Ein Virus, der eine lebensbedrohliche Lungenkrankheit auslösen
kann, verbreitet sich in einer Weltbevölkerung, deren Immunsystem darauf null
vorbereitet ist. Faktisch gleichzeitig und überall.
Als Science-Fiction-Katastrophen-Plot vermutlich schlicht zu
krawallig, um eine Chance auf Verfilmung zu bekommen.
Die Pandemie ist ein globaler Schock, der in einigen
Facetten über Weltkriege hinausgeht: Sie betrifft wirklich alle Länder, bedroht
wirklich alle Menschen und sie ist nicht durch einen Akt von Rationalität wie
Friedensschluss oder Kapitulation zu beenden.
Neben allen faktischen Bedrohungen und Schäden versetzt sie
die Weltgesellschaft in einen Zustand, den Menschen ganz besonders schlecht
ertragen: anhaltende Ungewissheit. Niemand kann auf ein Zieldatum hinarbeiten,
an dem Normalität eintritt. Niemand kann abschätzen, wie viele Opfer die
Krankheit fordern wird. Niemand kann die Stabilität von Gesundheits-, Sozial-,
Wirtschafts- und Finanzsystem sowie der öffentlichen Ordnung in den Weltregionen
ernsthaft prognostizieren.
Reflexe vs. Reflexion
Die Gesellschaften reagieren ähnlich wie einzelne Menschen
in Not: Plötzlicher existenzieller Stress löst den Ausstoß von Adrenalin aus,
um alle Energie in verbesserte Handlungsfähigkeit zu leiten. Handeln allerdings
im Sinne von Weglaufen und Flüchten, Hinlaufen und Verjagen, Eingraben und
Schutz suchen. Also immer Reflexe statt Reflexion.
In Schock und Unsicherheit suchen auch europäische
Gesellschaften Orientierung im Vertrauten. Das zeigte sich sehr schnell an der
nationalstaatlichen Fokussierung der ersten Reaktionen: Reisetätigkeit wurde
entlang nationaler Grenzen blockiert (statt durch Einkreisen der lokalisierten
Infektionsherde im Land). Auch die tägliche Infektions- und
Todesfallbilanzierung erfolgt in einer nationalen Logik, die im 19. Jahrhundert
nicht anders ausgesehen hätte. Wirtschaftliche und soziale Folgen werden an den
Nationalstaat adressiert - und er verspricht Heilung, als würde er dauerhaft über
materielle Mittel verfügen, die aus anderen Quellen stammten als der
Wirtschafts- und Arbeitswelt, die er zu schützen verspricht. Nationale
Gesundheitssysteme liefern sich einen globalen Wettstreit um Schutzkleidung,
Beatmungsgeräte und Pharmaforschung.
Es wäre naiv gewesen, etwas anderes zu erwarten. Aber es zeigt,
wie wenig die Weltgesellschaft in den Köpfen verankert ist und wie wenig
handlungsfähig transnationale Institutionen im Vergleich zu nationalen sind,
selbst innerhalb der EU. Wenn eine Krise eine globale Antwort bräuchte, dann
diese. Selbst in den Katastrophenfilmen, die von der Abwehr einer Weltbedrohung
aus dem All handeln, organisiert der weltrettende US-Präsident mehr planetare
Kooperation als im gegenwärtigen Ernstfall irgendjemand von Gewicht.
Der synchron-globale Schock deckt auf unterschiedlichste
Weise Widersprüche und Brüche auf, die die nächsten Wochen und Monate bestimmen
werden.
Beispiel 1: Die deutsche Arbeitswelt
Nie wurden die Unterschiede in persönlicher wirtschaftlicher
Sicherheit so deutlich wie jetzt: Rentenbezieher,
Staatsbedienstete und sogar Hartz IV-Empfänger erhalten ihr Geld unverändert
und verlässlich. Abhängig Beschäftigte fallen teilweise in Kurzarbeit null,
andere hingegen können im Mobile Office kaum eingeschränkt weiter rackern, noch
andere, wie im Lebensmittel-Einzelhandel, repräsentieren auf einmal
Mangelberufe. Betriebsbedingte Kündigungen werden folgen. Kleine wie große
Unternehmer sehen ihre Existenz in unterschiedlichen Zeitperspektiven
gefährdet. Und völlig schutzlos sind Freiberufler, sie bilden die erste
Einsparoption für ihre bisherigen Auftraggeber und leiden oft additiv unter den
Einschränkungen des Social Distancing und dem Konjunktureinbruch.
Was bisher ein eingespieltes Nebeneinander unterschiedlicher
Erwerbsformen mit unterschiedlichen Vor- und Nachteilen war, ist nun zu einem
abgründigen Gefälle an Existenzsicherheit und Chancengleichheit zwischen ihnen geworden.
Das birgt Sprengstoff, der durch Kurzarbeitergeld nur
teilweise entschärft werden kann. Denn wie bei jeder staatlichen Hilfe gibt es
auch hier nicht das objektiv gerechte
Verteilungskriterium.
·
Wer Unternehmen nach Bedürftigkeit (rote Zahlen
oder Existenzbedrohung) stützt, versenkt Milliarden in Branchen, die eigentlich
eh nicht zukunftsfähig waren und nimmt viele solide geführte Unternehmen von
Hilfe aus.
·
Wer alle gleich unterstützt (Stichwort
Helikoptergeld), kann viele Existenzverluste dennoch nicht verhindern,
alimentiert aber andere, die keiner Hilfe bedürfen.
·
Und wer nach dem Äquivalenzprinzip unterstützt,
etwa durch gezielte Hilfe für systemrelevante Branchen und Unternehmen, deren
Verlust der Allgemeinheit schwer schaden würde, setzt sich bei den vielen
anderen Bedürftigen dem Vorwurf der Willkür aus. Wer einen Großteil der
Erwerbsmöglichkeiten oder der Altersvorsorge verloren hat ohne eigenes
Verschulden und ohne eigene Abwehrmöglichkeiten, wird die Rettung einer Bank
oder eines großen Tourismusunternehmens kaum mit Beifall bedenken, wenn er selbst
leer ausgeht.
All dies blendet noch die Generationengerechtigkeit aus: Die
Politik beweist ihre akute Handlungsfähigkeit zulasten künftiger Möglichkeiten
bei öffentlichen Investitionen, ökologischen und sozialen Initiativen sowie
aller steuerlichen Entlastungsmöglichkeiten. Die sympathisch wie alternativlos
wirkende dreistellige Milliardenhilfe wird nicht ohne Folgeschäden bleiben.
Beispiel 2: Ungleiche Gesundheitssysteme
Die Medien beschreiben in fast allen Weltgegenden die
gleichen Geschichten: Knappe Tests, knappe Schutzkleidung und Intensivbetten,
drastische Mobilitätsbeschränkungen und wachsende Infektions- und Todeszahlen.
Was erst in einiger Zeit deutlich werden wird, sind die enormen quantitativen Unterschiede
der Probleme. Heute grübeln manche Ökonomen über die Schockwellen, die ein
weiter exponentieller Verlauf in den Vereinigten Staaten für den Rest der Welt
auslösen kann. Morgen werden wir sehen, dass ein exponentieller Verlauf etwa in
Afrika und in einigen BRICS-Staaten die EU auch dann noch massiv fordern wird,
wenn hier das Immunitätsniveau steigt und die Überlast in den Krankenhäusern
abklingt; Fordern in humanitärer wie wirtschaftlicher Hinsicht.
Eine globale Gesundheitskrise wird auf einschneidende Art
deutlich machen, was Angela Merkel schon mit Blick auf europäische Integration
und koordinierte Migrationspolitik in Erinnerung gebracht hat: Wenn es einem
Nachbarn existenziell schlecht geht, kann man nicht wegsehen und weitermachen
wie bisher. Die Gegenwartswelt hält an nationalen Grenzen nur in Maßen ein
Wohlstandsgefälle aus – das wird bei einem existenziellen Gesundheitsgefälle
nicht anders sein.
Die Folgen des Virus werden also in einer deutschen wie in einer
globalen Perspektive auf längere Sicht wirksam bleiben. Dabei wird uns die
Krise zwingen, axiomatische Wertefragen zu diskutieren.
Ökonomische Prinzipien im Gesundheitssystem?
Richtig ist: Eine Gesellschaft braucht einen Wertekonsens
für ihren Zusammenhalt. Damit das funktioniert, sind vereinfachende
Zuspitzungen vermutlich nötig. So ist es in unserer Welt eine
Selbstverständlichkeit, Gesundheit für das höchste Gut zu halten. Niemand wird
öffentlich verkünden, dass es für die Rettung eines Menschenlebens eine
finanzielle Obergrenze gibt. Dabei zeigt schon ein schneller Blick in die Welt,
wie selbstverständlich in der Praxis solche Grenzen sind, auch wenn sie
unausgesprochen bleiben.
Auch das deutsche Gesundheitssystem ist nach ökonomischen
Maßstäben geordnet. Wir versuchen es so zu optimieren, dass es mit hohen, aber
nicht unbegrenzten Ressourcen ein Maximum an – möglichst gesund verbrachter –
Lebenszeit herausholt. Natürlich würden noch größere Ressourcen noch mehr
bringen, und immer wieder wird an dieser Grenze gestritten– aber sie existiert.
Auch jenseits der Gesundheitspolitik wägen wir andere Werte gegen Menschenleben
ab: Wir tolerieren gefährliche Sportarten, Verkehrsmittel, Nahrungs- und
Genussmittel. Damit gewichten wir manche Freiheiten als so wertvoll, dass sie
verlorene Lebensjahre rechtfertigen.
Globale Empathie?
Noch offensichtlicher wird das, wenn wir auch hier über
Grenzen hinausdenken: Kaum jemand käme auf die Idee, den Erhalt von
Menschenleben auf einem anderen Kontinent mit deutschen Ressourcen so stark zu
schützen, wie wir das im eigenen Gesundheitssystem tun. Ein Sterbender in einem
fernen Land bewegt uns deutlich weniger als einer in der eigenen Nachbarschaft.
Unsere Zahlungsbereitschaft orientiert sich an unserem Empathiehorizont, und
der entsteht aus dem Zusammenspiel von familiärer, empfundener und regionaler
Nähe sowie nationalem Zugehörigkeitsgefühl.
Ja, kommunikativ ist akut nicht zu kritisieren, dass die
Politik wirklich alles dafür tut, durch kollektive, verhaltensändernde Appelle das
gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben einzubremsen, durch Finanzhilfen
Existenzängste zu kontern und dabei in dem Horizont denkt, in dem auch die
Öffentlichkeit Sicherheit und Orientierung sucht: im nationalen Rahmen. Die
Rahmengeschichte ist: In Deutschland haben wir eine sehr ernste Situation. Aber
wir haben bessere Möglichkeiten, sie zu bewältigen, als viele andere, also
lasst uns deutsche Tugenden ausspielen, dann wird das schon.
Kein deutsches Genesungs-Cocooning
Aber es liegen politische Weichenstellungen vor uns, die
allein in diesem nationalen Sicherheitsnarrativ nicht zu bewältigen sind. Die
Expansion des Virus wird anderswo größere Opfer fordern als hier, in einem der
leistungsfähigsten Gesundheitssysteme der Welt. Das wird uns aber nicht
erlauben, inselartig unser Wirtschaftswunder 2.0 zu organisieren und fleißig wie
sozialpartnerschaftlich einen nationalen Restart zu organisieren. Vielmehr
werden wir erheblichen Anforderungen aus anderen Teilen der Welt ausgesetzt
sein, die humanitär wie wirtschaftlich nicht ausgeblendet werden können. Keine große
europäische Volkswirtschaft ist enger mit der Welt verflochten. In einer
Weltgesundheits- und -wirtschaftskrise kann es kein deutsches
Genesungs-Cocooning geben.
Letztlich unhaltbar wird es aber auch sein, immer wieder das
bedingungslose Primat der Gesundheit vor der Wirtschaft zu besingen. Weder gibt
es ein solches Prinzip im gesellschaftlichen Normalmodus, noch wäre es jetzt
durchhaltbar. Auch wenn das Absenken der Bewegungsbeschränkungen und das
schrittweise Wiedereinführen von Gewerbefreiheit Einfluss auf
Infektionswahrscheinlichkeiten nehmen kann, darf nicht jede Erleichterung
tabuisiert werden.
Die in historischem Rahmen jedes Vorbild sprengenden
Soforthilfen sind allein dadurch legitimiert, dass sie den dauerhaften strukturellen
Schaden an Wohlstand, sozialer Sicherheit und auch an der Leistungsfähigkeit
des Gesundheitssystems selbst begrenzen - und die Ausgangsbasis für einen
Restart schützen. Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit bildet eine notwendige
Voraussetzung für den Erhalt der Stärken unseres Gemeinwesens.
Fazit: Lasst uns reden
Es wird und es muss eine Abwägung erfolgen zwischen
virologischen und ökonomischen Prioritäten. Und zwischen nationalen und
globalen Zielen. Nicht die Abwägung selbst wäre neu. Wohl aber das offene Sprechen
darüber.