Mittwoch, 1. April 2020

Das Primat der nationalen Gesundheit


Ein Virus, der eine lebensbedrohliche Lungenkrankheit auslösen kann, verbreitet sich in einer Weltbevölkerung, deren Immunsystem darauf null vorbereitet ist. Faktisch gleichzeitig und überall.
Als Science-Fiction-Katastrophen-Plot vermutlich schlicht zu krawallig, um eine Chance auf Verfilmung zu bekommen.
Die Pandemie ist ein globaler Schock, der in einigen Facetten über Weltkriege hinausgeht: Sie betrifft wirklich alle Länder, bedroht wirklich alle Menschen und sie ist nicht durch einen Akt von Rationalität wie Friedensschluss oder Kapitulation zu beenden.
Neben allen faktischen Bedrohungen und Schäden versetzt sie die Weltgesellschaft in einen Zustand, den Menschen ganz besonders schlecht ertragen: anhaltende Ungewissheit. Niemand kann auf ein Zieldatum hinarbeiten, an dem Normalität eintritt. Niemand kann abschätzen, wie viele Opfer die Krankheit fordern wird. Niemand kann die Stabilität von Gesundheits-, Sozial-, Wirtschafts- und Finanzsystem sowie der öffentlichen Ordnung in den Weltregionen ernsthaft prognostizieren.

Reflexe vs. Reflexion
Die Gesellschaften reagieren ähnlich wie einzelne Menschen in Not: Plötzlicher existenzieller Stress löst den Ausstoß von Adrenalin aus, um alle Energie in verbesserte Handlungsfähigkeit zu leiten. Handeln allerdings im Sinne von Weglaufen und Flüchten, Hinlaufen und Verjagen, Eingraben und Schutz suchen. Also immer Reflexe statt Reflexion.
In Schock und Unsicherheit suchen auch europäische Gesellschaften Orientierung im Vertrauten. Das zeigte sich sehr schnell an der nationalstaatlichen Fokussierung der ersten Reaktionen: Reisetätigkeit wurde entlang nationaler Grenzen blockiert (statt durch Einkreisen der lokalisierten Infektionsherde im Land). Auch die tägliche Infektions- und Todesfallbilanzierung erfolgt in einer nationalen Logik, die im 19. Jahrhundert nicht anders ausgesehen hätte. Wirtschaftliche und soziale Folgen werden an den Nationalstaat adressiert - und er verspricht Heilung, als würde er dauerhaft über materielle Mittel verfügen, die aus anderen Quellen stammten als der Wirtschafts- und Arbeitswelt, die er zu schützen verspricht. Nationale Gesundheitssysteme liefern sich einen globalen Wettstreit um Schutzkleidung, Beatmungsgeräte und Pharmaforschung.
Es wäre naiv gewesen, etwas anderes zu erwarten. Aber es zeigt, wie wenig die Weltgesellschaft in den Köpfen verankert ist und wie wenig handlungsfähig transnationale Institutionen im Vergleich zu nationalen sind, selbst innerhalb der EU. Wenn eine Krise eine globale Antwort bräuchte, dann diese. Selbst in den Katastrophenfilmen, die von der Abwehr einer Weltbedrohung aus dem All handeln, organisiert der weltrettende US-Präsident mehr planetare Kooperation als im gegenwärtigen Ernstfall irgendjemand von Gewicht.
Der synchron-globale Schock deckt auf unterschiedlichste Weise Widersprüche und Brüche auf, die die nächsten Wochen und Monate bestimmen werden.

Beispiel 1: Die deutsche Arbeitswelt
Nie wurden die Unterschiede in persönlicher wirtschaftlicher Sicherheit so deutlich wie jetzt:  Rentenbezieher, Staatsbedienstete und sogar Hartz IV-Empfänger erhalten ihr Geld unverändert und verlässlich. Abhängig Beschäftigte fallen teilweise in Kurzarbeit null, andere hingegen können im Mobile Office kaum eingeschränkt weiter rackern, noch andere, wie im Lebensmittel-Einzelhandel, repräsentieren auf einmal Mangelberufe. Betriebsbedingte Kündigungen werden folgen. Kleine wie große Unternehmer sehen ihre Existenz in unterschiedlichen Zeitperspektiven gefährdet. Und völlig schutzlos sind Freiberufler, sie bilden die erste Einsparoption für ihre bisherigen Auftraggeber und leiden oft additiv unter den Einschränkungen des Social Distancing und dem Konjunktureinbruch.
Was bisher ein eingespieltes Nebeneinander unterschiedlicher Erwerbsformen mit unterschiedlichen Vor- und Nachteilen war, ist nun zu einem abgründigen Gefälle an Existenzsicherheit und Chancengleichheit zwischen ihnen geworden.
Das birgt Sprengstoff, der durch Kurzarbeitergeld nur teilweise entschärft werden kann. Denn wie bei jeder staatlichen Hilfe gibt es auch hier nicht das objektiv gerechte Verteilungskriterium.
·       Wer Unternehmen nach Bedürftigkeit (rote Zahlen oder Existenzbedrohung) stützt, versenkt Milliarden in Branchen, die eigentlich eh nicht zukunftsfähig waren und nimmt viele solide geführte Unternehmen von Hilfe aus.
·       Wer alle gleich unterstützt (Stichwort Helikoptergeld), kann viele Existenzverluste dennoch nicht verhindern, alimentiert aber andere, die keiner Hilfe bedürfen.
·       Und wer nach dem Äquivalenzprinzip unterstützt, etwa durch gezielte Hilfe für systemrelevante Branchen und Unternehmen, deren Verlust der Allgemeinheit schwer schaden würde, setzt sich bei den vielen anderen Bedürftigen dem Vorwurf der Willkür aus. Wer einen Großteil der Erwerbsmöglichkeiten oder der Altersvorsorge verloren hat ohne eigenes Verschulden und ohne eigene Abwehrmöglichkeiten, wird die Rettung einer Bank oder eines großen Tourismusunternehmens kaum mit Beifall bedenken, wenn er selbst leer ausgeht.
All dies blendet noch die Generationengerechtigkeit aus: Die Politik beweist ihre akute Handlungsfähigkeit zulasten künftiger Möglichkeiten bei öffentlichen Investitionen, ökologischen und sozialen Initiativen sowie aller steuerlichen Entlastungsmöglichkeiten. Die sympathisch wie alternativlos wirkende dreistellige Milliardenhilfe wird nicht ohne Folgeschäden bleiben.

Beispiel 2: Ungleiche Gesundheitssysteme
Die Medien beschreiben in fast allen Weltgegenden die gleichen Geschichten: Knappe Tests, knappe Schutzkleidung und Intensivbetten, drastische Mobilitätsbeschränkungen und wachsende Infektions- und Todeszahlen. Was erst in einiger Zeit deutlich werden wird, sind die enormen quantitativen Unterschiede der Probleme. Heute grübeln manche Ökonomen über die Schockwellen, die ein weiter exponentieller Verlauf in den Vereinigten Staaten für den Rest der Welt auslösen kann. Morgen werden wir sehen, dass ein exponentieller Verlauf etwa in Afrika und in einigen BRICS-Staaten die EU auch dann noch massiv fordern wird, wenn hier das Immunitätsniveau steigt und die Überlast in den Krankenhäusern abklingt; Fordern in humanitärer wie wirtschaftlicher Hinsicht.
Eine globale Gesundheitskrise wird auf einschneidende Art deutlich machen, was Angela Merkel schon mit Blick auf europäische Integration und koordinierte Migrationspolitik in Erinnerung gebracht hat: Wenn es einem Nachbarn existenziell schlecht geht, kann man nicht wegsehen und weitermachen wie bisher. Die Gegenwartswelt hält an nationalen Grenzen nur in Maßen ein Wohlstandsgefälle aus – das wird bei einem existenziellen Gesundheitsgefälle nicht anders sein.
Die Folgen des Virus werden also in einer deutschen wie in einer globalen Perspektive auf längere Sicht wirksam bleiben. Dabei wird uns die Krise zwingen, axiomatische Wertefragen zu diskutieren.

Ökonomische Prinzipien im Gesundheitssystem?
Richtig ist: Eine Gesellschaft braucht einen Wertekonsens für ihren Zusammenhalt. Damit das funktioniert, sind vereinfachende Zuspitzungen vermutlich nötig. So ist es in unserer Welt eine Selbstverständlichkeit, Gesundheit für das höchste Gut zu halten. Niemand wird öffentlich verkünden, dass es für die Rettung eines Menschenlebens eine finanzielle Obergrenze gibt. Dabei zeigt schon ein schneller Blick in die Welt, wie selbstverständlich in der Praxis solche Grenzen sind, auch wenn sie unausgesprochen bleiben.
Auch das deutsche Gesundheitssystem ist nach ökonomischen Maßstäben geordnet. Wir versuchen es so zu optimieren, dass es mit hohen, aber nicht unbegrenzten Ressourcen ein Maximum an – möglichst gesund verbrachter – Lebenszeit herausholt. Natürlich würden noch größere Ressourcen noch mehr bringen, und immer wieder wird an dieser Grenze gestritten– aber sie existiert. Auch jenseits der Gesundheitspolitik wägen wir andere Werte gegen Menschenleben ab: Wir tolerieren gefährliche Sportarten, Verkehrsmittel, Nahrungs- und Genussmittel. Damit gewichten wir manche Freiheiten als so wertvoll, dass sie verlorene Lebensjahre rechtfertigen.

Globale Empathie?
Noch offensichtlicher wird das, wenn wir auch hier über Grenzen hinausdenken: Kaum jemand käme auf die Idee, den Erhalt von Menschenleben auf einem anderen Kontinent mit deutschen Ressourcen so stark zu schützen, wie wir das im eigenen Gesundheitssystem tun. Ein Sterbender in einem fernen Land bewegt uns deutlich weniger als einer in der eigenen Nachbarschaft. Unsere Zahlungsbereitschaft orientiert sich an unserem Empathiehorizont, und der entsteht aus dem Zusammenspiel von familiärer, empfundener und regionaler Nähe sowie nationalem Zugehörigkeitsgefühl.
Ja, kommunikativ ist akut nicht zu kritisieren, dass die Politik wirklich alles dafür tut, durch kollektive, verhaltensändernde Appelle das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben einzubremsen, durch Finanzhilfen Existenzängste zu kontern und dabei in dem Horizont denkt, in dem auch die Öffentlichkeit Sicherheit und Orientierung sucht: im nationalen Rahmen. Die Rahmengeschichte ist: In Deutschland haben wir eine sehr ernste Situation. Aber wir haben bessere Möglichkeiten, sie zu bewältigen, als viele andere, also lasst uns deutsche Tugenden ausspielen, dann wird das schon.

Kein deutsches Genesungs-Cocooning
Aber es liegen politische Weichenstellungen vor uns, die allein in diesem nationalen Sicherheitsnarrativ nicht zu bewältigen sind. Die Expansion des Virus wird anderswo größere Opfer fordern als hier, in einem der leistungsfähigsten Gesundheitssysteme der Welt. Das wird uns aber nicht erlauben, inselartig unser Wirtschaftswunder 2.0 zu organisieren und fleißig wie sozialpartnerschaftlich einen nationalen Restart zu organisieren. Vielmehr werden wir erheblichen Anforderungen aus anderen Teilen der Welt ausgesetzt sein, die humanitär wie wirtschaftlich nicht ausgeblendet werden können. Keine große europäische Volkswirtschaft ist enger mit der Welt verflochten. In einer Weltgesundheits- und -wirtschaftskrise kann es kein deutsches Genesungs-Cocooning geben.
Letztlich unhaltbar wird es aber auch sein, immer wieder das bedingungslose Primat der Gesundheit vor der Wirtschaft zu besingen. Weder gibt es ein solches Prinzip im gesellschaftlichen Normalmodus, noch wäre es jetzt durchhaltbar. Auch wenn das Absenken der Bewegungsbeschränkungen und das schrittweise Wiedereinführen von Gewerbefreiheit Einfluss auf Infektionswahrscheinlichkeiten nehmen kann, darf nicht jede Erleichterung tabuisiert werden.
Die in historischem Rahmen jedes Vorbild sprengenden Soforthilfen sind allein dadurch legitimiert, dass sie den dauerhaften strukturellen Schaden an Wohlstand, sozialer Sicherheit und auch an der Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems selbst begrenzen - und die Ausgangsbasis für einen Restart schützen. Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit bildet eine notwendige Voraussetzung für den Erhalt der Stärken unseres Gemeinwesens.

Fazit: Lasst uns reden
Es wird und es muss eine Abwägung erfolgen zwischen virologischen und ökonomischen Prioritäten. Und zwischen nationalen und globalen Zielen. Nicht die Abwägung selbst wäre neu. Wohl aber das offene Sprechen darüber.