Obwohl die Medizin in ihrer erstaunlich kurzen Geschichte von Wissenschaftlichkeit und Evidenzorientierung in rund 200 Jahren eine sprunghafte Verlängerung von Lebenserwartung und Lebensqualität vollbracht hat, halten sich vorwissenschaftliche Theorien und Praktiken, insbesondere im deutschsprachigen Raum, und es kommen immer noch neue dazu. Andere Realitätsoppositionelle stellen die Evolution in Frage, in den Vereinigten Staaten mit beachtlicher, auch politischer Wirkung. Oder die Kugelform der Erde. Obwohl auch hier die beobachtende Wissenschaft keinen Raum für Zweifel lässt.

Menschliche Zivilisationen leben seit jeher mit Irrationalität, und vielleicht gäbe es sie ohne gar nicht. Die älteste Ergänzung der Realität durch Addition von Gedachtem zu Beobachtetem sind sicher Religionen. Sie haben in der Menschheitsgeschichte eine enorm produktive Rolle gespielt, weil sie große Gemeinschaften zusammengehalten haben und so ganze Gruppen, Städte, Staaten, Zivilisationen durch entsprechende Führung zu koordiniertem, gleichgerichtetem Handeln mobilisieren konnten. Und sie hatten individuell enormen Wert, weil sie dem Menschen im Umgang mit dem Unerklärlichen, nicht Kontrollier- und Vorhersagbaren helfen. Durch das gedankliche Konstruieren von Ursache-Wirkungsketten (z.B. Vorteile als Folge von Opfergaben) konnten wir uns versichern, dem Schicksal nicht hilflos ausgeliefert zu sein. Und gefühlte Selbstwirksamkeit ist ein menschliches Kernbedürfnis sowie eine starke Energiequelle, für sich und die Seinen alles zu geben, ein handfester Vorteil gegenüber schicksalsergebenen Konkurrenten.

Irrational heilen

Irrationale Lehren rund um Krankheit und Gesundheit haben bis vor historisch kurzer Zeit die gesamte Medizin dominiert. Noch Anfang des 19. Jahrhunderts sind viele Menschen (die sich zu ihrem Unglück eine solche „Behandlung“ leisten konnten) am Aderlass gestorben. Erst dann - und sehr langsam - setzte sich die systematisch beobachtende wissenschaftliche Medizin Schritt für Schritt durch, etwa mit ersten Erkenntnissen zum Nutzen von Hygiene oder zu Gesetzen der Ansteckung, erst Jahrzehnte später mit der Entdeckung von Krankheitserregern und wirksamen Pharmazeutika. Auch wenn die Medizin später als andere Naturwissenschaften das neuzeitliche Instrumentarium von Messen und Zählen, vom Aufstellen von Hypothesen und ihrem methodisch präzisen Falsifizieren übernahm - sie hat das menschliche Dasein stärker und unmittelbarer verbessert als andere Wissenschaften. Und dennoch halten sich - in Orient wie Okzident - ganz eigene Vorstellungen von Krankheit und Heilung. Auch wenn vielen dieser alternativen Heilmethoden ein belastbarer Wirkungsnachweis fehlt, lasten großen Hoffnungen auf ihnen. Was faktisch eigentlich zu großen Enttäuschungen führen müsste. (Und alternative Therapien, die messbar wirken, werden zu Unrecht in einen Topf mit den Scharlatanen geworfen.)

Bemerkenswert: Während Religionen einen Vorteil für ihre Anhänger für sich reklamieren können und deshalb aus nachvollziehbaren Gründen weiterhin einen Großteil der Menschheit beschäftigen, wird das Ersetzen rationaler durch irrationale Medizin in vielen Fällen mit Krankheit oder Tod sanktioniert. Und sonst mit wirkungslos investierten Kosten.

Die meisten Religionen verlegen die „Auszahlung“ des Gewinns, der den Gläubigen für das Einhalten ihrer Glaubensregeln versprochen ist, in ein Jenseits, das sich der Überprüfung durch Sterbliche entzieht. Damit sind sie prinzipiell nicht falsifizierbar. Und jene, die eine Belohnung im Diesseits versprochen haben, sind deshalb längst aus der Mode gekommen.

Anders medizinische Heilslehren, die beim Messen und Zählen zu keinem überzeugenden  Wirkungsnachweis  kommen: Auch wenn sie quasi überirdische Kräfte in Anspruch nehmen, müsste ihre Wirkung im Diesseits erkennbar sein. Und obwohl sie genau dieses Versprechen brechen, können sie sich einer treuen Anhängerschaft erfreuen.

Der anekdotische Fehlschluss

Offensichtlich ist einer relevant großen Anzahl von Menschen etwas wichtiger als die begründete Aussicht auf besten Behandlungserfolg. Dahinter steckt ein grundlegender Logikfehler menschlicher Wahrnehmung, der gut untersucht und vielfach belegt ist, zusammengefasst etwa vom Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman: Menschen lieben keine Zahlen, sondern den greifbaren Einzelfall. Sie weisen Geschichten über singuläre Erfahrungen anderer Menschen ein viel größeres Gewicht zu, als es für eine wichtige Entscheidung, etwa in Gesundheitsfragen, sachgerecht wäre.

Entsprechend gering wirken statistische Argumentationsketten. Das, was Kahneman schnelles Denken nennt, liebt die argumentative Kraft eines in sich stimmig erzählten Einzelfalls. Die Bewertung von Zahlenkolonnen und der kritische Blick zu ihrem Vergleich und zum Check ihrer Quellen ist hingegen dem „langsamen Denken“ vorbehalten, das vom Gehirn viel mehr Zeit und Energie abverlangt - also möglichst vermieden wird. Während Einzelfälle überprüfbar und in sich konsistent wirken, verlangen statistisch belegte Argumentationen Wissen um die Bewertungsmethodik oder Vertrauen in jene Experten, die sie vorgelegt haben.

Wer mit Impfgegnern spricht, findet oft genau dieses Muster: Ein Bekannter ist nach Impfung schwer krank geworden, oder ein Bekannter von einem Bekannten. Ein anderer ist trotz Impfung in die Intensivstation gekommen. Und irgendjemand habe ja auch über die Gefahr von Unfruchtbarkeit geschrieben.

Sobald unser Gehirn mit greifbaren Erfahrungen von Menschen in ähnlichen Lebens- oder Entscheidungssituationen konfrontiert wird, stürzt es sich mit Begeisterung darauf und nimmt dankbar die Einladung an, den anstrengenden Weg der kritischen Abwägung auszusparen. Das ist keine Charakterschwäche, sondern Resultat des Ökonomieprinzips, also der systematischen Energieeinsparung, die die Evolution bei uns einprogrammiert hat und die noch immer wirkt -  obwohl wir von energiereicher Nahrung heute nur so umzingelt sind und sie mühsam in Laufschuhen wieder abtrainieren.

Diese evolutionär bedingte Unterschätzung von harten, aber nackten und großen Zahlen trifft die Wissenschaft hart. Wer seinen epocheprägenden Beitrag zum zivilisatorischen Fortschritt auf Beobachten, Messen und Zählen gründet, muss verzweifeln über so viel Ignoranz gegenüber der Essenz von Erkenntnisgewinn. Generationen von Kolleginnen und Kollegen aus der Wissenschaftskommunikation haben sich an diesem Effekt abgearbeitet.

Wirkungsverstärker von Impfgegnerschaft

Aber als Erklärung für die Intensität und Aggressivität der Impfgegner genügt dieser Faktor nicht. Die Informationen über die Todeszahlen von Ungeimpften oder die Nicht-Wirksamkeit von exotischen Heilslehren würden auch bei ihnen vermutlich nicht gänzlich ohne Wirkung bleiben. Es muss einen zusätzlichen Realitätsfilter geben. Einen, der epidemiologisch durchaus relevante Minderheiten bewegt.

Offensichtlich verleihen persönliche Prägungen der Pandemie-Kontroverse eine starke emotionale, eskalatorische Komponente: eine rebellische Neigung gegen das kollektive Befolgen von Regeln, die Regierungen beschlossen haben. Manchen scheint es persönlich fast unmöglich, in einer Reihe mit den meisten Medien, den meisten Politikern und den meisten Mitmenschen zu handeln.  

Diese besondere Konstellation scheint bei diesem Persönlichkeitstypus den starken Verdacht zu nähren, dass es bei so viel Konformität nicht mit rechten Dingen zugehen kann. Obwohl ein koordiniertes, diszipliniertes Verhalten gerade gegenüber einer Infektionswelle schon immer die einzig wirksame Antwort war, seit den Pestepidemien und der Erfindung der Quarantäne in Venedig.

Auf diese zunächst nicht unsympathische, nonkonformistische, aber infektionsfreundliche Grundhaltung setzte sich nun eine politische Diskussion auf, die jeden Freiheitsberaubungsverdacht zu bestätigen schien: jene über die Impfpflicht.

Wer Pickel kriegt, sobald irgendein Mainstream oder irgendein Herrschender Konformität einfordert, wird sich kaum aus Überzeugung seines „langsamen Denkens“ in die Schlange des Impfzentrums eingliedern. Und erst recht nicht auf Druck. Er wird Abwehrreflexe gegen die fremdverordnete „Zwangsspritze“ entwickeln. Er wird jedes anekdotische Argument gegen Impfung dankbar aufgreifen und jede virtuose Uminterpretation statistischer Daten.

Er wird schützen, was ihm heilig ist: sein Selbstbild von unbeschränkter Selbstbestimmtheit. Er wird alle zum persönlichen Gegner erklären, die ihn zu konformem Verhalten im Kollektivinteresse drängen (obwohl es auch in seinem besten persönlichen Interesse wäre).

Nicht die irrationale Ablehnung von „Schulmedizin“ und die Offenheit für Methoden ohne Wirkungsnachweis allein machen so manche abendliche Fußgängerzone zu einem gespenstischen Ort, an dem aller Frust dieser Welt zusammenfließt in der Abwehr gegen demokratisch legitimierte Institutionen und ihre Entscheidungen. Die emotionale Intensität und die gesellschaftliche Brisanz entzündet sich erst im Zusammenwirken von Wissenschaftsskeptizismus mit tiefer persönlicher Ablehnung von staatlich initiiertem und gemeinschaftlich realisiertem Handeln.

Diese Ablehnung scheint drei sehr unterschiedliche Gruppen anzutreiben:

  • den Typus Kleinstadt-Sachse, den nach der SED-Erfahrung tiefe Skepsis gegenüber jeder institutionalisierten Gewalt „von oben“ umtreibt und der sich aus Berlin nie wieder in sein geordnetes Leben reinreden lassen will
  • den Typus Kubicki, der verbindliche Regeln für alle schon immer als „auch ne Meinung“ abgetan hat und in der Pandemie einen persönlichen Angriff auf seine heilige Individualität sieht
  • den Typus Anthroposoph, der seine teure akademische Ausbildung schon immer gewandt vermengt hat mit einer übersinnlichen Welt, in der das Vergraben von Kuhhörnern bei Neumond andere Effekte auf den landwirtschaftlichen Ertrag hat als bei Vollmond; und der deshalb die kalte Rationalität synthetisch erzeugter Impfstoffe prinzipiell aus seiner Blutbahn fernhält.


Nicht vergessen werden sollen jene, die jede Sau durchs Dorf treiben, wenn sie denn damit „das System“, also die wertebasierte Verfassungsordnung, attackieren können. Sie dürfen sich bedanken für die Naivität oder Ignoranz ihrer Mit-Spaziergänger und verzichten ansonsten auf jede Mitwirkung an einem lösungsorientierten Dialog.

Besorgnis erregt in diesem Cocktail unterschiedlicher Hochenergie-Abwehrreflexe, dass kaum ein Beteiligter Scheu zu spüren scheint, mit gewaltbereiten Demokratiefeinden gemeinsam Gesicht gegen den Staat zu zeigen. Offensichtlich hat die Pandemie dunkle Energien entlarvt, die bisher isoliert in ihren versprengten Bubbles weit weniger gefährlich erschienen.

So manche „alternative Medizin“ hat auch vor der Pandemie Kritiker wegen offensichtlichen Unsinns und Unwirksamtkeit auf die Palme getrieben. Aber solange sie hauptsächlich gegen Befindlichkeitsstörungen zum Einsatz kam und nur selten jemand starb, der wegen einer Fake-Behandlung auf eine wirksame verzichtet hatte, blieb es ein Streit für engagierte Feinschmecker. Übersinnliche Neuzeit-Weltbilder schienen bis in den Schulbetrieb so gut gesellschaftlich integriert wie die Kuhhorn-Verbuddler von Demeter in die Biomärkte der Republik..

Die Integrationsprobleme mancher kleinstädtischer ostdeutscher Bevölkerungsgruppen in den Verfassungsstaat waren spätestens 2015 im Rahmen der Attacken auf Geflüchtete zu übergreifender Aufmerksamkeit gelangt und tragen bis heute zu regional weit überdurchschnittlichen populistischen Wahlergebnissen bei.

Libertäre werden vor allem in der FDP weiter geduldet, aber sie prägen die nun-besser-doch-Regierungspartei nicht mehrheitlich.

Aber erst in der Corona-Opposition ziehen sie an einem Strang gegen die wirksamste Möglichkeit der Pandemiebekämpfung, das Impfen.

Kommunikation gegen Irrationalität?

Bei den hochengagierten Quertreibern haben sich längst Mechanismen eingespielt, mit der Impf-Argumente gewendet werden, entweder in Form von Delegitimierungsangriffen auf die Informationsquellen oder durch Bezugnahme auf die alternativen Realitäten der bewunderten Coronaleugner im weißen Kittel. Es braucht nicht viel Phantasie, die digital verbreitete Dokumentation der eingegangenen Bußgeldbescheide nach einer gesetzlichen Impfpflicht als Beweis für persönliche Standhaftigkeit vorherzusagen.

Wenn in dieser festgefahrenen Situation überhaupt etwas helfen kann, dann das Ernstnehmen der persönlichen Reaktanz-Motive - ausgenommen die offenen Feinde des Rechts- und Verfassungsstaates, die hart bekämpft gehören. Gerade weil diese Motive und Persönlichkeitstypen so unterschiedlich sind, wird eine vereinheitlichte Ansprache keinen Erfolg haben.

Und dennoch gibt es einen Faktor, der ihnen allen abgeht und der zentral ist für das Funktionieren jedes Gemeinwesens: Institutionenvertrauen. Rechtsordnungen können nur funktionieren, wenn möglichst alle, die dieser Ordnung unterliegen, die Eckpfeiler dieser Ordnung aus freien Stücken akzeptieren und nicht nur aus Angst vor Strafe. Der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Bockenförde hat dies in einem vielzitierten Satz verdichtet:  „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“

Wer vor dem Hintergrund von erfahrener Diktatur zu keinem Staatsvertrauen fähig ist, handelt deshalb weder aus Prinzip amoralisch noch verschafft er sich einen Vorteil. Er lebt schlicht unglücklicher als andere und unterschätzt seine mögliche Relevanz für das Gemeinwesen.

Wer als Libertärer prinzipiell die eigene Individualität durch staatliche Maßregelung bedroht sieht, kollidiert permanent mit den Freiheitsansprüchen anderer und muss viel Energie in das Aushandeln und Verteidigen von persönlichen Anspruchsgrenzen investieren.

Auch wer als Anhänger einer über-rationalen Philosophie in einer aufklärerisch dominierten  Mehrheitsgesellschaft zurechtkommen will, gerät in Konflikte, sobald sein Verhalten die Rechte jener anderen begrenzt, die ihre Rechte nicht durch Verweis auf die Heilslehre unterzuordnen bereit sind. Jede Form von Glaubenslehre führt ihre Anhänger in harte Konflikte, sobald sie Wirkung im Diesseits auslöst - ob gewollt, wie bei Glaubenskriegern, oder in Kauf genommen, wie bei irrationaler Impfverweigerung in Form von weitergegebener Infektion.

Keine Werbekampagne der Welt wird diese drei Gruppen bekehren. Dennoch kann die kooperationswillige Mehrheitsgesellschaft am verbindenden Schwachpunkt der kooperationsverweigernden Impfgegner-Gemeinde ansetzen: Sie kann ihre Ansprüche auf Schutz der eigenen Lebens- und Freiheitsrechte einfordern.

Sie hat beste faktische Gründe, zur Bekämpfung einer Infektionskrankheit kollektiv die erwiesenermaßen wirksamen und mildesten Mittel einzusetzen, zunächst Kontaktbeschränkungen und nun Impfungen, um Kontaktbeschränkungen baldmöglichst entbehrlich zu machen.

Und zwar bald. Im Herbst 2022, nach einem zweiten Freiheits-Sommer, wird es politisch kaum mehr möglich sein, Kontaktbeschränkungen durchzusetzen. Die geimpfte Mehrheit wird immer weniger bereit sein, ihre Freiheit zu beschränken, weil sich eine Minderheit der Realität verweigert.

Fazit: Eine lehrreiche Pandemie

Impfverweigerer schaden sich selbst. Und sie schaden der Allgemeinheit. Sie handeln irrational. Unsere Gesellschaft ist geübt darin, tolerant mit Irrationalität umzugehen. Es sei denn, Irrationalität hat massive Auswirkungen im Diesseits. Die Pandemie lehrt eine wichtige  Grenzziehung.

Die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim hat im Titel ihres Bestsellers „Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit“ eine wunderbare Formulierung geschaffen für eine Referenz, auf die sich Entscheidungen im Interesse der Allgemeinheit beziehen sollten. Es braucht politische Entschlossenheit, Entscheidungen für das Diesseits mit Argumenten aus der beobachteten, gezählten und gemessenen Realität zu begründen. Schlicht, weil es niemand besser weiß.

Es braucht darüber hinaus Offenheit für das menschliche Bedürfnis nach Spiritualität. Für die Hoffnung auf mehr als das Bisschen, was wir als Wissen ganz gut begründen können. Für die Sehnsucht nach neuen Erkenntnissen, die die Augen und Herzen öffnen, alte Fragen neu beantworten und unsere Existenz einzuordnen vermögen.

Wohl jeder einzelne Mensch lebt von mehr als dem wenigen, was er zu wissen begründen kann. Aber keine menschliche Gemeinschaft sollte ihre Entscheidungen auf anderem gründen als auf der kleinsten gemeinsamen Wirklichkeit, auf dem Bisschen, was allgemein als vernünftig gelten kann.

Im Interesse des Lebens und der Freiheit ist es unsere Verantwortung, beides voneinander zu unterscheiden: die Vernunft für die Verhältnisse im Diesseits und die Sehnsucht nach den Chancen hinter der bekannten Realität.

Überzeugen wird das die meisten Impfgegner kaum. Eine Chance auf Gehör bei ihnen hat nur, wer ihre sehr persönlichen Motive ernst nimmt, denn die sind zunächst weder illegitim noch amoralisch. Nur sind ihre Schlussfolgerungen als Maxime für staatliches Handeln untauglich, weil freiheitsbeschneidend für alle anderen.