Die Nord Stream-Debatte nach den Maßstäben von Verantwortungsethik
Der legendäre Ruf, den Helmut Schmidt bis heute genießt, steht exemplarisch für die Chancen, die ein Verantwortungsethiker an politischer Zustimmung mobilisieren kann. Nein, Gesinnungsethik liefert nicht automatisch die populärere Position.
Und doch folgen die Reflexe in der politisch-kommunikativen Realität immer wieder den Regeln der Gesinnungsethik. Die folgenden Zeilen wollen zeigen: Das war nie dümmer als heute in einer Welt voller regionaler Konflikte, populistischer Autokraten, asymmetrischer Kriege und entwerteter Vertragssysteme.
Was deutsche Medien zu Nawalny diskutieren, spielt sich – bis hinein in die Leitmedien – auf dem Niveau von Sandkastenstreitigkeiten ab: Wenn Putin auf unsere Ermahnungen nicht reagiert, muss er halt spüren, wie schmerzhaft der Verlust eines Schäufelchens ist. Voller Ernsthaftigkeit pflegen Journalisten und Politiker einen Wettbewerb, wie maximaler Schmerz im Kreml erzeugt werden könnte. Wer nicht hören will, …
Unruhe im globalen Sandkasten und deutsche Sanktionsreflexe
Also schauen wir uns mal unseren globalen Sandkasten an: In Russland regiert ein Gewaltherrscher mit einer eindimensionalen Vorstellung von Erfolg, nämlich der Restaurierung von nationaler Größe in dem Sinne, dass jedermann innerhalb und außerhalb der Staatsgrenzen diese Größe fürchten muss. Analog wagt der türkische Autokrat als Herrscher einer regionalen Mittelmacht gleich dreifach, im Mittelmeer, in Syrien und in Libyen, Kriege zu führen oder zu riskieren. Die chinesische Diktatur agiert ähnlich destabilisierend an mehreren Fronten, aber mit weit größeren Möglichkeiten: Sie ignoriert den international garantierten Status von Hongkong, droht Taiwan militärisch, annektiert internationale Seegebiete und baut an einer dominanten Position im Indischen Ozean und in Afrika.
Zugleich verabschieden sich die großen atlantischen Mächte UK und USA von ihrer mindestens 200 Jahre alten Überzeugung, dass Handelshemmnisse beiden Seite schaden, buddeln Wassergräben in ihre Sandkästen und erzählen ihren Wählern die Geschichte von den ehrverletzenden und jobvernichtenden Folgen internationaler Kooperation. Schließlich treten in unserem unmittelbaren Umfeld starke politische Kräfte etwa in Polen und Ungarn westliche Werte in den Dreck und verhöhnen die unabhängige Gerichtsbarkeit und freie Medien, belohnt von parlamentarischen Mehrheiten.
So, und in dieser Welt voller Diktaturen und Diktatoren wird in Russland ein Oppositioneller vergiftet. Während in Syrien und in der Ukraine tausende Menschenleben von Putin bedroht oder vernichtet werden, während sich China immer unverblümter als aggressive militärische und technologische Großmacht geriert und deutsche Unternehmenschefs zu Demutsgesten zwingt, falls sie tabuisierte Begriffe rund um Tibet, Taiwan oder Hongkong in den Mund zu nehmen gewagt haben, während der US-Präsident offen Putschpläne rund um die bevorstehende Wahl anmoderiert und Sassnitzer Kommunalpolitiker persönlich bedrohen lässt, wird eine Gewalttat in Russland zum Proofpoint für deutsche Außenpolitik herbeikommentiert.
Dabei zeichnen sich zwei Fronten ab: Die eine verbindet konservative CDUler mit grünen Partei- und Fraktionsspitzen und plädiert für persönliche Schmerzmaximierung bei Putin. Die andere Front verbindet Wirtschaftsvertreter und ostdeutsche Politiker in der Überzeugung, dass verletze Menschenrechte und blühende Wirtschaftsbeziehungen gerade am Beispiel Russland schon immer bestens nebeneinander her existiert haben und das doch prima so bleiben könnte.
Ethik, Ziele und Nord Stream
Fragen wir mal Max Weber: Was wäre eine verantwortungsethische Politik in Deutschland? Und weil Weber nicht leicht zu lesen ist, hilft Wikipedia:
„Der Begriff Verantwortungsethik bezeichnet ethische Systeme, die bei Entscheidungen zwischen Handlungsalternativen oder bei der normativen Beurteilung von Handlungen die tatsächlichen Ergebnisse und deren Verantwortbarkeit in den Vordergrund stellen.“
Was also ist denn das erwünschte Ergebnis deutscher Politik? Was ist das Ziel?
Unser Wunschergebnis scheint zu sein, dass in Russland Menschenrechte geachtet werden. Und da sie offensichtlich von Putins Machtapparat verletzt werden, braucht es ein anderes Machtzentrum in Russland. Und da wir Demokratie fördern wollen, soll dieses Machtzentrum aber bitte freiwillig abtreten, falls es beim nächsten Mal eine – selbstverständlich ungefälschte – Wahl verliert. Und eines noch, bitte ein neues Machtzentrum, das die Unabhängigkeit von Nachbarländern achtet.
Gute Ziele, menschliche Ziele, mit Sicherheit ethische Ziele. Ziele durchzusetzen, erfordert aber immer beides: Klarheit in der Zielsetzung und die Mittel, sie zu erreichen. Deutscher politischer Erfolg wäre ernsthaft daran geknüpft, einen Systemwechsel in einer 145-Milllionen-Menschen-Atommacht in der europäischen Nachbarschaft durchzusetzen.
Haben wir wirklich die nötigen Mittel? Da militärischer Druck weder beeindruckend wäre noch der eigenen Ethik entspräche, landen wir schnell bei wirtschaftlichen Sanktionen. Und weil die Medienwelt unter einer unglaublichen Anziehungskraft des Naheliegenden leidet, schauen nun alle auf Nord Stream II, das deutsch-russische Wirtschaftsprojekt, das aus völlig anderen Gründen sowieso im Scheinwerferlicht stand.
Warum gibt es Nord Stream – mit ein oder zwei Röhren? Weil es Deutschland und Europa einen zusätzlichen Zugang zu einem wichtigen Übergangs-Energieträger verschafft. Und Russland eine weitere Verbindung zu einem attraktiven Kunden. Mehr Handelswege sind sicherer als wenige, für beide Seiten. So sehen rationale Grundlagen zwischen Handelspartnern mit rationalen Motiven aus. Und rationale Gründe für die Flüssiggasexporteure in den USA, das Projekt im Sinne der eigenen Ziele zu torpedieren. Was wäre schlimmer als ein Abnehmer, der günstige Alternativen hat.
Mit dunklen Mächten kooperieren?
Da fragt die Gesinnung: Darf ich Geschäfte mit Menschenverächtern machen, mit Diktatoren und vermuteten Auftragsmördern? Die Antwort der Verantwortung ist: Wenn ein Boykott Morde verhindert, nicht. Oder im Sinne von Wikipedia: Wenn das Ergebnis von Nicht-Handel ein Nicht-Mord ist, dann nicht.
Deutsche Politik kann zwei Zieldimensionen folgen: Materiellen deutschen Interessen und Werten unseres Verfassungsstaats. Es ist unvermeidlich, dass zwischen zwei so unterschiedlichen Zielen Konflikte auftreten. Und es ist unvermeidlich, dass die Mittel zur Zielerreichung immer begrenzt sind. Die größte europäische Volkswirtschaft und die (vom Laien geschätzt) viertgrößte Militärmacht verfügt nicht über die Mittel, jeden Konflikt für Eigeninteressen oder für humanitäre Ziele in anderen Ländern zu entscheiden. Und dennoch tun wir so, als sei genau dies der Erfolgsmaßstab für deutsche Außen-, Sicherheits- und Handelspolitik.
Im 19. Jahrhundert bestand der Kern des Selbstverständnisses im britischen Imperium darin, den Rest der Welt zu zivilisieren und mit den Wohltaten des Freihandels im Sinne von David Ricardo zu beglücken. Im 20. Jahrhundert, nach den Zivilisationserschütterungen von zwei Weltkriegen, bestand der Kern des westlichen Selbstverständnisses darin, den Rest der Welt zu demokratisieren und mit den Wohltaten eines gebändigten Kapitalismus zu beglücken. Diese Tradition von „der Westen ist gut für alle“ kollidiert heute mit dem wirtschaftlichen, technologischen und militärischen Erfolg der größten Diktatur der Welt, mit ihren opportunistischen Apologeten in Afrika und Mittelosteuropa, mit isolationistischen Populisten in UK und den USA sowie mit kaltblütigen Gewaltherrschern wie jenen in Moskau und Ankara, die ihre schwierige Mittelmachtposition durch das skrupellose Ausnutzen aller „weichen“ Grenzen kompensieren.
Ethische wie realistische Ziele
Was ist unter solchen Umständen ein sinnvolles Politikergebnis für Deutschland und seine echten europäischen Verbündeten? Mal ehrlich – wie wäre ein bisschen Bescheidenheit? Ein gutes Ergebnis wäre doch wohl schon mal, Freiheit, Wohlstand und politische Gestaltungsmacht zu bewahren. Und im Zentrum Europas ein politisches Zentrum für westliche, also freiheitliche, humanitäre und emanzipatorische Werte zu erhalten. Ein Zentrum, das die Welt nicht dominieren wird, aber immerhin standhält und für alle außerhalb als eine Option unter anderen sichtbar bleibt.
Der materielle Wohlstand, der nebenbei unser Sozial- und Gesundheitssystem ernährt, lebt auch von Handel mit Unternehmen in Diktaturen wie Russland und China. Unser militärischer Schutz lebt auch von den Truppen von Johnson und Trump. Bei alledem lebt die Attraktivität von demokratischen
Alternativen in aller Welt davon, dass wir vormachen, wie sie funktionieren können, und Gemeinschaft in Vielfalt zu organisieren vermögen.
Nüchtern betrachtet, sind westliche Werte nicht wirklich auf dem Vormarsch in der Welt. Nüchtern betrachtet haben wir sehr begrenzte Mittel, die Weltverwestlichungsselbstverständlichkeit der frühen 90er ist gründlich geplatzt.
Es wäre großartig, wenn Nawalnys Leben in Berlin gerettet und seine Gesundheit wiederhergestellt werden könnte. Und wenn die öffentliche Weltmeinung vielleicht helfen konnte, dass Russland sein Ausfliegen zugelassen hat. Aber wir werden auch in Zukunft mit Gewaltherrschern und ihren Taten zu tun haben. Wir werden mit ihnen über globale Klimapolitik feilschen, über Regeln im Handel, in der Pandemiebekämpfung, im Weltraum, in der Genmanipulation oder IT-Sicherheit. Weil wichtige Politikergebnisse anders nicht erzielbar sind. Und wir werden bei Ihnen Rohstoffe kaufen und dort Autos, Chemie und Maschinen verkaufen.
Politische Leistung misst sich vor allem am Ergebnis. Menschenrechte und Demokratie lassen sich niemandem schlechter aufdrängen als Diktatoren. Diktatoren mit militärischer Macht reagieren auf Druck mit dem, was sie haben. Und Demokratie entsteht nicht dort, wo Bevölkerungen nach Sanktionen in Not geraten, sondern wo wachsender Wohlstand das Freiheitsbewusstsein nährt.
Substanz statt Tapete
Verantwortungsethik verlangt, jene persönlich und entschlossen zu sanktionieren, die Mord und Folter verantworten. Ihnen Zugang zum Westen und zu hiesigem Vermögen zu verwehren. Denn Rechtsstaaten dulden keine Mörder in Freiheit und keinen Zugang zu Vermögen aus Machtmissbrauch. In Moskau, Minsk, Riad, Peking oder Ankara haben wir keinen Durchgriff, hier sehr wohl.
Verantwortungsethik verlangt, durch koordiniertes Vorgehen unter europäischen Partnern die Stärke zu organisieren, die eine machtvolle Reaktion auf den Bruch internationaler Regeln erst ermöglicht. Handelssanktionen gegen Diktaturen und Autokraten sind aber dann lächerlich, wenn sie vor allem eigenen Zielen schaden und innenpolitisch nur als Gesinnungstapete dienen.
Ethisch und verantwortlich handelt in der Politik, wer standhaft ethische Ziele verfolgt und dabei seinen Einfluss realistisch bemisst. Denn das führt zu guten Ergebnissen.