Dienstag, 31. Oktober 2023

Wortfindungsstörungen und der Äquidistanz-Reflex

Wie geht Kommunikation über Hamas, Palästina und Israel?
 
Über den Westfälischen Frieden sagt man, es sei ein Schlüssel zum Erfolg gewesen, nicht über Dinge zu streiten, über die man nicht streiten kann. In dem Fall über religiöse "Wahrheit". Zwar war Religion einer der Auslöser des Krieges. Aber es war völlig klar, dass da keine Einigkeit und auch kein Kompromiss denkbar war. Frieden geht nur, wenn man ausschließlich über Dinge spricht, bei denen Kompromisse zumindest theoretisch möglich sind.
 
Der einzig lohnende Streit ist der um eine Lösung. Und dazu gehört Klarheit gegen Fake News. Wo die schiere Unwahrheit Gewicht in einer argumentativ abwägenden Auseinandersetzung beansprucht, kann keine realitätstaugliche Lösung entstehen.
 
Gerade feierte die Wissenschaftsgeschichte den 1050sten Geburtstag des muslimischen Universalgelehrten al-Biruni, der als Vordenker des Prinzips der Falsifikation gilt, also des Wissensgewinns durch Identifikation widerlegbarer Thesen. Erst viele Jahrhunderte später erkannte auch das Abendland die fundamentalen Chancen durch systematischen Umgang mit an der Realität gescheiterten Behauptungen.
 
Es bringt Ordnung in den Kopf, die Themen, über die man sich wunderbar streiten kann, zu trennen von denen, bei denen der Blick auf die Realität die Fragen löst, Streit also einfach unsinnig ist.
 
Aktuell ist diese Ordnung in den Köpfen überall dort ein knappes Gut, wo die richtigen Worte zu Israel, Hamas, Gaza und den Rechten von Palästinensern gesucht werden. Vielleicht besonders in Deutschland. Also versuchen wir es mit der Trennung von streittauglich und nicht.
 
Auch deshalb, weil jeder Versuch, legitime Kontroversen mit staatstragenden Selbstverständlichkeitsfloskeln zu übertünchen, nach hinten losgeht. Sobald Solidarität mit Israel zum reinen, nicht begründungsbedürftigen Axiom entseelt wird, löst es gern das Gegenteil der beabsichtigten Wirkung aus, weil es vielen als Einladung zum „warum eigentlich?“ gilt.
 
Für einen lebendigen Diskurs bleibt – auch beim Thema Palästina – Debattenspielraum wertvoll. Ansonsten würde man großen Teilen der Gesellschaft das übereinander statt miteinander Reden verordnen.
 
Streiten kann man hervorragend darüber, wie eine dauerhafte Friedensordnung aussehen könnte. Inkl. Siedlungspolitik, Autonomie, internationale Garantien, Ost-Jerusalem, vieles mehr. Ein wunderbar großer Raum von legitimer Kontroverse.
 
Und dann kommen schon jede Menge Fragen, die nach einmal Nachdenken keine sind:
 

  • Dass beide Seiten ihr Recht auf einen eigenen Staat haben. Wie es die UN schon bei der Gründung Israels vorgesehen hatte, bevor die arabischen Nachbarstaaten Israel am Tag seiner Unabhängigkeit angriffen.
  • Dass keine der beiden Seiten die physische Existenz der anderen bedrohen darf.
  • Dass keine Seite der anderen religiös oder sonstwie prinzipiell überlegen ist.
  • Dass Deutschland dem Staat Israel besonders verbunden ist, weil es durch seinen Millionenmord erheblich dazu beigetragen hat, dass Jüdinnen und Juden persönliche Sicherheit in einem eigenen Staat gesucht haben.
  • Dass Hamas eine Terrororganisation ist, die kein Interesse an Frieden hat.
  • Und dass mit dem Iran ein Regime in Palästina zündelt, dem Menschenrechte und Freiheit nichts gelten und das mit seiner Interpretation des Islam sowohl andere Muslime als auch anders Religiöse verdrängen will.

 
Heute wie 1648 ist Frieden nur möglich, wenn sich politische und militärische Mächte nicht als Diener einer Religion verstehen, um die gesamte Welt zu unterwerfen. Die Geschichte ist voll von Beispielen, wo auf der Grundlage dieser Erkenntnis ein friedliches Nebeneinander von Religionen und der ihnen verbundenen Ethnien gelungen ist. Gerade in muslimisch dominierten Kulturen. Umso eindeutiger ist es die Pflicht der zivilisierten Welt, sich jedem Versuch entgegenzustellen, irgendeine Vision vom Reich irgendeines Gottes mit Gewalt auf der Erde zu errichten.
 
Widerspruch verdient aber auch jeder Versuch, die Taten vom 7. Oktober als Ausdruck des palästinensischen Widerstands einzuordnen. Von Widerstand ließe sich sprechen, wenn in einem besetzten Territorium Besatzer verdrängt werden würden. Nichts dergleichen hat Hamas versucht, eben das kennzeichnet Terrorismus: Tausende von Menschen grausam zu massakrieren (einschließlich Moslems) und damit einen Krieg gegen einen militärisch überlegenen Staat zu entfesseln, stärkt in keiner Weise die Freiheit von Palästinensern, es tötet sie nur. Ob der 11. September oder der 7. Oktober - Terrorismus inszeniert Massenmord an Unbeteiligten, um Hass zu schüren und friedliches Miteinander unmöglich zu machen.
 
Die Hamas zwingt Millionen von Menschen in Gaza in einen Krieg, in dem sie zu nichts anderem ausersehen sind, denn als Opfer vor den Kameras der Welt. Ein Krieg mit dem Ziel, arabischen Herrschern den Weg zu einer friedlichen Annäherung an Israel zu verstellen. Hamas vernichtet Lebenschancen von Palästinensern. Sie betreibt das Gegenteil von Widerstand im Sinne der Palästinenser. Sie will blockieren, was der einzige Weg für ein gedeihendes Palästina wäre, nämlich eine geordnete Zweistaaten-Nachbarschaft.
 
Die fälschliche Gleichsetzung von Terror mit Widerstand führt bei uns viele in die beliebte Äquidistanz-Falle: Wir dürfen nicht nur auf einer Seite stehen, beide haben Fehler gemacht, deshalb müssen beide der Gegenseite entgegenkommen. Das Muster kennen wir aus der Russland-Ukraine-Debatte. Mit der Wagenknecht-Partei bekommt der Äquidistanz-Reflex nun eine wortreiche zusätzliche Stimme.
 
Diese Denkweise beruft sich gern auf das Rechtsprinzip „audiatur et altera pars“. Aber in Sachen Gaza wie anderswo führt das vermeintlich faire beiden-Seiten-Zuhören gern mal in die Irre, sobald nach dem Zuhören das Denken endet. Eine Terrororganisation, die sogar ihre „eigenen Leute“ zu Geiseln macht, ist weder Sprachrohr palästinensischer Interessen noch legitimer Verhandlungspartner für Akteure der zivilisierten Welt.
 
Attraktiv werden Äquidistanz-Positionen durch die Kombination des bequemen Verzichts auf Komplexität mit zurückgelehnter Selbstgerechtigkeit: Ich lasse mir doch nichts vormachen, die sind doch am Ende alle gleich.
 
Der Äquidistanz-Reflex erspart, genau hinzuschauen und bedacht zu bewerten. Er ist der politische Gegenpart zu dem, was wir aus der Kommunikationswelt seit Trump und Corona als False Balance kennengelernt haben, also den handwerklich-journalistischen Fehler, unbelegten oder bereits falsifizierten Behauptungen den gleichen Raum einzuräumen wie echten Informationen.
 
Eine offene, sinnvolle, lebendige und durchaus kontroverse deutsche Palästina-Debatte in der Politik, in Schulen, auf den Straßen und auch bei Demonstrationen würde den Ausgleich an der richtigen Stelle suchen: zwischen den Lebensinteressen von Menschen auf beiden Seiten des Gaza-Grenzzauns. Wie bereits lange vor dem Terroranschlag. Wer dabei aber eine Terrororganisation als sein Sprachrohr akzeptiert, nimmt sich als legitimer Diskutant selbst aus dem Spiel.
 
Al Biruni war beides: ein außerordentlicher Naturwissenschaftler, der in der systematischen Analyse der Realität dem Westen weit voraus war – und ein aufrechter Muslim. Jahrhunderte, bevor in Europa der Gedanke an eine Kugelgestalt der Erde um sich griff, hat er bereits ihren Radius ermittelt – und er fühlte sich zu Hause in seiner Religion. Religionen können friedlich koexistieren, wenn ihre Anhänger nicht über das Jenseitige, sondern über die sicht- und greifbare Realität diskutieren, über Beleg- und Widerlegbares.
 
Übrigens: Der Begriff „Staatsräson“ für Israels Existenz steht für ein gut begründetes deutsches Politikprinzip. Aber kommunikativ schafft er erst mal gefühlte Distanz zwischen den dieser Räson Verpflichteten und den Verpflichtenden. Wer Empathie für die realen Menschen in Israel vermitteln will, wer leidenschaftlich für eine menschliche Lösung streiten will, der könnte andere Begriffe wählen als jene Wortstanzen, die sich in Jahrzehnten eingeschliffen haben und deshalb einen anderen gefährlichen Reflex auslösen können: weghören.
 
 
 
 
 
 
 
 

Dienstag, 4. Juli 2023

Im Osten nichts Neues?

Dirk Oschmann und Konsequenzen für die Politik

Es schmerzt. „Der Osten - eine westdeutsche Erfindung“ ist eine durchgängig heftig formulierte und einseitig argumentierende Anklageschrift. Vielleicht ist das Buch deshalb so erfolgreich. Es will gar nicht objektiv sein, oder differenzieren. Und das sagt der Autor eingangs klar und deutlich. Er polarisiert transparent, mit offenem Visier, über alle Lebensbereiche hinweg.

Seine Leitthese: Überall und bis heute sind es westdeutsche Normen, die eine Allgemeingültigkeit im ganzen Deutschland für sich reklamieren. Unausgesprochen, mit großer Selbstverständlichkeit und ohne Pardon. In der Folge haben Menschen mit ostdeutschen Wurzeln stark unterdurchschnittliche Chancen auf eine Führungsrolle, in praktisch allen Bereichen. Und, trotz aller Zuspitzung, diese Leitthese kann er immer wieder überzeugend belegen.

Für einen Leser mit westdeutsch geprägten ersten Lebensjahrzehnten bleibt der Ansatz schwer verdaulich. Weil eine Anklageschrift auch einen Angeklagten braucht. Man fragt sich ständig, wer es denn war, der den gesamten Westen zu einem derart koordinierten geistig-kulturellen  Eroberungszug durch die neuen Länder geführt hat. Zumal unsereins die alte Bundesrepublik als alles andere als einen homogenen Block mit einem gemeinsamen Ziel und einem perfekt abgestimmten Vorgehen in Erinnerung hat. Vielmehr haben wir über alles Mögliche gründlich gestritten - nicht zuletzt auch über den besten Weg zur deutschen Einheit.

Auch hier hilft nur, sich auf die Autorenperspektive einzulassen: Oschmann beschreibt nichts mehr als die ostdeutsche Erfahrung. Er begibt sich in die Rolle des Anklägers und nicht des differenzierenden und abwägenden Richters, der spezifische Schuld gegenüber spezifischen Einzelpersonen zuweist. Er bilanziert nach über drei Jahrzehnten das Ergebnis: maximale Dominanz von Köpfen mit Westwurzeln in Wissenschaft, Medien, Wirtschaft, Politik und sogar im Sport. So macht er deutlich, dass es um weit mehr geht als das überwältigende Gefühl im Osten, kein Gewicht im Lande zu haben - es ist auch faktisch so, abzählbar etwa am östlichen Anteil an Leitungsfunktionen in Hochschulen, Unternehmen, Funkhäusern, Gerichten und Verwaltungen.

Deutschland leistet sich fünfeinhalb Bundesländer mit Menschen, die sich fremdbestimmt fühlen und es auch sind, wenn man ihre Perspektive zulässt, dass Leute aus dem Westen zunächst mal Fremde waren. Und es leistet sich zehneinhalb Bundesländer mit Menschen, für die deutsche Einheit nichts anderes bedeutet als ein uneingeschränktes „Weiter so“, nur mit vergrößertem Wirkungskreis.

Was Oschmann nicht tut: Diskutieren, was wir mit diesen Erkenntnissen politisch anstellen. Na dann!

Der Reflex aus Sicht eines Menschen mit Sozialkunde im Blut: Nutzt doch bitte die Partizipationschancen, die uns allen offen stehen. Schon die geringen Mitgliedszahlen in den östlichen Landesverbänden der demokratischen Parteien führen ja gleich zu zwei Problemen: zu weit unterproportionalem Gewicht in den Bundesparteien und zu einer dünnen ehrenamtlichen Basis in der Kommunal- und Landespolitik im engeren Umfeld. Auch die geringe gewerkschaftliche Basis im Osten bleibt nicht folgenlos: ohne Arbeitnehmermacht keine starke Basis für Tarifverträge, und deren Fehlen ist eine von mehreren Ursachen für die weiter bestehenden Gehaltsunterschiede.

Aber so wahr das alles ist - es ist eben auch eine Form von Wessi-Plaining. Es fügt sich in ein grundsätzlich kompetitives Gesellschaftsverständnis: Wer etwas will, muss dafür kämpfen. Gegen Arbeitgeber, gegen Bescheide von Behörden, Krankenkassen oder Rentenversicherern.

Der Rechtsstaat hat DDR-Willkür beendet. Aber mit dem Prinzip Rechtssicherheit hat er auch jeder und jedem den Job übergeholfen, seine Rechte einzufordern. Und damit in eine Konfrontationsposition gegenüber all jene Institutionen gebracht, deren Zweck doch eigentlich sein sollte, mir zur Seite zu stehen. Was für gelernte Wessis selbstverständlicher Alltag ist, verstärkt aus Ost-Perspektive den Eindruck, Fremder im eigenen Land zu sein.

Sind das Gründe für das DDR-System nach dem Muster: Wenn ich etwas brauche, frage ich meinen Betriebsleiter, und vielleicht bekomme ich es? Wohl kaum, denn das Prinzip war willkürlich. Aber es hilft zu verstehen, dass der eine Teil Deutschlands mit Institutionen fremdelt, die dem anderen als selbstverständlich und prinzipiell nützlich vorkommen. Und zuzuhören und zu verstehen ist für unsereins ja schon mal ein Anfang.

Oschmanns Buch hätte auch vor 10 oder 20 Jahren erscheinen können, es hätte genauso gepasst. Aber wie schön wäre es, wenn es in 10 oder 20 Jahren nicht mehr zur Stimmung im Osten passen würde. Nur auf eines dürfen wir uns nicht verlassen: dass die Zeit die Wunden schon von selbst heilen wird. Der Blick in andere Länder, etwa die USA oder Italien und aktuell Frankreich, lehrt eindrücklich, wie sich abgehängt und ungehört zu fühlen dauerhaft Gesellschaften spalten kann und politisch kaum beherrschbare Zustände schafft. Und der Blick in die nahe Zukunft erinnert an Wahlen im nächsten Jahr, in denen die Demoskopie echte Probleme für mehrheitsfähige demokratische Koalitionen im Osten befürchten lässt.

Wie können also die Institutionen, die das vereinte Deutschland regieren, verwalten und repräsentieren, auf Menschen im Osten zugehen? Welche Identifikationsangebote hätten Aussicht auf Erfolg, und welche Partizipationsformen?

Wer Menschen mit DDR-Vergangenheit fragt, was sie am meisten vermissen, bekommt immer die gleiche Antwort: den persönlichen Zusammenhalt. Mit fast erschreckender Durchgängigkeit. Offensichtlich fielen hier zwei DDR-typische Bedingungen zusammen: ein höheres Maß an materieller Egalität in den meisten Nachbarschaften und Familien mit einer Mangelwirtschaft, in der vieles nur mit gemeinschaftlicher Anstrengung und gegenseitiger Hilfe möglich war, von der Haus- und Autoreparatur bis zu Festen und anderen Gemeinschaftserlebnissen. Diese Hilfe war prinzipiell praktisch und gegenseitig, aber nie monetärer Natur.

Dieses Prinzip gegenseitiger Hilfs- und Tauschbereitschaft dominiert den positiven Teil der Erinnerungen an die DDR-Jahrzehnte. Und es wird nach 1990 einerseits sein Verschwinden beklagt - andererseits lebt es, zumindest in Dorfgemeinschaften und Nachbarschaften, bis heute fort und bestimmt als ungeschriebenes Gesetz das Miteinander. Es scheint dabei heute wie früher mehr zu sein als praktisch nützlich und emotional enorm wertvoll - es scheint weiterhin auch ein Element der Behauptung gegenüber dem System derer da oben mitzuschwingen: Wir machen unser Ding, redet uns nicht rein, wenn ihr schon nicht helft.

Demokratische Institutionen bräuchten also, was ihnen am meisten fehlt: eine Basis, die z.B. ihre lokale Parteiorganisation zunächst mal als ihr eigenes Ding begreift, als Teil des lokalen Lebens, der sich anschickt, das Gemeinwesen drumherum auf Grundlage der verbindenden politischen Werte mitzugestalten. Wer im Osten in die Basisorganisation einer demokratischen Partei hineinhört, stößt auf eine klare Abgrenzung gegenüber denen in Berlin. Und es sind nur wenige, die dennoch unter den jeweiligen Parteifarben etwa zu Kommunalwahlen antreten und den Spagat zwischen Abgrenzung von Berlin und Identifikation mit Werten und Überzeugungen meistern. Im Ergebnis werden lokale Wahlen häufig „entparteipolitisiert“, oft gewinnen Parteilose. Abgesehen von extremen Populisten und Verfassungs- und somit auch Einheitsgegnern.

Grundlagen für organisiertes Miteinander existieren sehr wohl. Feuerwehren und Sportvereine etwa, auch Naturschutzverbände und Kulturinitiativen. Alle wünschen sich mehr Mitglieder, insbesondere junge, aber alle zusammen bilden eine durchaus lebendige Zivilgesellschaft.  Demokratischen Parteien bleibt jedoch im Alltag eine Nebenrolle. Und damit genau jenen, die eine Brücke bilden sollten zwischen lokalen Bedürfnissen, Nöten und Lösungswegen und der Politik von Land und Bund.

Somit sind die Perspektiven der repräsentativen Demokratie schlecht. Wo das passive Wahlrecht nur von wenigen beansprucht wird, wird auch die aktive Wahlteilnahme für demokratische Parteien weiter erodieren.

Auf der Suche nach Lösungen sollte auch eine ganz andere Frage erlaubt sein: Ist eine ausgeflaggte Ostidentität vielleicht auch Teil der Lösung? Müssten die Ost-Organisationen der Parteien nicht viel lauter als bisher als Repräsentant von Regionalinteressen und emotional verbindenden Ost-Wurzeln auftreten? Nicht nur, weil es wohl eine unrealistische Ambition wäre, auf ein Aufgehen in einem gesamtdeutschen Verfassungspatriotismus zu hoffen. Sondern weil nur so eine Brücke zwischen dem wahrgenommenen Nicht-Gehört-Werden und den Möglichkeiten der parlamentarischen Repräsentanz entstehen könnte.

Das ist kein Plädoyer für eine Ostpartei. Sondern für Lautstärke. Im Deutschen Bundestag sind die Landesgruppen in den Fraktionen echte Machtfaktoren. Die CSU als Sonderform einer solchen Landesgruppe zeigt, wie man in diesem System regionalen Einfluss maximieren kann und kommunikativ enorme Präsenz erobert.

Die ostdeutschen Landesverbände der demokratischen Parteien werden sich den Respekt der Menschen nur verdienen, wenn sie gegenüber Berlin substanzielle Erfolge durchsetzen. Substanz bedeutet nicht ausschließlich Materielles, echte Präsenz und scharfes Profil in gesamtdeutschen Auseinandersetzungen würden enorm helfen, der repräsentativen Demokratie neue Achtung zu verschaffen.

Ja, auch das ist ein kompetitiver Ansatz. Aber in der Arena, wo der Wettbewerb um Werte, Einfluss und Lösungsansätze hingehört, in die Parlamente. Wettbewerb unter Abgeordneten mit gleich langen Stöcken, und nicht zwischen staatlichen Großinstitutionen und einzelnen Betroffenen.

Dirk Oschmann hat vor allem für eine Institution eine Menge Spott übrig: für den Ostbeauftragten der Bundesregierung. Nicht gegen die Person, die das Amt aktuell ausfüllt, sondern gegen das Prinzip: Die Repräsentanz eines großen Teils Deutschlands in der Regierung wird einer nachrangigen Funktion überlassen, die vom Bundeskanzler ausgewählt und, falls es denn mal einen Konflikt gäbe, von ihm kontrolliert werden könnte. Das wirkt tatsächlich wie ein Feigenblatt für den Osten und das Gegenteil demokratisch legitimierter Repräsentation. Die muss von den Abgeordneten, von den Landesregierungen und von den Landesverbänden der Parteien kommen.  

Statt eines Ostbeauftragten der Bundesregierung bräuchte es mehr laute, profilierte und geerdete Beauftragte des Ostens in Regierungen und Parlamenten. Nicht weil Ost und West prinzipiell unterschiedliche Ziele verfolgten. Sondern weil es Deutschland als Ganzes nicht aushalten kann, dass ein wesentlicher Teil seiner Menschen sich ungehört und gleicher Chancen beraubt fühlt und deshalb in die innere oder in eine härtere Form der Immigration geht.


Nachlesen lohnt: https://www.ullstein.de/werke/der-osten-eine-westdeutsche-erfindung/hardcover/9783550202346